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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Noch einmal ergriff der unruhige Mann den Wanderstab. Wie bekannt, war der seit dem 1. Januar 1834 bestehende „Deutsche Zoll- und Handelsverein“ im wesentlichen unter preußischer Führung zustande gekommen, und List, der sich immer den Zollverein auf der Grundlage des deutschen Bundes, d. h. also mit Einschluß Oesterreichs gedacht und sich auch schwer mit dem selbständigen Vorgehen Preußens ausgesöhnt hatte, war in seinem Zollvereinsblatte unermüdlich für die Annäherung zwischen Oesterreich und dem preußisch-deutschen Zollvereine thätig. Zu diesem Zwecke wollte er – es war dies bei der ungemein praktischen Natur Lists selbstverständlich – Land und Leute im deutschen Osten, besonders aber in Ungarn genau kennen lernen. Sein „Nationales System“ hatte seinen Namen auch zu den führenden Männern Ungarns, den Apponyi, Mailath, Zichy, Kossuth etc., getragen und seine Aufnahme daselbst war eine außerordentlich schmeichelhafte; lange blieb er dort, so daß man in der Heimath bereits von einer festen Anstellung Lists im österreichischen Staatsdienste – mit entgegengesetzten Empfindungen bei Freund und Feind – zu reden anfing. Und als er zurückkehrte, da erhielt er auch in Deutschland vielfache und aufrichtige Beweise der Theilnahme und Anerkennung aus allen Theilen des Vaterlandes.

Aber alle diese Anerkennungen konnten ihn über die Unsicherheit seiner ganzen Lage nicht hinwegtäuschen. Noch kurz vor seiner österreichischen Reise hatte er gehofft, in Bayern eine dauernde Stellung zu finden – vergeblich! Sein einziger Sohn war ihm 1840 gestorben, sein Vermögen war aufgezehrt, seine Verdienste um Deutschlands Handels- und Verkehrswesen trugen ihm wohl manche Ehre, aber keinen oder nur nothdürftigen materiellen Gewinn ein. Und neben dem allem die endlosen Chikanen der Gegner, die selbst seinen ehrlichen Namen nicht schonten. Lange trug er diese Mühseligkeiten mit stolzer Ruhe, ja mit einem gewissen Frohmuth, der oft in seinen Briefen an seine Gattin, an den Freiherrn v. Cotta, an Kolb u. a. einen erquickenden köstlichen Ausdruck findet. Mit Beginn der vierziger Jahre ließ das nach; er erlahmte körperlich und geistig. Eine Verleumdung empörendster Art gab ihm den letzten, man kann sagen tödlichen Stoß: das Werk seines Lebens, der Grundgedanke seines „Nationalen Systems“, wurde in der „Frankfurter Oberpostamtszeitung“ in den letzten Wochen des Jahres 1845 als aus einem Lehrbuch des sonst wenig bedeutsamen Nationalökonomen Schmitthenner entnommen hingestellt, er selbst mithin mit dem Verdachte des Plagiats behaftet. Dazu kam, daß in derselben Zeit in England, bisher dem Musterland des Schutzzolls, eine Schwenkung zu Gunsten des Freihandels sich vollzog, ein Vorgang, der nicht verfehlen konnte, auf Deutschland eine tiefgreifende Rückwirkung auszuüben. List fühlte das Werk seines Lebens unter seinen Händen zusammenschwinden; vergebens erhob er seinen Warnungsruf, vergebens reiste er selbst nach England und wies auf die gänzlich verschieden gearteten Verhältnisse hin, die das britische Beispiel für Deutschland unannehmbar machten – mit gebrochenem Lebensmuthe kehrte er von dort zurück, die körperlichen und geistigen Qualen steigerten sich ins Unerträgliche – da suchte der Gemarterte im freiwilligen Tode die Ruhe, die ihm das Leben vorenthielt. Am 30. November 1846 fand man in der Nähe von Kufstein, wohin er, seiner Aufregung zu entrinnen, noch gereist war, vom frischgefallenen Schnee schonend zugedeckt, seine Leiche.

Das Werk, das List sich vorgesetzt hatte, steht heute vollendet da, nicht ganz in den Formen, auch nicht ganz auf der Stelle, wie er es geplant und ausgedacht hatte, aber das Wesentliche, die völlige nationalökonomische und politische Einheit der Deutschen, ist erreicht, die fruchtbringenden Gedanken im Verkehrswesen sind zur That geworden – und dem großen Patrioten selbst, dem seine Vaterstadt Reutlingen schon im Jahre 1863 ein würdiges Erzstandbild durch den Schüler Rietschels, Gustav Kietz, errichten ließ, windet die Nation an seinem hundertjährigen Geburtstage gern und willig den vollen grünen Lorbeer, den ihm die Mitwelt, für seines Geistes Flüge noch nicht reif, nur widerstrebend und verkümmert zollte. Dr. H. Ellermann.




Von der Deutschen Allgemeinen Ausstellung für Unfallverhütung.

Von C. Falkenhorst. Mit Abbildungen von A. Holm und A. v. Roeßler.
I.

Sechs Jahre sind verflossen, seitdem sich die Thore des Ausstellungsgebäudes am Lehrter Bahnhof zu Berlin für alle diejenigen öffneten, die bestrebt waren, ihren Nächsten bei Unglücksfällen Hilfe zu bringen und das theuerste Gut, die Gesundheit, zu schützen. Mit froher Zuversicht hatte man damals, dem Vorgange Belgiens folgend, eine „Allgemeine Deutsche Ausstellung auf dem Gebiete der Hygieine und des Rettungswesens“ ins Leben gerufen. Wir wissen heute, daß alle Hoffnungen, die man an dieses gemeinnützige Unternehmen knüpfte, in Erfüllung gegangen sind, und das Hygieine-Museum in Berlin, die unerschöpfliche Quelle der Belehrung für die Wächter der öffentlichen Gesundheitspflege, ist ein Kind jener Ausstellung.

Heute drängt sich wieder der breite Menschenstrom in die festlich geschmückten Hallen, in denen Dampf und Gas tausend Räder schwirren lassen und das elektrische Licht weite Säle, Taucherbecken und Bergwerke erleuchtet. Müßige Neugierde lockt wohl viele der Besucher heran, aber keiner von ihnen verläßt die Räume ohne das erhebende Bewußtsein, ein seltenes Bild edelster Bestrebungen geschaut zu haben.

Wir sind gewohnt, den kriegerischen Siegen die Errungenschaften des Friedens entgegenzustellen: dem rauhen Kriegsgott gegenüber erscheint der Friede als ein holder zarter Knabe, Dichter singen so und preisen ihn in solchen Gleichnissen – vom Huf der Rosse zerstampfte Felder, Todte und Verwundete, brennende Dörfer, das sind die schauerlichen Wappenbilder des Schlachtengottes, lachende Fluren, glückliche Menschen umgeben den Friedensgenius. Wir vergessen zu leicht, daß auch die friedlichen Eroberungen nur im schweren Kampfe vollzogen werden können, daß die Nationen auch auf diesem Gebiete der Arbeit ihre Verlustlisten aufzuweisen haben, daß auch hier Todte und Verwundete auf dem Ringplatze liegen bleiben. Daran erinnert jeden die neue „Deutsche Allgemeine Ausstellung für Unfallverhütung“, und wer im Mittelpunkt der Ausstellungshalle stehen bleibt und die statistischen Tafeln über die Ergebnisse der Unfallversicherung im Deutschen Reiche 1887 prüft, der erfährt, daß in dem einen Jahre allein in den Berufsgenossenschaften und Staatsbetrieben 17 102 Menschen getödtet oder schwer verletzt wurden, daß 7083 Witwen und Waisen den Verlust ihres Ernährers zu betrauern hatten, und daß 115 579 weniger oder mehr Verletzte in die Verlustlisten des großen arbeitenden Heeres eingetragen werden mußten.

Diese Zahlen sprechen deutlich und ihr Bekanntwerden gab auch die Veranlassung zu dieser Ausstellung. Unsere Gesetzgebung hat durch das Unfallversicherungsgesetz das Los der Verunglückten und deren Hinterbliebenen sicherzustellen gesucht, und als infolge dessen die einzelnen Berufsgenossenschaften zu prüfen anfingen, in welchem Maße die Arbeiter in den Einzelbetrieben der Gefahr ausgesetzt sind, da stellte es sich heraus, daß die Brauerei- und Mälzerei-Berufsgenossenschaft die höchste Unfallziffer zu verzeichnen hatte. Die Leiter dieser Genossenschaft suchten nach Mitteln, um dieser bedauerlichen Thatsache abhelfen zu können, und von ihnen, namentlich von Professor Dr. Delbrück und Direktor Max Schlesinger, ist der Gedanke ausgegangen, eine Ausstellung von Apparaten und Einrichtungen zu veranstalten, welche eine Verminderung der Unfallgefahr im Brauereibetriebe herbeizuführen geeignet erscheinen. Dieser Gedanke fand in den betheiligten Kreisen die wärmste Aufnahme, und die Berliner Brauereien erklärten sich bereit, für die erforderlichen Geldmittel aufzukommen. Kaum wurde aber dieser Plan in weiteren Kreisen bekannt, so wurde auch der Wunsch rege, das Ausstellungsunternehmen auf alle Gewerbe ohne Ausnahme auszudehnen. Die Berliner Brauereien folgten dieser Anregung, übernahmen auch die weit höhere Geldbürgschaft, und die Stadt Berlin förderte den Plan, indem sie 100 000 Mark baren Zuschuß sowie unentgeltliche Lieferung von Gas und Wasser bewilligte. Die Regierung selbst hatte von Anfang an dem Unternehmen die thatkräftigste Unterstützung angedeihen lassen und Kaiser Wilhelm II. die Schutzherrlichkeit über

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 523. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_523.jpg&oldid=- (Version vom 29.3.2020)