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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Arzt war zu jener Zeit in diesem einsamsten Theil des Engadins eine unbekannte, fast sagenhafte Persönlichkeit. Man hätte weit laufen müssen, bis nach Chiavenna, nach Chur oder in eines der fernen Klöster des Unterengadins, um jemand zu finden, der etwas mehr gewesen wäre als ein Quacksalber oder ein ganz gewöhnlicher Bader – jetzt, wo noch große Schneemassen die Pässe bedeckten, wäre ein solcher Gang schwer genug gewesen, zur Winterszeit war er überhaupt unmöglich. Deshalb gab es in jedem der Orte eine heilkundige Persönlichkeit, welche durch lange Erfahrung ersetzte, was ihr an Wissenschaft abging. In Surley war es Mutter Barbla, die Frau des Cavigs, die sich in hervorragender Weise auf Heilung äußerer Schäden, auf das Verbinden und Pflegen von Wunden verstand. Auch wußte sie Kräuter für innere Leiden zu finden, die als besonders heilkräftig weit und breit berühmt waren. Unter ihrer Pflege hatte also der Bergamasker das beste zu erwarten, sie war es aber nicht allein, die sich um ihn mühte, denn auf die erste Kunde von dem Unglücksfalle war der alte weißbärtige Fra Battista herbeigeeilt, der Mönch des Crestalta, der auf seinem kleinen Maulthier überall dort erschien, wo es galt, die wenigen, zerstreut in weiter Runde lebenden katholischen Bewohner des Engadins in schweren, letzten Nöthen zu trösten. Seinem armen italienischen Landsmann wollte er vor allem beistehen, aber er fand ihn schon in der allerbesten und wirksamsten Pflege, denn Aninia wich Tag und Nacht nicht von dem Lager des Verwundeten. Die Degenspitze war glücklicherweise von der oberen Rippe abgeglitten und hatte dadurch nur die Fleischtheile der Brust verletzt; nachdem der starke Blutverlust, welcher eine augenblickliche große Schwäche verursucht hatte, einmal gehemmt war, drohte keine unmittelbare Gefahr mehr. Eine leichte Entzündung und ein damit verbundenes Wundfieber war schon am ersten Tage eingetreten, doch alle Anzeichen sprachen für eine rasche Heilung des kräftigen und sonst durchaus gesunden Menschen. Mit großen, andachtsvollen Augen, als ob er eine Madonna erblickte, hatte der einfache Sohn der wilden Bergamasker Berge anfänglich zu dem schönen bleichen Mädchen aufgeschaut, das, unbekümmert um die Mahnungen der Mutter, um den finster umhergehenden Vater, hilfeleistend bei ihm weilte, als ob es seine Schwester gewesen wäre. Nun er im leichten Fieber lag, unruhig und ohne Schlummer, redeten seine Lippen zu ihr, und jetzt war es wirklich die Madonna, der die einzelnen abgerissenen Worte, die irren, sehnsüchtig suchenden Blicke galten. Und Aninia saß mit ihren Gedanken, die sie weit in ihre Kinderzeit zurückführten, neben seinem Lager, einsam und allein mit dem Verwundeten bis spät in die Nacht hinein, kühlte mit nassen Tüchern seine heiße Stirn, flößte ihm mit liebevollen Worten den heilkräftigen Trank ein, den die Mutter gebraut hatte.

Dann saß sie wieder lange, in stummes Anschauen verloren, während Beppos brauner Lockenkopf sich unruhig auf den Kissen hin und her bewegte, und sie wußte nicht, warum ihr gerade der Anblick seines blassen Gesichtes so zu Herzen ging. Er dauerte sie, weil er sein junges Leben um ein Haar breit verloren hätte, sie war ihm dankbar, daß er es um ihretwillen aufs Spiel gesetzt hatte, aber das war es alles nicht, was ihr das Herz so voll neuer süßer Gewalt pochen machte. So wie sie damals der Freundin scherzend gesagt hatte, so war ihr nun geschehen, auf einmal war’s gekommen, und sie wußte es nun: der arme Hirt mit den treuen Augen und dem leidenschaftlichen Herzen war ihr lieber als alle andern, sie hätte ihn in dem kleinen getäfelten Stübchen für immer behalten und nichts mehr von denen draußen hören mögen. Sie wußte jetzt auch aus seinen verworrenen Reden, daß er der Beppo ihrer Kinderjahre war, an den sie noch lange und oft gedacht, der braune Junge, der das kleine goldhaarige Mädchen damals wie ein höheres Wesen angebetet und auf Händen getragen hatte. Ob er auch noch der schönen Zeiten und ihrer glücklichen Kinderspiele auf den Alpenweiden dachte? Und warum, wenn dies der Fall, war er so lange nicht mehr nach Surley gekommen, da doch die Heerden seines Grafen nach wie vor dort weideten? Oder hatte er sie ganz vergessen?

Aninia fühlte sich völlig verwirrt von den vielen Zweifeln und Fragen, die plötzlich in ihrem bis dahin so gleichmüthigen Innern auftauchten. So oft sie in Gedanken so weit gekommen war, that sie einen leisen Seufzer und beugte sich über den im Fieber murmelnden Beppo, glättete ihm mit sanfter Hand die wirren Haare und küßte leise, leise die glühende Stirn. Dann zog ein Schimmer von Lächeln über sein Gesicht, er wurde ruhiger und flüsterte einzelne abgerissene Worte mit glücklichem Ausdrucke vor sich hin. Aninia hielt seine Hand und betete still für Beppos Genesung zu dem, dessen Augen wie sie glaubte, allein ihre Neigung und die stille Glückseligkeit sahen, die jetzt ihr Herz erfüllte.

Aber hierin irrte sie doch und hatte keine Ahnung, daß noch zwei andere Augen scharf nach ihr ausschauten, daß jede ihrer Bewegungen, jedes ihrer geflüsterten Worte von einer dritten Person gesehen und gehört wurden. Hinter der Kammerthür, welche in eine dunkle Geräthstube führte und ein kleines Fensterchen hatte, stand Mutter Barbla. Unhörbar schlich sie heran und gleich leise wieder in ihre Schlafkammer zurück. Aber es war kein Ausdruck von Zorn in den Augen, womit sie die unschuldige Zärtlichkeit ihres schönen Kindes beobachtete. Es schien sogar, als empfinde sie eine rachsüchtige Freude darüber, doch hütete sie sich wohl, ihr heimliches Wissen auch nur mit einer Silbe ihrer Tochter gegenüber zu verrathen. Ernsthaft und wortkarg wie immer verrichtete sie ihr Tagewerk, sah nach Beppos Verband und that, als ob sie weiter nichts bemerkte. Frau Barbla mußte etwas ganz Besonderes planen, und das konnte nur gegen den Vater, nimmer gegen die beiden jungen Leute gerichtet sein.

Der Cavig ging mit schweren Schritten im Hause umher, die Brauen hatte er finster zusammengezogen und die Lippen fest aufeinander gepreßt. Es gährte noch gewaltig in ihm von dem schlimmen Festtage her, er fühlte sich in seiner Hausherrnwürde beleidigt und herabgesetzt und empfand ein brennendes Bedürfniß, seinem rebellischen Weibervolk den Meister zu zeigen. Deshalb kümmerte er sich vor der Hand weder um den Verwundeten, noch um Frau und Tochter, die denselben pflegten, er strafte sie alle zusammen mit finsterem Schweigen; ebenso wenig schien er den alten Mönch des Crestaltahügels zu bemerken, der des Beppos wegen in seinem Hause ein- und ausging. Dafür weilten seine Gedanken um so mehr bei dem Franzosen-Peider, mit dem er sich ja überhaupt als Richter zu beschäftigen hatte.

Nicht nach geschriebenem Recht, sondern nur nach altem Brauch hatte der Ammann nach einem begangenen Verbrechen oder einem schweren Vergehen, bei dem Blut geflossen war, die Geschworenen der Dörfer, welche die Pfarrgemeinde bildeten, zum Gericht zu versammeln. Da diese Gemeinde aus fünf größeren und kleineren Dörfern bestand, von denen jedes einen Geschworenen zu stellen hatte, die nach Bedeutung der Ortschaften der Reihe nach ihren Wahrspruch fällten, so waren diese fünf geschworenen Leute für den nächsten Sonntag zum Gericht nach Surley, das öffentlich unter freiem Himmel vor der Kirche abgehalten werden mußte, von dem Ammann berufen worden. Als er nach einigen Tagen mit seinen Gedanken und heimlichen Plänen im reinen war, ließ er den Angeklagten kommen, um ihn, wie er vorgab, zu verhören, nicht in seinem Hause, sondern draußen an dem Ort der That, wohin er denn auch den recht zerknirschten Franzosen-Peider führte. Nicht mit der Strenge des Richters, sondern mit einer scheinbar theilnehmenden, väterlichen Freundlichkeit forschte er ihn aus über das, was eigentlich vorgegangen sei und das brutale Einschreiten des Bergamaskers veranlaßt habe. Der Pariser, durch diese unerwartet freundliche Behandlung des als hart und streng verschrieenen Mannes ermuthigt, hielt nicht hinterm Berge und erzählte, natürlich sein Thun beschönigend, – was der Ammann wohl schon wußte oder doch ganz bestimmt ahnte – daß er die Gold-Aninia, die ihm gar so schön erschienen sei, nur ein paarmal geküßt habe.

Bedenklich schüttelte der Ammann in gut gespielter Entrüstung den Kopf, dann sagte er ernst, doch immer noch nicht unfreundlich: „Schlimm, sehr schlimm! Schon dieser Ueberfall eines unbescholtenen Mädchens, das unfähig war, sich zu vertheidigen, ist nach unserem Recht ein schweres Vergehen, das nur mit einer harten Strafe gesühnt werden kann. Dazu noch der Degenstich, das in vollem Festesfrieden vergossene Blut – das kann Euch den Hals kosten. Die geschworenen Männer können Euch nur – zum Strang verurtheilen.“ Jetzt erst fiel sein tiefernster Blick auf den Peider, der wie Espenlaub zitterte und sich bereits am Galgen baumeln sah, und wieder den theilnehmenden, väterlichen Freund spielend, fuhr der Ammann fort, sein Opfer nunmehr nicht aus den Augen verlierend: „Ja, wenn Ihr nicht in einer augenblicklichen Aufwallung gehandelt hättet – wenn Ihr die Aninia wirklich liebtet, ein Recht auf sie besäßet, dann – dann läge die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 518. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_518.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)