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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

anerkannt werden, daß es Mitglieder jener Schule waren, denen wir die erste wichtige Sammlung von älteren deutschen Liedern verdanken, die das Interesse für die Volkspoesie wieder weckten. Es ist Arnims und Brentanos Hauptverdienst, an „Des Knaben Wunderhorn“ viele verklungene Lieder dem Volke wiedergeschenkt zu haben, Lieder der freiesten kecksten Lebenslust wie der tiefsten Schwermuth, Lieder vom „Scheiden und Meiden“, vom „Lieben und Leiden.“

Im Zusammenhange mit den Romantikern stand die „Gesellschaft der schwäbischen Dichter“, welche das Gesunde an der Romantik auszubilden, sie mit der Gegenwart zu versöhnen und von ihren Einseitigkeiten zu befreien strebten. Ludwig Uhland, Gustav Schwab, Justinus Kerner und Wilhelm Hauff sind in natürlichem Gefühl, mit gesundem Menschenverstand und Mutterwitz dem Charakter des echten Volksliedes am nächsten gekommen.

Dieser heiße Herzschlag der Romantik hat nun auch in den Tondichtern jener Zeit einen Wiederhall gefunden; er erweckte in diesen eine natürliche Wärme, einen dichterischen Schwung, wie sie vorher bei nahezu gänzlichem Mangel an guten poetischen Stoffen zur Liedkomposition nicht möglich gewesen waren. Abgesehen von den großen Meistern, welche in erhabenen Tonschöpfungen den Geist echter Romantik ergossen, verehren wir neben Ludwig Erk in Friedrich Silcher denjenigen Tonkünstler, der jenen Nationalschatz, das deutsche Volkslied, sowie die Schöpfungen der erwähnten romantischen Sänger dem Volke durch die Macht der Töne zum bleibenden Eigenthum vermittelt hat.

Welcher andere Musiker wäre auch zu dieser Großthat geeigneter gewesen? Ein echter Sohn des Volkes, getragen von schwäbischer Gemüthlichkeit, war er so recht dazu angethan, die Tiefe, Innigkeit und Wahrhaftigkeit der Volkspoesie zu fühlen und zu erkennen. Nur einem solchen Berufenen war es möglich, jene Schmucklosigkeit und Schämigkeit, jene Naturwüchsigkeit und Frische, welche dem Volksliede eigen sind, in den ursprüglichen Tonweisen mit entsprechenden Harmonien wiederzugeben. Auch von diesen gilt, was ein neuerer Dichter, F. G. Weber, an der Volkspoesie rühmt:

„Dein Schmuck ist Einfalt, dich umzieht
Von Salbendüften keine Wolke;
Du wandelst leicht geschürzt, man sieht,
Du bist ein Mädchen aus dem Volke.
Und singst du auch im Königssaal
Von Weisen angestaunt und Thoren,
Doch schweift dein Blick hinab ins Thal
Der Hütte zu, die dich geboren.“

Vor allen Liedern ist es das Liebeslied, dessen Tiefe, Herzenskraft und Frische, Naivetät und Wahrhaftigkeit Silcher sowohl in der Bearbeitung gegebener Melodien, als in den von ihm erfundenen so schön zum Ausdrucke gebracht hat. Wie der Körper mit der Seele, so innig verschmolzen ist seine Harmonie mit der Melodie; diese beschreibt und deklamiert nicht mit Pathos, und ebensowenig hat es jene auf Emphase abgesehen. „Natur und Liebe, Herz und Natur, Traum und Natur“ – diese in eins gebildeten Triebe, diese stets wechselnden Pole der Seele wurzelten tief in dem echt deutschen Gemüthe unseres Sängers der Liebe. Nur auf ein Beispiel seiner eigenen Komposition, auf das seelenvolle Lied „Im Mai“ sei hier hingewiesen. „Natur und Liebe, Herz und Natur“ bilden die Hauptmotive seiner musikalischen Illustration. Wessen Herz geht nicht auf, wenn er mit der ganzen Innigkeit der Seele singt:

„Draus’ ist alles so prächtig,
Und es ist mir so wohl!“

Welche zarte Empfindung liegt in dem weiteren Motive:

„Mei ganz Herz thut me freue,
Und es blüht mer au drin!“

Mit welch ungesuchter schöner Steigerung giebt er endlich der Sehnsucht:

„Im Mai, im schöne Maie
Han i viel no im Sinn –“

den gewünschten entsprechenden Ausdruck!

„Für jedes Glück, für jeden Schmerz
Weiß er den rechten Ton zu finden.“

Den Herzpunkt aller Empfindungen wie Phantasien bilden Liebe und Treue. Simon Dachs „Aennchen von Tharau“ diene hier als Beispiel. Wie beim Dichter „die Leidenschaft immer das Herrschende bleibt, nie durch ein Beiwort, weder durch Witz, noch durch Phantasiearabesken beeinträchtigt oder gar verwischt wird“, ebensowenig läßt sich unser Tonsetzer zu Stilüberwucherungen hinreißen. Welche Wirkung erzielt er dennoch bei aller Einfachheit in der Melodie und Harmonie des Kehrreims:

„Aennchen von Tharau, mein Reichthum, mein Gut,
Du meine Seele, mein Fleisch und mein Blut!“

Nicht weniger zutreffend ist die harmonische Behandlung der Volksmelodien zu den Liedern: „Steh ich in finstrer Mitternacht“, „Soviel Stern’ am Himmel stehen“, „Was hab’ ich denn meinem Feinsliebchen gethan?“ u. a. – An diesen wie an vielen andern Volksliedern läßt sich unzweifelhaft der ursprügliche Einfluß der Weisen erkennen, welche den eigenthümlichen Gefühlen, Empfindungen und Anschauungen der Volkslyrik in der Anlage des Ganzen bis zu einzelnen Wendungen und Worten herab eine eigene Grenze ziehen. „Das Volkslied ist nämlich fast immer nur Gelegenheitsgedicht; d. h. es bezieht sich auf einen bestimmten Vorfall, auf ein Erlebniß des lebendig davon berührten Dichters selbst wie dessen Umgebung; es setzt daher gleich vieles als bekannt voraus, schweigt darüber oder deutet dasselbe nur kurz an.“ Die Bestimmung und Wirkung der Melodie besteht eben nur darin, das im Worte nur Angedeutete ganz der Gefühlswelt zu erschließen, ohne es doch breit auszumalen.

Die tiefe Schwermuth, welche als Grundstimmung in den Abschiedsliedern liegt, hat Silcher besonders gut getroffen. Es sei hier nur an das „Lebewohl“ aus „Des Knaben Wunderhorn“:

„Morgen muß ich fort von hier
Und muß Abschied nehmen“

erinnert, dessen Melodie und Satz bei aller Einfachheit durch die glückliche Erfindung reizender wehmuthsvoller Motive uns so sehr ansprechen. „Solche Weisen pressen auch aus dem welken Herzen noch einen Blutstropfen aus.“

Daß Silcher auch ein richtiges Verständniß für das alte deutsche Volkslied hatte, bewies er durch die vortreffliche vierstimmige Bearbeitung des „Abschiedsliedes“ aus dem 14. Jahrhundert:

„Ich fahr dahin, wenn es muß sein,
Ich scheid mich von der Liebsten mein …“

Einen Gegensatz zum Abschiedsliede bildet in Hinsicht auf Inhalt, melodische und rhythmische Form das Tanzlied. Bei unsern Minnesängern sind solche Lieder in großer Anzahl unter der Bezeichnung „ein tanzwis“ anzutreffen. Der ursprüngliche Charakter derselben wird als „heiter, scherzhaft, vorwiegend erotisch“ bezeichnet; oft waren es kleine Liebesgeschichten, welche darin besungen wurden. Gerade zu dieser Gattung zählt die Perle unter Silchers musikalischen Erfindungen, die Melodie zu Heines „Lorelei“. „Diese Ballade ist von so wunderbarer Schönheit, Ursprünglichkeit, solch unnachahmlicher Einfachheit, Wahrheit und volksmäßiger Färbung, daß wir nicht anstehen, sie für eines der schönsten aller Volkslieder zu erklären, die es überhaupt giebt: wer sie komponieren konnte, der war sicherlich ein Liebling der Musen,“ schreibt W. Amman, Silchers Landsmann, in der „Euterpe“ (Jahrgang 1860, S. 152). Kaum ist noch ein Dörfchen in Deutschland zu finden, wo nicht die „Lorelei“ gesungen wird, und dies ist wohl der beste Beweis für die Echtheit der volksthümlichen Stimmung, von der das Lied getragen wird.

Wie gut es Silcher verstand, dieser Gattung der Volkslyrik die freieste, keckste Lebenslust durch seine Bearbeitung einzuhauchen, das läßt uns außer andern Nummern seiner reichen Sammlung das „Oberschwäbische Tanzliedchen“:

„Rosestock, Holderblüth,
Wenn i mei Dienderl sieh,
Lacht mer vor lauter Freud’
S’ Herzerl im Leib“ –

gut gesungen, in reizender Weise fühlen. Auch das „Wanderlied“:

„Ein Sträußchen am Hute, den Stab in der Hand,
Muß ziehen der Wandrer von Lande zu Land,“

und ebenso der mit gesundem Humor spielende „Liebesscherz“:

„Wo a kleins Hüttle steht,
Ist a kleins Gütle …“

tragen so recht die Grundstimmung dieser Art von Liebesliedern.

Endlich sei auch der volksthümlichen Vaterlands- und Soldatenlieder gedacht, denen Silcher durch seine ebenso einfache wie kräftige Harmonisierung den Eingang in Schulen und Gesangvereinen erschlossen hat.

Als treuer Sohn des Vaterlandes nahm Silcher lebhaft Theil an den Leiden und Freuden der Nation. Er kannte und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 498. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_498.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)