Seite:Die Gartenlaube (1889) 488.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)


Die Augen öffneten sich weit und bang. Und da sah sein letzter Blick die beiden geliebten Gesichter in unaussprechlicher Angst über sich, und seine kleine, liebevolle, tapfere Seele wollte die Anstrengung machen, durch ein Lächeln die beiden zu beruhigen. So stritt die Erstickungsangst mit dem Liebeslächeln auf dem Angesicht des kleinen Dulders einen sekundenkurzen Kampf – der Schein von Leben und Bewußtsein erlosch, die Lider senkten sich. Ein hohler Athem ging von den Lippen, die keine Luft wieder einsogen. Der kleine Körper wurde schwer, schwer. Er entsank den Armen die ihn hielten, und lag gestreckt in den Kissen.

Eine fürchterliche Stummheit war auf seinem Munde.

Und auf der jungen Kinderstirn thronte die Majestät des Todes.




Vielleicht anderthalb Jahre später war es, als eines Tages Jettchen Schneider in höchster Aufregung zu ihrer Freundin kam.

„Jetzt weiß ich alles und endlich sieht man klar,“ sagte sie in der freudigen Stimmung jemandes, der sehr wichtige Dinge im Wissensbesitz hat und darauf brennt, sie mitzutheilen.

„Was denn?“ fragte Frau Marie, ihre Neugierde hinter würdevoller Ruhe verbergend, denn seit ihr Gatte einen höheren Titel bekommen hatte, fühlte sie sich in jeder Weise Jettchen Schneider überlegen.

„Nun, die Geschichte mit der Offingen und Haumond – da Du immer ein Tendre für ihn gehabt hast – ach was, ich hab’s ja doch gemerkt – so interessiert Dich doch wohl alles.“

„Aber die sind ja seit anderthalb Jahren verheirathet,“ sagte Marie möglichst gleichgültig, während ihr Herz klopfte.

„Freilich. Aber wir konnten uns doch auf die ganze Geschichte keinen Vers machen und fanden es unglaublich unpassend, daß sie heiratheten, als der arme Junge so zu sagen eben erst im Grabe lag,“ eiferte Frau Doktor Schneider.

„Freilich, das war auch unpassend,“ gab Frau Mietze zu.

„Denke Dir also,“ begann die noch immer „junge“ Frau, indem sie sich setzte und ihre Hutbänder löste, um freier sprechen zu können, „als ich vorhin von Potsdam kam, wen treffe ich in der Bahn? Das Tantchen. Das alte Fräulein kannte mich gleich wieder, wir wohnten doch früher in einem Hause und sahen uns manchmal im Garten. Na, und die schien auch froh zu sein, daß sie sich mal aussprechen konnte. Weißt Du, weshalb damals die Verlobung auseinander ging? Das Tantchen sagt: Sie konnten sich nicht ineinander fügen; das heißt doch auf deutsch: die Baronin war zu streitsüchtig. Nun ist mir auch erklärlich, warum sie zweimal die Jungfer in einem halben Jahr wechselte, ich konnte damals nicht recht dahinter kommen. – Aber sie hat ihn sich dann doch durch einen wahren Theatercoup wieder zu erobern gewußt. Als ihr Knabe starb, hat sie Haumond kommen lassen, na und da wird er sich wohl haben hinreißen lassen, denn ein mitleidiger Mensch war er doch. Das Kind soll ihnen sterbend den Schwur abgenommen haben, sich zu vertragen.

Das alte Fräulein ist im Frühling von San Remo zurückgekommen, aber sie ist in dem Hause und bei den beiden Menschen ganz krank geworden. Freilich, gestritten haben sie sich nie mehr. Aber es sei gräßlich gewesen, wenn sie verschiedener Meinung waren, angesehen hätten sie sich dann, als wollten sie sich morden – stumm und blaß und ordentlich gezittert haben sie. Und dann haben sie sich in die Arbeit gestürzt, als seien sie Tagelöhner. Er auf dem Gut, das sie sich da zusammengekauft haben, sie im Hause. Kurz und gut – ganz verrückt! Das ist der alten Dame auf die Nerven gefallen und sie ist zum Winter wieder fortgereist. Da, vor drei Monaten schreibt ihr Haumond. ‚Wir haben einen Sohn.‘ Nicht einmal, wie es Gerda geht und ob sie sich gefreut haben – nichts! Natürlich hält es das Fräulein, obschon sie selbst sehr elend ist, für ihre Pflicht, gleich hinzureisen, um Gerda zu pflegen. Da ist sie aber schön angekommen – sie meint, weder Gerda noch Alfred hätten ihre Anwesenheit recht bemerkt, wenigstens gekümmert habe man sich nicht um sie, trotz des bei ihrer Kränklichkeit so großen Opfers. Und das sei ein Gethue gewesen! Als habe der liebe Gott ein Wunder geschehen lassen! Eine Liebe und ein Glück! Eine Dankbarkeit und Rührung! Und das dumme kleine Kind haben sie jeden Tag neu angestauntl Und von Meinungsverschiedenheiten hat man nichts mehr gemerkt – kurz und gut: verrückt! Denn das muß ich sagen, Schneider und ich haben uns auch gefreut, als unser Junge geboren wurde, besonders Schneider, aber so albern haben wir uns nicht benommen und mit mir gebrummt hat mein Mann trotzdem wohl mal. – Und von der ganzen Welt wollen sie nichts mehr wissen, sie wollen nur für sich und ihr Kind leben. – Aber nun ist mir die Zunge ganz trocken geworden, Mietze, hast Du ein Glas Bier für mich?“

„Schade,“ sagte Frau Marie, während sie mit einem Theelöffelstiel ein Stückchen Kork herausfischte, das auf dem Bierschaum im Glase saß, „schade! Mit einer vernünftigen Frau hätte aus Alfred ein ganz geselliger, netter Mensch werden können. Die Offingen paßte nicht für ihn, die ist auch übers-pannt.“

Und Marie Ravenswann soll in diesem Roman das letzte Wort behalten, weil sie es auch im Leben immer hat und immer behalten wird, denn sie ist von denen, die im Geleise gehen.




Gesundheitspflege und Eisenbahnverkehr.

Während von allen Seiten der erbittertste Kampf gegen die ansteckenden Krankheiten geführt wird, ist es wunderbar, daß das Verkehrsmittel, welches die allseitige Verbreitung dieser Erkrankungen bis in die entlegensten Gegenden besonders bewirkt, nicht das mindeste zur Einschränkung derselben beiträgt. Nicht dadurch aber allein sind die Eisenbahnen gefährlich, daß sie Personen, welche ansteckende Krankheiten in sich haben, weiter befördern, sondern auch durch die Art und Weise, wie dieses geschieht, durch das Zusammenstecken Gesunder und Kranker und damit durch die Weiterverbreitung von Krankheiten auf der Bahn selbst.

Eine Familie mit Kindern, welche an Keuchhusten litten und denen vom Arzte Luftveränderung verordnet war, bat den Schaffner, sie wegen der ansteckenden Krankheit allein fahren zu lassen. Wegen Platzmangel geschah dieses nicht, andere Kinder vom Lande kamen mit herein, sie mußten während der längeren Fahrt angesteckt werden und übertrugen den Keim in ihre Heimath. Ein anderes Kind erkrankte in der Sommerfrische an Diphtherie, der Kehlkopsschnitt konnte daselbst nicht ausgeführt werden, die Mutter fuhr vier Stunden auf der Eisenbahn mit dem halbtodten Kinde in einem Coupé mit anderen Personen zusammen.

Beweisen nicht diese beiden aus dem Leben gegriffenen Beispiele allein schon genügend, wie dringend eine baldige Abhilfe hier erforderlich ist? Ein Ausschließen solcher Kranken von der Eisenbahn ist unmöglich, deshalb muß von den Direktionen daran gedacht werden, Mittel und Wege zu schaffen, um ein Abschließen solcher Kranken zu bewirken. Es ist dieses eine Forderung, welche der gesunde Reisende gesetzlich zu verlangen berechtigt ist, und die Thatsache, daß in dieser Hinsicht noch nichts geschehen ist, bildet den besten Beweis für die Theilnahmlosigkeit, mit welcher die allgemeine Gesundheitspflege immer noch betrachtet wird. Da der Augenblick der Ansteckung immer längere Zeit vor dem Ausbruch zu liegen pflegt, so läßt sich der Ort derselben selten noch feststellen und an die Möglichkeit einer „Eisenbahnansteckung“ wird nicht gedacht. Trotzdem ist dieselbe viel häufiger vorhanden, als man glaubt. Für keuchhustenkranke Kinder ist Luftveränderung Heilung, sie werden deshalb durchschnittlich durch die Bahn nach andern Orten gebracht, ebenso auch Kinder, die Scharlach und Diphtherie überstanden haben und denen durch das zu frühe Verlassen der Krankenstube der Keim der Ansteckung noch innewohnt. Oefters erkranken auch Kinder an Badeorten und Sommerfrischen, die Eltern suchen dann so schnell als möglich mit den kranken Kindern die Heimath zu erreichen. Die Eisenbahn bildet das Verbindungsglied und das Coupé die denkbar beste Uebertragungsstätte durch das enge Beisammensein und die ungünstigen Luftverhältnisse, ja in der zweiten und ersten Klasse kann die Polsterung die Ansteckungsstoffe noch länger zurückbehalten, als dies bei den hölzernen Sitzen der dritten Klasse der Fall ist, und schon aus diesem Grunde ist es rathsam, beim Schlafen in den ersten beiden Wagenklassen ein Tuch unterzulegen.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 488. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_488.jpg&oldid=- (Version vom 30.3.2020)