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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Wenige Sonntage nach der Abreise des Franzosen-Peiders fand in der kleinen Kirche von Surley eine Trauung – diesmal eine wirkliche und ohne Hindernisse – statt. Es war der lange Clo der Maria Büssin, der die nicht minder lange Staschia Cadruvi ehelichte, doch nun auch der Mutter ärmliche Wohnstätte verließ, um in das recht stattliche, feste Haus seiner Schwieger, das jenseit des Surleywassers lag, einzuziehen. Es war ein guter Tausch, denn die Büssin hatte eine Feuerstelle inne, die eher einem Steinhaufen ähnlich sah als einem Wohnhause und noch dazu abseits nahe den Felswänden lag, so daß sie im Frühling, wenn Schnee und Eis zu schmelzen begannen, viel und oft von den wilden Wassern zu leiden hatte. Die neue Wohnung des Clo aber bestand aus einem Gelaß so lang wie das ganze Haus und zwei Nebenkammern, wovon die eine als Schlafstelle der alten Mutter Cadruvi, die andere, recht düstere, als Vorrathsraum und Keller diente. Eine schmale, leiterartige Treppe führte zu zwei niederen Dachkammern, welche freilich für die stattliche Länge des jungen Ehepaares, das sie bewohnte, nicht berechnet waren. Es mußte sich allemal beim Eintritt tief bücken. Unten, in dem großen Raum, der den Insassen Wohn-, Eßzimmer und Küche war, befand sich der steinerne Herd nebst einigen Truhen und Schränken aus gedunkeltem Arvenholz, die wie die Bettstelle, Tisch und Schemel in unbeholfener Weise verfertigtes Schnitzwerk zeigten. So einfach sich dies alles auch darstellte, mußte es doch dem langen Clo, wenn er an die öde und kahle Wohnung seiner armen Mutter zurückdachte, wie ein Palazzo vorkommen, noch dazu, da er die Räume an der Seite einer jungen Frau bewohnen durfte, die im Grunde gar nicht so übel war, und an deren Länge er keinen Anstoß zu nehmen brauchte. Vermochte er sie doch aus gleicher Höhe herzhaft auf den rothen Mund zu küssen!

Nicht so gut hatte es seine Mutter, die Maria Büssin – ihr fehlte jetzt erst recht viel! Hauste sie doch nun ganz allein in ihrem kalten Steinhaufen. Doch sollte sich ihre gedrückte Lage bald und in überraschender Weise zu ihren Gunsten ändern.

Nach jenem erschütternden Auftritt vor der Kirche war Madulani den ganzen Tag nicht mehr zum Vorschein gekommen; am folgenden Morgen erschien er, wenn auch ernst, finster, bleicher als gewöhnlich und mit unheimlich funkelnden Augen, doch im übrigen auffallend ruhig. Mit keinem Wort erwähnte er gegen sein Weib das Vorgegangene; es war, als ob er es gar nicht erlebt, aber auch – als ob er nie ein Kind sein eigen genannt hätte. So blieb es, und sah er die Büssin bei seinem Weibe, so schien er ihre Anwesenheit, den Verkehr der beiden Frauen gar nicht zu beachten, während er sonst für die Schwester, traf er sie in seinem Hause, stets nur schlimme Worte gehabt hatte. Auch dies änderte sich mit der Zeit nicht. So ergab es sich denn ganz von selbst, daß die Büssin, nachdem ihr Clo sich verheirathet hatte, immer häufiger bei der Schwägerin anzutreffen war, endlich sogar fast von morgens früh bis abends in dem Hause des Cavigs weilte, ohne daß dieser ein Aergerniß daran zu nehmen schien. Er beachtete es sogar nicht mehr, wenn Frau Barbla seiner Schwester irgend etwas zusteckte – was sonst ein Donnerwetter entfesselt hatte.

Es mußte seit jenem Sonntage eine überraschende Umwandlung mit dem sonst so rücksichtslos harten Manne vorgegangen sein, in allem, was er that und sprach, zeigte sich dies – nur nicht in einem Punkte.

Frau Barbla ging still ihrer Wege wie bisher, sie ließ ihren Mann gewähren; ruhig sprach sie mit ihm, in ihrer gewohnten, kurzen, etwas rauhen Weise, ohne dabei viel von ihrer Hantierung aufzublicken. Doch beobachtete sie ihn scharf, und zu ihrer geheimen Freude gewahrte sie die mit ihm vorgegangene unverkennbare Veränderung, von der sie glaubte, sich für die Zukunft das Beste für ihr Kind und dessen Gatten versprechen zu dürfen. Aber sie kannte, trotz des langen Zusammenlebens, ihren Mann noch immer nicht genug. –

Eines Abends, es mochten wohl der Wochen acht verflossen sein, seit die beiden allein hausten, saßen sie still und schweigend einander gegenüber in ihrer großen Stube. Die Sonne ging für das Hochthal unter und ihre letzten Strahlen streiften mit einem fremdartigen rothglühenden Schein die zackigen Felswände, die Schnee- und Eisfelder des Juliers und des Piz Albana, welche theilweise in ihren scharfen Umrissen von der Stube aus sichtbar waren. Der massige Tisch stand gegen das breite, niedere Fenster gerückt, und auf der einen Seite saß Frau Barbla, die Spindel mit dem Flachs der lombardischen Ebene unter dem Arm. Mit der Rechten zog sie den groben Faden. Durch die Tafel von ihr getrennt saß Madulani, mit dem Ellbogen schwer auf die Platte gestemmt, und rauchte seine Pfeife. Vor ihnen lag ein angeschnittenes Roggenbrot und auf einem irdenen Teller ein Stück Ziegenkäse; sie hatten zu Nacht gegessen, ohne nur ein Wort miteinander zu reden, und gleich stumm saßen sie auch jetzt noch da. Doch oftmals schweifte der Blick der Mutter verstohlen nach ihrem Manne hinüber, der, den Wölkchen seiner Pfeife nachschauend, dies nicht zu bemerken schien. Sie mußte etwas auf dem Herzen haben und den Augenblick für günstig halten, es auszusprechen, denn endlich ließ sie die Spindel ruhen, wandte leicht den Kopf ihrem Manne zu und sagte leise, doch mit eindringlichem Ton:

„Gian, ist Dein Herz denn wirklich so hart geworden wie die Felssteine da drüben – daß Du so gänzlich vergessen kannst, wie fern von uns ein armes Geschöpf lebt, das von unserem Fleisch und Blut ist und sich in Sehnsucht nach dem Vater verzehrt? Und Du hattest sie doch immer so gerne, unsere Aninia!“

Kaum hatte sie den Namen ausgesprochen, da ging eine jähe, schreckenerregende Veränderung mit Madulani vor. Wie von einer Natter gestochen, schnellte er von seinem Schemel empor und die Pfeife zu Boden schleudernd, daß sie klirrend in Stücke brach, schrie er sein Weib an:

„Sprich den Namen nicht aus! – oder es geschieht ein Unglück!“ Alles Blut war ihm nach dem Kopf gestiegen, denn sein Antlitz war tiefroth geworden und blutunterlaufen quollen die Augen daraus hervor. Zugleich hatte die freigewordene Hand das große, bei dem Brote liegende Messer ergriffen, als ob er damit seine letzten Worte hätte bekräftigen wollen. Nach einem tiefen, keuchenden Athemholen fuhr er fort: „Wer für sie, die ihren Vater mit Schmach und Schande bedeckt hat, zu mir spricht, ist mein Todfeind, das merke Dir!“

Mit diesen Worten stieß er das Messer mit aller Gewalt in die Tischplatte, daß es tief darin stecken blieb, und stürmte aus der Stube.

Frau Barbla war aufgesprungen, die Hände vor Entsetzen zusammenschlagend; eine ganze Weile starrte sie ihrem Manne nach, ihre Augen füllten sich mit Thränen, dann sank sie unter stillem Weinen auf ihren Sitz zurück, leise vor sich hinmurmelnd:

„Ich bin zu Ende. – Sein Weib vermag nichts mehr – ein Stärkerer muß über ihn kommen – und er wird kommen!“

Noch eine ganze Weile saß sie da, sinnend mit gefalteten Händen, wohl im Gebet sich an den wendend, der allein hier noch helfen konnte. Ruhiger geworden, nahm sie ihre frühere Arbeit mit der Spindel von neuem auf. –

* * *

Wieder waren wohl zwei Monate vergangen, mit ihnen der schöne, wenn auch nur kurze Sommer des Engadins, und kein Wort über Aninia war mehr zwischen Madulani und seinem Weibe gewechselt worden. Der Cavig befand sich jetzt schon in der dritten Woche draußen; mit seinem Ochsengespann hatte er eine Fuhre der schönsten Arvenstämme thalabwärts über den Malojapaß, durch das Bergell, dann über Chiavenna nach dem Comersee geführt, wo sie von einem Mailänder Handelsmanne in Empfang genommen wurden, um vorerst zu Schiff nach Como geschafft zu werden. Madulani hatte ein gutes Geschäft gemacht, und eine große Anzahl dicker, silberner Fünflivres-Thaler in seinem Ledersack, kehrte er mit seiner Ochsenfuhre in zufriedener, fast heiterer Stimmung heim. Die Rückreise dauerte lange, sehr lange, denn es ging aufwärts und immer aufwärts. Doch endlich hatte er den steilen Malojapaß überschritten und nun war er in wenigen Stunden daheim. Frau Barbla, die sich in einer ungewöhnlichen, doch sichtlich freudigen Aufregung befand, sah ihn kommen; sie hörte in der Stube, wo sie ihn erwartete, wie er zuerst die beiden Thiere in den Stall brachte, ihnen Futter gab, wie er dann den schweren Wagen mit den plumpen Rädern im Schuppen unterstellte. Jetzt erst lenkte er auf das Haus zu, und bald darauf stand er in der Stube vor seinem Weibe.

Zum erstenmal seit Monaten zeigte Madulanis Antlitz lächelnde Züge; zum erstenmal war der Gruß, welcher seinem Weibe wurde,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 567. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_567.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)