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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

denen es sich still und lieblich lebt, wenn auch schmerzliche Erinnerungen jeden Deutschen überkommen, der San Remo betritt, wo unser Kaiser Friedrich vergeblich Heilung jenes heimtückischen Leidens suchte, das ihm ein frühes Grab bereitet hat. Alle andern Küstenorte, welche die Natur nach san-remesischem Modell angelegt hat, Pegli und, über Genua hinaus: Nervi, bauten ihnen nach; zuletzt erschloß sich als jüngste Knospe zwischen Bordighera und San Remo das glänzende Ospedaletti. – Das Baumaterial von Gebirge, Berg, Hügel, Thal, Strom und Bach, von Wald und Wiese haben wir in Deutschland auch; einen „Leib“ San Remo könnten wir herstellen, aber den lebenden Odem, den Geist vermögen wir nicht, ihm einzuhauchen: die Sonne des Südens fehlt, es fehlt das gewaltige Wärmebecken des Mittelmeeres.




Wie entstehen Moden?

Von Cornelius Gurlitt.
II.

Wohl nie hat eine Frau die Mode so „beherrscht“, als es die Kaiserin Eugenie in den sechziger Jahren that. Sie war ein Schatz in den Händen kluger Geschäftsleute. Noch nie gab es eine Frau, welche durch das bloße Tragen so ausgiebige Reklame für einen neuen Stoff, eine neue Farbe, einen neuen Schnitt machte und noch dazu so kaiserlich zahlte. Aber ihre Herrschaft hatte eine sehr sichtbare Grenze. Durch die Reklame, welche man für sie als Modekönigin machte, führte man eben die Mode selbst mit ein. Doch die Macht der Kaiserin endete mit dem Augenblick, in welchem sie eine eigene Mode machen wollte.

Eines Tags war Hungersnoth unter den Seidenwebern in Lyon. Die Kaiserin beschloß, die Industrie zu heben, und trug sich in Lyoner Seide. Das paßte aber den großen Schneidern von Paris nicht in ihre Handelspläne. Da sah die hohe Frau auf einmal, daß nur wenig Damen ihr folgten, und sie mußte erkennen, daß ihre Herrschaft also ausschließlich auf ihrem Gehorsam beruhte. Ihre Mode wurde nicht angenommen, die Welt kümmerte sich nicht um ihre Launen. Und klug wich sie zurück, ihre Niederlage verbergend. Lauter Beifall empfing sie wieder, seit sie alle selbstherrlichen Versuche in ihrem Reiche aufgab und hübsch verfassungsmäßig so auftrat, wie ihr die Minister der Mode vorschrieben.

Das Jahr 1870 brachte die Welt der Frauenkleider in Schwanken. Die so meisterhaft arbeitende Maschine wechselseitigen Lobes war zerstört. Paris schien entthront, es gab keine anerkannte Herrscherin mehr, die Modenanarchie war im Ansturm!

In mancher Beziehung kam es damals wirklich zum Abfall von Paris, z. B. hinsichtlich der Zimmereinrichtungen. Unseren Tapezierern fällt es nicht mehr ein, in Frankreich nach Vorbildern zu suchen, ebenso wenig unseren Tischlern. Hier haben die kunstgewerblichen Lehranstalten, hat die von ihnen gehobene Kunst des Entwurfes von Möbeln Großes geleistet. Es kommt ja zunächst nicht darauf an, ob der Geschmack der Deutschen besser sei als der der Engländer oder Franzosen, sondern ob die deutschen Erzeugnisse dem deutschen Publikum besser gefallen als die fremden. Dies ist in der Zimmereinrichtung thatsächlich erreicht, dadurch eroberten wir das heimische Geschmacksgebiet zurück. Die zweite Frage ist nun, ob auch fremde Länder unserer Geschmacksführung folgen wollen. Geschieht dies, so haben wir in der Ausfuhr die Vorhand. Man muß eben einmal untersuchen, wie der Geschmack geführt, die Mode gemacht wird.

Lassen Sie uns in eine der großen deutschen Tapetenfabriken eintreten! Dort liegen in mächtigen Bänden die Muster der letzten Jahre aus, Abschnitte aller Tapeten, welche gefertigt wurden. Die Reisenden, welche bei den Zwischenhändlern diese Bände vorlegten und die Aufträge einsammelten, haben ihre Berichte eingesendet. Da zeigt sich denn bald, welches unter den neu erschienenen und welches unter den älteren Mustern von den Händlern bevorzugt wurde. Diese aber haben feine Fühlung mit den tausenden Kunden und wählen die Gegenstände, von welchen sie annehmen, daß sie gut „gehen“ werden. Sie haben wohl den oder jenen gehört, welcher sagte: „Meine Zimmer sind mir etwas dunkel!“ oder: „Ich möchte doch eine etwas kleinere Zeichnung auf der Tapete haben, weil meine Bilder nicht gut auf den großen Blumen aussehen!“ oder: „Wenn nur eine frischere, lustigere Tapete für mein Boudoir zu finden wäre, etwa Streublumen auf Silbergrau!“

Alle diese Wünsche des Publikums sammeln sich im Gedächtniß des Händlers, auf Grund dieser wählt und bestellt er nach den vorgelegten Mustern. In den Berichten der Reisenden heißt es dann: „Helle Sachen, naturalistische Blumen wurden gefragt. Tieffarbige Stilmuster sind weniger gewünscht“ etc.

Alle Berichte, namentlich aber die Zusammenstellung der am meisten bestellten neuen Muster sprechen dann eine für den geschickten Fabrikanten und Musterzeichner sehr verständliche Sprache. Er erkennt deutlich, wohin der Zug der Zeit geht, welche Geschmacksrichtung unter den vorgelegten Arbeiten bevorzugt wurde. Nun heißt es, „Ersatz“ für die bevorzugten Muster schaffen, das heißt: neue Muster entwerfen, welche den bevorzugten alten verwandt sind, aber womöglich jene Eigenschaften in höherem Maße besitzen, durch welche die früheren beliebt wurden.

Die Feinheit des Musterzeichners muß sich nun bekunden. Er muß etwas Neues schaffen, das vom Alten sich nicht zu plötzlich entfernt und den Geschmacksandeutungen entspricht, welche das Publikum durch den Kauf bestimmter Ware gab. Er muß mit vorsichtiger Hand das Publikum leiten, indem er ihm doch den Zügel läßt. Er muß schaffen, was die Menge will, aber dabei sie zum Schönen hinführen. Was nützte es ihm, schaffte er das herrlichste Muster, das niemand kauft, es bliebe wie ein im Schreibtisch verborgenes Gedicht – zwecklose, verlorene Mühe! Der Maler, Bildhauer oder Musiker soll seine Gebilde frei aus sich schaffen, sie sollen ein reiner Widerhall seiner künstlerischen Stimmung sein, selbst wenn die Menge das Werk ablehnen sollte. Der Musterzeichner dagegen arbeitet für den Absatz. Er schafft völlig zwecklos, wenn seine Zeichnungen den Geschmack der Abnehmer nicht treffen. Er muß sich der Mode anbequemen. Aber indem er die Grundstimmung der Mode ausnutzt, muß er sie zum Guten führen lernen. Dazu gehört eine große Biegsamkeit des Geistes und eine feine Stilempfindung, ein tüchtig geschultes Künstlerthum.

Nach einigen Monaten hat der Fabrikant die neuen Musterentwürfe in sauberer Gouachemalerei vor sich. Der Laie vermag nicht zu erkennen, daß es nicht Abschnitte aus fertigen Tapeten sind, sondern Handmalereien, die der Musterzeichner vorlegt. Nun werden die Zeichnungen für den Druck in Holz gestochen und dann erhält ein Künstler diese „Stöcke“, um die „Karte zu kolorieren“. Dasselbe Muster wird in den verschiedensten Farbenzusammenstellungen benutzt. Es gilt nun, durch geschickte Wahl der Töne das Muster möglichst reich erscheinen zu lassen, damit mit wenig Druckplatten eine große Wirkung erzielt werde. „Ein Zweidruck muß den Eindruck eines Dreidrucks machen!“ sagt der Witz der Werkstätte.

Endlich ziehen die Musterkarten wieder auf die Reise. Nun zeigt sich, ob Fabrikant und Musterzeichner richtig gerechnet haben, ob sie trafen, was der Geschmack wünscht, ob sie in enge Fühlung mit der kaufenden Menge traten.

„Grade so habe ich es mir gedacht!“ so soll der Kunde sagen, wenn das Muster kommt.

Er soll die Tapete mit Freude an sich nehmen, weil sie den Ausdruck eines unklaren Wunsches bildet, der in ihm lebte. Denn in uns wandelt sich der Geschmack unaufhörlich, und zwar nicht bei jedem einzelnen in besonderer Richtung, sondern nach großen gemeinschaftlichen Gesetzen. Wer diesen Geschmack trifft, dem ist der Absatz sicher. Auch hier ist erst die zweite Frage: sind die neuen Erzeugnisse wirklich eine Verbesserung der alten? Das wird man erst nach Jahrzehnten zu entscheiden vermögen. Jetzt kommt es darauf an, sich klar zu werden, daß das schönste gewerbliche Erzeugniß, namentlich dasjenige, welches die Maschine in Tausenden von Wiederholungen anfertigt, uns nach und nach zu ermüden beginnt, daß es veraltet, und daß das Neue uns stets

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 698. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_698.jpg&oldid=- (Version vom 30.12.2022)