Seite:Die Gartenlaube (1889) 592.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Leben oft gefehlt, – auch dadurch – daß ich Deiner Mutter, Aninia, nachgab und Dich mit dem Beppo verband. Wache über ihn, denn er ist schwach, auf daß meiner armen Seele im Jenseits keine Sünde angerechnet werden kann und Euch – auf Erden des Himmels Strafe erspart bleibe. Betet auch Ihr für mich!“ – –

Er wollte weiter reden, doch schon die letzten Worte waren kaum noch verständlich gewesen. Nun sank er vollends auf sein Lager zurück, und die Hände über das kleine Crucifix gefaltet, bewegte er seine Lippen wie im Gebete. Die drei Frauen waren weinend in die Kniee gesunken und beteten inbrünstig. Als sie nach einer Weile ängstlich spähend die Blicke erhoben, lag Fra Battista unbeweglich da, seine freundlichen Züge lächelten, doch seine Lippen bewegten sich nicht mehr. – Er war sanft hinübergegangen in eine bessere Welt.

Alle vier hielten in der Nacht die Todtenwacht, und am andern Morgen trug Clo, von den Frauen begleitet, den erstarrten Körper des Mönchs zu dem nahen Alpenrosengebüsch, wo sie in der That das offene Grab und daneben das roh gearbeitete Kreuz vorfanden. Hier wurde Fra Battista zur ewigen Ruhe gebettet. Liebevolle Hände deckten ihn mit den letzten Alpenrosen und ihrem nur noch spärlich vorhandenen Grün, dann schaufelte Clo das Grab mit Erde zu und pflanzte das Kreuz darauf. – Unter Thränen noch ein letztes, stummes Gebet – und alles war vorüber. –

Nicht lange waren sie wieder in der ärmlichen Wohnstätte zwischen den Steintrümmern angelangt, da erschien in großer Aufregung Frau Barbla, keuchend rief sie schon unter der Thür:

„Es ist alles aus, wir haben umsonst gehofft, Aninia, mein armes Kind!“

Und nun kam in einem Strom von entrüsteten Worten alles heraus, was die Frau am Tage zuvor erlebt und was mit einem Schlag alle hoffnungsreichen Zukunftspläne vernichtet hatte, ihr Gespräch mit dem heimgekehrten Mann, seine neue starrsinnige Weigerung.

„Aber es giebt noch einen Gott über uns,“ rief sie mit leidenschaftlich funkelnden Augen, „der ihn richten und strafen wird. Sein frevelhafter Schwur ist zur Hälfte an mir in Erfüllung gegangen. Mich, die Mutter, hat er zur Bettlerin gemacht, und nun gehöre ich zu Euch, wie Du und Beppo zu mir gehören. Komm, Aninia, mein Kind, folge mir! Ich bringe Dich einstweilen in der Wohnstätte der Büssin unter, wo ich noch in der Nacht und heute ganz in der Frühe eine Schlafstelle für Dich zurecht gemacht habe. Dort sollst Du fortan hausen, und ich, Deine Mutter, werde täglich bei Dir sein. Und den will ich sehen, der mir dies wehren darf! – Komm!“

Willenlos folgte die leise weinende Aninia der Mutter; von der Büssin und Staschia begleitet, stiegen sie den Hügel hinab, indeß Clo die wenigen Habseligkeiten zusammenraffte, um sie ebenfalls in sein früheres ärmliches Heim zu schaffen, das von nun an den Aufenthalt Aninias bilden sollte – derselben Gold-Aninia, die noch vor wenigen Monaten als das reichste Mädchen des ganzen Engadins gepriesen worden war.


9. Die Versuchung.

„– Wie sagte der Mönch? ‚Murre nicht über Deine Armut und beneide den Reichen nicht um sein Hab und Gut!‘ – Er hatte gut reden, der fromme, gerechte Mann! Aber ich? Soll ich mich darüber freuen, daß der da drunten im Ueberfluß sitzt, während ich hier frieren und hungern muß? Ist der Cavig besser und frömmer als meine armen Eltern, die zeitlebens darben mußten? Nein, nein, er ist ein harter, grausamer Mann, der die Armen drückt, wo er kann, und dennoch ist er reich! – Das müßte mir Fra Battista doch erklären, wenn er noch am Leben wäre. Er hatte unrecht, der Mönch,“ schrie Beppo – denn er war es, der dieses leidenschaftliche Selbstgespräch führte – und schüttelte die Faust nach dem Dorf hinunter, das tiefverschneit im Thale lag. Er saß auf der Surley-Alp, die einstmals im warmen Sommersonnenschein so lieblich gewesen war; jetzt lag sie in Eis und Schnee wie die Berge rings umher. Die blumigen Wiesen hatten sich in ein weißes Leichentuch gehüllt; die Spiegel der Seen waren zu starren Eisflächen geworden. Der Kranz der dunklen Nadelhölzer verschwand fast unter den Schneemassen, die fußhoch auf den Aesten der Arven und Rothtannen lagerten, sie bis zum Brechen zur schneebedeckten Erde niederdrückten. Die Häuser und Hütten der Dörfer waren kaum noch zu erkennen, so hatte des Winters rauhe Herrschaft alles ringsum, in Höhen und Tiefen, gleichgemacht, wie der Tod alle, Hohe und Niedrige, Arme und Reiche, die im Sonnenschein des Lebens friedlich neben einander hergehen oder sich feindlich gegenüberstehen, gleich macht.

„Warum leidet man es denn, daß einer reich ist und schlecht dazu?“ murmelte Beppo auf seinem Steine weiter. „Aber freilich, wie wollte man es ihm wehren, ohne selbst zu sündigen? Fra Battista sagte ja: ‚Suche nicht auf unrechte Weise die Kluft auszugleichen, die Dich von ihm trennt.‘ – Wenn ich nur genau wüßte, was er damit meinte, ob er dachte, ich könnte es, wenn ich wollte?“

Beppos armes Hirn begann angestrengt über dieses Räthsel zu grübeln, aber lange ohne Ergebniß.

„Ihm gleich werden, ich, ein armer Schäfer, das ist ja unmöglich – sein Geld stehlen – nein, das möchte ich nicht, auch wenn ich könnte!“ – Wieder starrte Beppo minutenlang vor sich hin, dann lachte er plötzlich laut auf und rief: „Ja, das wäre es! Ihn zum Bettler machen, wie ich einer bin, o, das müßte eine Wonne sein, das thäte ich auch, wenn ich es könnte! Dann wäre er bestraft für seine Hartherzigkeit, dann müßte sich sein Hochmuth beugen –“ mit funkelnden Augen und raschen Athemzügen verfolgte Beppo diesen für ihn entzückenden Gedankengang, er weidete sich an den Bildern, die seine lebhafte Einbildungskraft ihm vorzauberte, und vergaß darüber ganz, daß er sich vorerst in einer sehr elenden Lage inmitten der kalten Todtenstille des winterlichen Thales befand.

Nur ein Ton war hörbar inmitten des großen Schweigens – ein Rieseln und Rauschen. Aus der Höhe kam es, um in der Tiefe zu verstummen, doch unaufhaltsam, immerfort, in scheinbar ewigem Einerlei. Es war das Surleywasser, das, wenn auch von Eis und Schnee eingedämmt und überbrückt, doch ungefesselt den alten Weg von der Höhe der Fuorcla da Surley zum Thal und dem Selafluß suchte. Die Felsblöcke und Steine, welche ihm im Sommer die Bahn versperrten, lagen noch immer an alter Stelle; sie schienen durch die darauf lagernden Schneemassen riesig emporgewachsen, doch das Wasser trotzte ihnen auch heute noch; es stürmte gegen sie an, um dann auf Umwegen ihnen auszuweichen. War es doch, als ob sein Rauschen hätte sagen wollen: „Wartet nur! kommt der Frühling, führt die Sonne mir Hilfe zu, die das Bächlein zum Wildbach werden läßt, dann will ich Euch grobe Gesellen schon zur Seite schieben oder Euch zur Tiefe führen und vollends aus meinem Wege schaffen.“

Beppo saß zusammengekauert da, den Kopf nach dem Wasser hingewendet, die unheimlich funkelnden Augen weit aufgerissen, die Lippen geöffnet, als ob er mit aller Anstrengung horchte auf das, was er in dem Rauschen des Wassers zu vernehmen glaubte. Ja, ja! er hatte es verstanden – oder sollte ein anderer, sein böser Dämon es ihm zugeraunt haben? – Er setzte plötzlich die Rede des Wildbaches fort und zischelte mit scharfen Tönen nach dem Wasser hin: „Und wenn Du die Felsblöcke zur Tiefe führst und schleuderst sie wider das Haus des Cavigs, zertrümmerst seine Wohnstätte – seine Ställe – erschlägst, ersäufest sein Vieh, schwemmst ihm seinen Reichthum in den Selafluß und in den See – dann wäre er ein Bettler und uns allen geholfen. Ah! – Nur müßte dazu dem Surleywasser der richtige Weg gezeigt werden,“ setzte er keuchend hinzu, um dann laut aufzuschreien: „Und wäre es eine Sünde, wenn ich es thäte?!“ –

Von dem Steine schnellte er empor, als ob der Gedanke ihm im selben Augenblick, da er ihm Worte gegeben, die weit offene Hölle mit all ihren Schrecken gezeigt hätte, der er entgegeneilte. Sein ganzer Körper schüttelte sich wie im Fieber, und nun war es ihm wieder, als ob er Fra Battista leibhaftig vor sich sähe, der ihn tieftraurig anblickte. Da hielt es den armen gemarterten Burschen nicht länger; als ob die ganze Hölle, in die er zu schauen geglaubt hatte, hinter ihm wäre, stürmte er davon; weder der Steine noch des tiefen Schnees, des eisigen Wassers achtend, sprang er mehr, als er lief, die Fuorcla hinab, oft hinstürzend, rasch sich wieder aufrichtend und in seinem tollen Lauf nicht eher innehaltend, als bis er die Sohle des Thals erreicht hatte und in der Nähe der Häuser von Surley angelangt war.

Der Abend war mittlerweile gekommen, und schon blinkten hie und da in einzelnen der zerstreut liegenden Wohnstätten schwache Feuerscheine auf. An versteckter, doch offenbar wohlbekannter Stelle

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 592. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_592.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)