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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

fest an einer Stelle, wo er zwischen den grünen Palmen den Schnee draußen sich bis an die Fenster drängen sah.

„Mein Kind!“ schrie die unglückliche Frau verzweifelt auf.

„Wir mögen nicht mehr allein sein,“ sagte der Knabe lauter, „ich habe dem lieben Gott auch erzählt, wie vergnügt wir früher waren.“

„Mein Kind,“ sprach Gerda, sich ganz nah an ihn schmiegend, „Du möchtest – möchtest Alfred wiedersehen?“

„Ach ja,“ rief er, indem er glücklich lächelte, „das wäre so schön, so schön!“

Gerda sprang auf. Auch ihre Wangen glühten. Sie ging in ihr Zimmer, sie schrieb einige Zeilen, sie rief die Dienstboten und fragte, wer sie lieb genug habe, noch heute, am Festabend, den beschwerlichen Weg zu Thal zu machen. Alle waren bereit.

Und dann kehrte sie zu ihrem Kinde zurück. Auf der Schwelle stockte ihr Fuß. War das, was sie geschrieben, nicht eine Lüge gewesen?

„Mein sterbender Knabe will seinen Freund noch einmal sehen.       Gerda.“

War er wirklich sterbend?

Licht und warm war’s in dem hellen Raum, den Tannenduft durchwebte. Still lag das Kind und schaute mit glänzenden Augen auf den strahlenden Tannenbaum. Auf den Wangen hatte es Röthe, seine Händchen waren friedlich gefaltet. War er wirklich sterbend?

Gerda knieete vor ihm nieder. Sie neigte ihr Haupt auf seine Brust und horchte.

Ja, das war der eilige, schwache Schlag des Herzens, das dem Ende entgegenschlägt, das die Blumen des Todes, die rosig auf seinen Wangen blühten, das war der unirdische Blick eines schon halb verklärten Geistes.

Und die Mutter senkte ihr Angesicht vor dem unerbittlichen Geschick, das der Unerforschliche ihr auferlegt.

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Das kleine Briefblatt wanderte durch die Nacht in die Welt hinaus. Schneestürme versperrten ihm den Weg. Und als es weiterging, fand es den, für welchen es bestimmt war, nicht in der großen Stadt. Es zog ihm nach, aber der Winter häufte die Hindernisse; Züge blieben im Schnee stecken, Landposten verirrten sich im Sturmtreiben. Aber endlich nach langen Tagen kam das arme kleine Blatt in die Hände des Mannes, den es suchte. Und dem kurzen, entsetzensvollen Inhalt antwortete ein Schreckensschrei.

Wie Alfred es möglich gemacht, von dem einsamen Gehöft am Strande des Meeres, wo er geweilt hatte, um es sich vielleicht zu erwerben, auf unwirthlichen, oft versperrten Wegen bis an die große Landstraße und den südwärts führenden Schienenstrang zu kommen, war ihm selbst kaum bewußt. Als er im schwer weiter keuchenden Zuge durch die todtenweiße Welt fuhr, war ihm nur eine dumpfe Erinnerung geblieben an schneidende Stürme, die sein Gesicht zerpeitscht, an Stunden voll rasender Ungeduld, die er in einer vom Verkehr abgesperrten Poststelle verbracht hatte. Und wie der Zug kroch, anstatt zu jagen! Wie unerträglich das war, stillsitzen zu müssen und die langen Stunden zu zählen! „Ich komme,“ hatte er durch den ersten Telegraphen, dessen er habhaft werden konnte, hingerufen. Wie hätte er diesem Rufe, der sich durch schwirrende, summende Drähte schleunig fortsetzte, doch ebenso schnell folgen mögen!

Ueberall gab es Aufenthalt, Anschlüsse wurden versäumt. Der Tag ging zu Ende und durch die schauerliche Nacht keuchte der Zug, den Schneepflug voran. Alfred wachte mit brennenden Augen. Wenn die Fahrt langsamer wurde, zitterte er, daß sie ganz stocken könnte. Er horchte auf das dumpfe Schüttern der Radumdrehungen, aus dem gleichmäßigen Takt derselben drängte sich seinem Ohr die Erinnerung an eine Melodie auf und diese summte in seinem Gehirn neben all seinen Gedanken immerfort. Dann wieder zerriß der hohle bange Schrei der Lokomotive die Nacht. Das blanke Fenster spiegelte friedlich den hellen kleinen Raum wieder, in welchem der blasse Mann in verzehrender Unruhe saß.

Zahllose Male sah er nach der Uhr. Eins – zwei – drei – mein Gott, welch eine lange Nacht! Und dann auf einmal gab es einen Ruck und der Zug stand. Eine Station? Nein, draußen gähnte die Nacht und jagendes Schneegestöber verbarg dem Blick selbst die Uebersicht über das nächste Gelände.

Alfred versuchte, seine Thür zu öffnen. Schwer gelang es ihm, denn der Zug hatte sich in Schneewälle hineingebohrt und die weißen Mauern drängten gegen die Wagenwände. Aus allen Thüren und Fenstern beugten sich im Lichtscheine, der von drinnen hervorbrach, die Silhouetten von Menschenköpfen. Stimmen wurden laut und suchten den Sturm zu übertönen. Beamte kletterten an den Trittbrettern entlang. Aus dem Ruf und Gegenruf hörte Alfred, daß man sich in der Nähe von Frankfurt befinde und daß die Schneeverwehungen so hoch und ausgedehnt seien, daß Stunden hingehen möchten, ehe die Bahn frei werde.

Zu den offenen Coupéthüren drängte sich mit den Sturmstößen feiner Schneestaub herein. Die Kälte des Grabes schauerte den überwachten Mann an.

Er hatte das Gefühl, lieber durch diese Schreckensnacht vorwärts wandern, als hier festgebannt bleiben zu wollen. Die Bewegung allein schon schien ihn seinem Ziele näher zu bringen. Er fragte, ob ein entschlossenes Vorwärtsdringen für einen Fußgänger Erfolg haben könnte. Andere, vielleicht von ähnlicher Unrast erfaßt wie er, zeigten denselben Entschluß. Einer von den Zugbeamten sollte ohnedies die nächste kleine Station zu erreichen suchen, um Hilfe herbeizuholen.

So begann denn ein Häuflein von Männern die beschwerlichste Wanderung. Man umging die Schneeverwehungen, man hielt sich eng aneinander, um die Gefahr des Verlierens zu vermeiden. Der Wind warf sich ihnen entgegen wie ein körperlicher Widerstand. Die Stimmen wurden heiser, der Athem keuchend. Die Schneenadeln stachen in die Augen, weiß bereiften Bärte und Pelzhaare. Verlöschend bald und bald aufflackernd schwankte die Laterne ihnen voran, welche der der Gegend kundige Schaffner trug.

Ein Gehöft am Wege, eine Baumgruppe, die den selbstgesuchten Pfad sperrte, eine ansteigende Wellenlinie des Bodens gaben den suchenden Männern die Richtung. Und endlich blinkte es vor ihnen wie Licht auf, verschwand wieder und stand als fester Punkt.

Sie waren an einer kleinen Station angekommen, bei welcher die Eilzüge unaufhaltsam vorüberrasen. Hier gab es keine Hilfe, aber doch die Gelegenheit, aus der nahen großen Stadt solche herbeizurufen.

In dem engen, heißen, übelriechenden Raum der Bahnwärterstube drängten sich die erschöpften Männer. Aus ihren Haaren und Kleidern dampfte es feucht. Alfred, der in dem mehr als stundenlangen Kampf gegen Schneetreiben und Nacht seinen Körper nicht gefühlt hatte, empfand in diesen vier Wänden ein Elend ohnegleichen.

Die endliche Ankunft einer Lokomotive und eines Wagens von Frankfurt war ihm wie eine Erlösung. Sein Gepäck, der verschneite Zug – alles war ihm gleich. Er fuhr, der erste, der sich die Gunst erbat, mit der Arbeitslokomotive weiter und rechnete fieberhaft aus, daß er noch den Frühzug nach Baden erreichen könne.

Aber die qualvollen Stunden sollten sich ihm noch verlängern. In Frankfurt, wo der nächtige Wintermorgen ein ungewohntes Leben auf dem Bahnhof zeigte, erfuhr er, daß auch auf der Main-Neckarbahn Verkehrsstockungen stattgefunden hätten und daß der erste Zug vor Mittag kaum abgelassen werden dürfte.

Er ging in das nächste Hotel, klopfte die noch schlafende Dienerschaft heraus und fand ein Lager, auf das er sich halb entkleidet warf.

Seine Gedanken waren betäubt, sein Körper zitterte vor Ermüdung nach den bestandenen Anstrengungen. Und die Kälte, in welcher er stundenlang sich bewegt hatte, wirkte narkotisch. Er schlief ein, fest, tief, traumlos.

Der Ruf des Knechtes, dem er hierfür eine Stunde bestimmt hatte, erweckte ihn.

Er öffnete die Augen und schloß sie geblendet wieder, die Tageshelle war schier unerträglich. Draußen flimmerte die Sonne in tausend Diamantreflexen wieder vom blüthenweißen Schnee.

Heute sollte er sie sehen! Sie und das Kind! Alfred hatte ein brennendes Gefühl in seiner Brust, das ihn verzehrte und den Ton seiner Stimme unklar machte.

Und doch noch Stunden des Wartens! Diese, er fühlte es, würden noch unerträglicher sein als alle die vergangenen im Kampf mit den Unbilden der Natur.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 486. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_486.jpg&oldid=- (Version vom 16.8.2021)