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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

bisher unansehnliche Ort in denselben Maße, wie das vor jener Katastrophe so stattliche Surley verödete. Die schweren Heimsuchungen des Dorfes sollten dabei noch immer nicht zu Ende sein. Zwei Jahre nach jener Schreckensnacht, im März des Jahres 1793, überschwemmte abermals eine gewaltige Wasserfluth das unglückliche Dorf, und hatte bisher wohl die Hälfte der Bewohner ihren Heimathsort mit dem nahen Silvaplana vertauscht, so zog ihnen jetzt wieder ein großer Theil der Zurückgebliebenen nach. Die mühsam von Schlamm und Steinen gereinigten Wiesen, welche kaum begonnen hatten, sich wieder mit spärlichem Grün zu schmücken, wurden abermals fußhoch mit Schutt bedeckt, viele der flüchtig ausgebesserten Häuser stürzten vollends zusammen und die neue Auswanderung war eine zwingende, traurige Nothwendigkeit geworden. Bei dieser zweiten Ueberschwemmung fiel auch der nothdürftig erhaltene Theil des Hauses Madulanis in Trümmer, und der ehemals reiche Mann war hiermit vollständig verarmt. –

Madulani lebte noch. Seine Krankheit war eine langwierige gewesen, aber mit dem Hochsommer hatte er sein Lager und das Haus verlassen dürfen, um von der milden Sonne des Thales seine volle Genesung zu erwarten. Doch seine Kraft schien gebrochen und ein schwerer Kummer fraß ihm am Herzen, den er in finsterem Schweigen mit sich umhertrug, den die aufopfernde Liebe seines Kindes, das tröstende Zureden seines Weibes nicht zu lindern vermochten. In der schweren Heimsuchung waren ihm endlich die Augen aufgegangen über die Schuld, die er gegen beide auf dem Gewissen trug, und wenn er sich auch nicht zu vielen Worten deshalb verstehen mochte, so merkten Mutter und Tochter doch sein stetes Bestreben, stillschweigend für die frühere Härte um Vergebung zu bitten. Hätte Beppo an seiner Seite gestanden, als er wieder zu sich kam, er würde auch ihm reuevoll die Hand gereicht haben. Doch Beppo sah er nicht an seinem Krankenlager; er fand ihn nicht im Hause, als er wieder umherwandeln konnte, und seinen Fragen nach ihm wurde keine Antwort. Er war wohl todt, – im Elend gestorben, dann hatte er, Madulani, eine neue noch schwerere Schuld auf dem Gewissen, und bei solchen Gedanken verdüsterte sein Gemüth sich mehr und mehr.

Und Aninia? Ihre Gesundheit hatte unter den schweren Schicksalsschlägen nicht gelitten, nur war sie ernster und ihr Antlitz bleicher geworden. Zugleich war es, als ob die frühere Energie des Vaters in der Tochter aufgelebt sei. Hochaufgerichtet, in fester Haltung ging sie einher und verrichtete die schwersten Arbeiten unverdrossen gleich einer Magd. Dabei war sie jetzt zur vollen Frauenschöne erblüht, und selbst die Blässe ihres Gesichtchens, aus dem die dunklen Augen hervorleuchteten, erhöhte dessen Liebreiz. Von Beppo sprach sie nie, nur noch im Gebete kam sein Name über ihre Lippen. Ihr Geheimniß hielt sie fest im Busen verschlossen, nur der Mutter hatte sie es an jenem Unglückstage anvertraut. Ob sie ihn noch immer liebte? O gewiß! Doch gedachte sie seiner nur wie eines Todten. – Die anderen hielten ihn für todt und hatten den armen Beppo wohl auch schon vergessen.

Als das zweite Unglück über Surley gekommen war und an den Cavig mit seiner Familie nach der völligen Vernichtung seines Eigenthums die Nothwendigkeit herantrat, sich irgendwie ein Unterkommen zu suchen, entweder auszuwandern oder abermals die Mildthätigkeit des ebenfalls schwer geschädigten Clo in Anspruch zu nehmen, da ging Aninia, ohne den Ihrigen ein Wort von ihrem Vorhaben zu sagen, hinüber nach Silvaplana. Dort stand, gerade dem Saumpfad gegenüber, der aufwärts über den Julierpaß und dann hinunter ins Rheinthal nach Chur führte, eine Herberge. Vor Jahren war ein Mann aus jenem deutschredenden Theile Graubündens nach Silvaplana gekommen, hatte sich dort als Wirth angesiedelt und seinem Hause den deutschen Namen „Zum wilden Mann“ gegeben. Nun hauste eine Witwe darinnen mit zwei Kindern, einem Mädchen und einem Knaben von vier und fünf Jahren – der Mann war vor kurzer Zeit gestorben. Dort trat Aninia ein und hatte mit der Frau eine lange Unterredung, worauf sie mit einem freudigen Ernst in ihren Zügen nach Surley zurückkehrte. Sie fand die Eltern in dem Hause des Clo, in gedrückter Stimmung, denn das Elend stand vor der Thür und kein Ausweg wollte sich zeigen.

„Vater, Mutter, kommt!“ rief Aninia den Ihrigen mit fester Stimme entgegen. „Ich habe Euch in Silvaplana eine wohnliche Kammer und den täglichen Unterhalt ausgemacht; wir brauchen dem guten Clo und seinem Weibe nicht wieder zur Last zu sein, ja ich hoffe sogar, auch sie noch unterstützen zu können.“

„Was hast Du gethan?“ fragte Mutter Barbla, sich überrascht von ihrem Schemel erhebend und mit besorgter Miene auf Aninia zutretend.

„Fragt jetzt nicht, Mutter! Ihr werdet es schon erfahren. Rafft unsere Sachen zusammen und kommt!“ entgegnete die junge Frau.

„Ich verlasse Surley nicht,“ sprach Madulani mit dumpfer Stimme, „unter seinen Trümmern will ich begraben sein.“

Da trat Aninia auf ihn zu, legte ihm die Hand fest auf die Schulter und sagte tiefernst: „Ich meine doch, Vater, daß des Unglücks genug über uns gekommen wäre und es eine neue, schwere Sünde begehen hieße, noch größeres herbeizusehnen. Wir sind arm geworden, ist es da nicht immer noch besser und ehrenvoller, zu arbeiten, als – Almosen zu heischen? Ich bin jung und stark, für uns – betteln mag ich nicht, doch für Euch arbeiten will ich; ich habe mich drüben in der Herberge als – Magd verdingt.“

„Aninia!“ schrie Madulani auf, von seinem Sitze emporfahrend. Dann stöhnte er, die Hände vor das Antlitz schlagend: „Muß ich auch das noch erleben? O Du mein Herr und Gott, schwer strafst Du meine Härte und meinen Hochmuth!“

Da legte Aninia die Arme um den Hals des Vaters. „Laßt’s gut sein, Vater,“ sagte sie ernst. „Was ich thue, ist keine Schande, und es muß sein! Habt Muth und Vertrauen, es wird vielleicht noch alles gut – nun kommt!“

Da umfing Mutter Barbla weinend ihr Kind und sagte voll Bewegung: „Gold-Aninia haben sie Dich früher geheißen, aber jetzt erst wissen wir, daß Dein Herz wirklich von Gold ist!“

So war es gekommen, daß Aninia, Madulani und Frau Barbla ein neues, sicheres Asyl in der Herberge von Silvaplana gefunden hatten. –

Aninia griff tüchtig zu und unter ihren Händen gediehen das Hauswesen und die Wirthschaft, denen die Witwe allein kaum vorzustehen vermochte, und die Kinder, die ihr bald ans Herz wuchsen. Frau Barbla machte sich nützlich in Haus und Hof, auch sie hatte sich in Demuth ihrem Geschick gebeugt wie Madulani, der einst so stolze Cavig, der jetzt arbeitete, als gelte es keinem fremden, sondern dem eigenen Hausstande. Eine überraschende, erfreuende Wirkung hatte dies rückhaltlose Sichfügen in ein hartes, nicht zu änderndes Schicksal. Die Leute aus Surley, welche nach Silvaplana übergesiedelt waren, sammelten sich fast alle um ihren ehemaligen Cavig, und ganz von selbst gewann der alte Gian eine Herrschaft über sie, die weit freudiger als früher ertragen wurde, weil ihr die einstige gefürchtete Härte fehlte und die Leute sie freiwillig anerkannten. Wohl gab es auch solche, die den einst so stolzen, mächtigen Mann seine jetzige Armut und Ohnmacht fühlen ließen und ihn über die Achsel ansahen. Bei mancher geringschätzigen Bemerkung zuckte er zusammen, er erinnerte sich dann, wie er früher auf andere herabgesehen hatte, die mehr besaßen, als er jetzt; das Bild des armen Beppo stieg vor ihm auf und ein leises Stöhnen entrang sich oft seiner Brust. Aber seine düstere Stimmung wich immer wieder vor dem freundlichen, fröhlichen Walten seiner Frau und Tochter und den Anforderungen, welche die Tagesarbeit an ihn stellte. Die jüngeren Männer von Silvaplana füllten die Gaststube des „Wilden Mannes“ der schönen Aninia wegen und bald gesellten sich auch die von Sils und Campfèr hinzu. Alle kannten sie ja als das ehemals reichste und schönste Mädchen des Thales, und heute erschien sie als stattliche Frau, die bei gewohntem Ernst doch gegen jeden Gast sich freundlich erwies, noch bewunderungs- und begehrenswerther denn vordem. Noch glänzte das herrliche blonde Haar wie früher in dichten Flechten um ihren Kopf. So hieß denn des arm gewordenen Madulani Tochter wie zur Zeit, da er noch als der reichste Mann des Engadins galt, „Gold-Aninia“, und es war ein Ton offener Herzlichkeit, mit dem der hübsche Name ausgesprochen wurde.

Die Arbeit hatte den Hartgeprüften Segen gebracht, sie vor Verzweiflung gerettet und ihnen neuen Lebensmuth eingeflößt, so daß sie der Zukunft getrost entgegen sahen.

So war das verhängnißvolle Jahr 1799 herangekommen, in welchem das stille Engadin die Greuel des Krieges kennen lernen sollte.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 644. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_644.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)