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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Prinzessin Sophie in der Zukunft einst berufen sein wird, eine schöne, blühende, elegante Stadt, die vielfach an die kleinen deutschen Residenzen erinnert. Südliches Gepräge trägt die umgebende Landschaft mit ihren silberglänzenden Olivenbäumen; auf Schritt und Tritt stoßen wir auf ehrwürdige Trümmer einer großen Vergangenheit, deren bedeutendstes Denkmal, die Akropolis, mit der goldig glänzenden Patina ihrer Marmormassen stattlich in den blauen Himmel ragt; außerordentlich bewegtes Leben herrscht in den Straßen; an allen Ecken öffnen sich Kaffeehäuser, in denen man den köstlichen orientalischen Trank schlürft oder die landesüblichen Süßigkeiten verzehrt. Handwerker und Geldwechsler betreiben lärmend ihr Geschäft auf der Straße; Ausrufer bieten in den unglaublichsten Tönen Obst, Gemüse, Milch, Fische, Lämmer zum Kaufe an; Todte, nach Möglichkeit reich gekleidet und geschmückt, werden im offenen Sarge und begleitet von dem eigenthümlichen Gesang der griechischen Priester zu Grabe getragen; bei den Säulen des olympischen Zeus oder beim Theseion führen Männer ihre eigenartigen Nationaltänze aus; kleine Jungen, die man „Lustro“ nennt, umdrängen uns, das Schuhwerk und die Kleider von dem in der wasserarmen Stadt beständig herrschenden Staub zu befreien; Fremdartiges, wohin man blickt – und doch vermag man die Erinnerung an irgend eine kleine deutsche Residenz nicht loszuwerden.

Diese Empfindung erklärt sich, wenn man bedenkt, daß deutsche Baukünstler es waren, die unter den Augen König Ludwigs I. von Bayern die ersten Pläne zum Wiederaufbau der Stadt entwarfen, in die sein Sohn Otto als König einziehen sollte; und sie wird noch erhöht durch die breiten wohlbehaltenen Straßen, durch die netten kleinen Gärtchen vor den Häusern, die oft, wie z. B. das stattliche Heim des großen Entdeckers Schliemann, aus dem edlen Marmor des Pentelikon erbaut sind, durch den Anblick der lustig daherfahrenden Straßenbahnwagen, auf denen sich nur die schlanke Gestalt irgend eines Palikaren in weißer Fustanella und kurzer gestickter Jacke befremdlich ausnimmt.

So ist schon der äußere Eindruck, den die Stadt macht, ein angenehmer; im Verkehr mit der Bevölkerung aber steigert sich derselbe noch sehr wesentlich. Denn der Grieche ist liebenswürdig und ritterlich, von musterhafter Beschränkung beim Essen und Trinken, ebenso frei von stumpfsinniger Gleichgültigkeit wie von unangenehmer Zudringlichkeit, aufgeweckt und voll Theilnahme für alles, was Fortschritt und Bildung bedeutet. Dabei zeichnet ihn ein manchmal wirklich rührender Familiensinn aus. Zerfahrene Familienverhältnisse sind ihm etwas ganz Fremdes, und der Fall, daß ein Theil der Familie sich in einer guten Lage befindet, indeß der andere mit Mangel und Entbehrungen kämpft, ist einfach undenkbar. Die Sorge für die Seinen erscheint dem Griechen als die heiligste Pflicht; stirbt der Vater oder ist er nicht mehr imstande, die Familie zu erhalten, so übernehmen es die Söhne, für Mutter und Schwestern zu sorgen; fehlen diese oder können auch sie nicht helfen, so treten des Vaters Brüder oder die Gatten der etwa verheiratheten Töchter in die Lücke. Auch wird sich der Bruder nur in den allerseltensten Fällen vor der Schwester verheirathen und namentlich in mittellosen Famlien dies nie und nimmermehr thun, bevor er nicht die „Prika“, die Aussteuer, für die Schwester erworben hat. Aber selbst in reichen Häusern kommt es oft vor, daß ein Bruder unverheirathet bleibt, damit die ledige Schwester des natürlichen Beschützers nicht entbehre.

Trotzdem ist die Stellung der Frau in den niederen Volksklassen und im Mittelstande, soweit man in Griechenland von einem solchen reden kann, unbedeutend und verschwindend; in der Gesellschaft dagegen allerdings einflußreich und maßgebend. Der Grieche der unteren Klassen ist wie in so vielem anderen der Auffassung der Alten auch in Bezug auf die Frau treu geblieben: er sieht in ihr nicht die gleichberechtigte Lebensgenossin, sondern nur die Hausfrau und Mutter, deren Aufgabe es ist, im Hause zu schaffen und zu sorgen, die über diese Grenze weder hinausgehen kann, noch darf und der seine persönlichen Angelegenheiten mitzutheilen er nie für nothwendig findet. Auch die zur Zeit der Türkenherrschaft unwillkürlich angenommene Sitte, die Frauen zu Hause zu halten, wirkt in den unteren Klassen noch stark fort, und man wird z. B. nirgends in Griechenland ein Dienstmädchen bekommen, welches bereit wäre, nach dem Markte einkaufen zu gehen, eine Aufgabe, die stets dem in allen besseren Häusern nothwendigen Bedienten, einem Mittelding zwischen Koch und Kammerdiener, zufällt. Ebenso sieht man in der Hermesstraße, der eleganten Hauptverkehrsader Athens, bei den Konzerten der sehr guten griechischen Militärmusiken vor dem königlichen Schloß oder auf einem der großen Plätze der Stadt fast nur Männer. In der Fustanella oder den außerordentlich weiten, sackähnlichen Beinkleidern, welche die griechischen Inselbewohner kennzeichnen, oder auch in irgend einem der meist aus Italien fertig eingeführten Anzüge gehen sie auf und ab, vom Geschäfte oder von der Politik redend, oder sitzen vor einem Kaffeehause, selten aber erblickt man Frauen aus dem Volke.

Anders ist die Stellung, welche die Frauen der vornehmen Gesellschaft einnehmen. Sie spielen, an Bildung und Eleganz auch den verwöhntesten Ansprüchen genügend, wie bemerkt, eine tonangebende Rolle und das gesellschaftliche Leben ist infolge dessen in Athen sehr angenehm; doch kommt es auch da schwer zu einem vertraulichen Verkehr, weil man, außer an den wöchentlichen Empfangstagen der Damen, ohne Einladung keine Besuche zu machen pflegt und die Veranstaltung kleiner gemüthlicher Abende nicht gebräuchlich ist.

Die Damen der Gesellschaft genießen auch noch einen andern Vortheil. Sie sprechen, in den meisten Fällen wenigstens, bei der Wahl ihres Gatten mit. Liebesheirathen sind zwar auch in den Kreisen der großen Welt selten und meistens werden die Verbindungen von Freunden und Verwandten, welche auf die Versorgung der jungen Mädchen bedacht sind, gemacht; dennoch bleibt dem weiblichen Theile wenigstens das Einspruchsrecht. Im Mittelstande und in den breiten Schichten des Volkes dagegen, wo die Frage der Versorgung noch viel schärfer hervortritt, werden die Mädchen gewöhnlich gar nicht gefragt, und es kommt vor, daß die Braut ihren künftigen Gatten erst am Verlobungstage kennen lernt. Trotzdem ist das Familienleben musterhaft, man hört niemals, daß sich ein Grieche Rohheiten gegen Frau oder Kinder, eine griechische Frau Anstößiges zu Schulden kommen läßt.

Von einem Mittelstande in unserem Sinne läßt sich, wie gesagt, in Griechenland kaum reden. Denn es fehlt ihm namentlich jenes geistige Bindemittel, welches in anderen Ländern seine Stärke ausmacht, und so ist der Uebergang von den ärmeren Klassen der Bevölkerung zu den Vornehmen nur lückenhaft vermittelt. Diese letzteren setzen sich zusammen aus den „Phanarioten“, den Nachkommen jener Griechen, die während der türkischen Herrschaft nach Konstantinopel auswanderten, sich dort in der Nähe des Phanarthores niederließen, zu Ansehen und Macht gelangten und schließlich, als der Kampf der Befreiung losbrach, alles aufs Spiel setzten, um in diesem ihren Mann zu stellen; aus den Kindern und Enkeln der vom Volke selbst während des Aufstandes emporgehobenen Führer; endlich aus der reichen Finanzwelt, dem diplomatischen Corps und einigen anderen Fremden von Bedeutung.

Ein hervortretender Zug der Griechen aller Klassen ist ihr Drang nach Wissen und Bildung. Während die Kinder reicher Eltern „in Europa“, wie man in Griechenland zu sagen pflegt, namentlich in Deutschland und Frankreich, ihre Erziehung und Ausbildung erhalten, benutzen die Minderbemittelten, deren Beispiel übrigens schon vielfach auch von den Reichen befolgt wird, die ausgezeichneten inländischen Bildungsanstalten. Sehr oft verdingt sich solch ein junger Grieche gegen Kost und Wohnung als Diener unter der Bedingung, daß man ihm die zum Schulbesuche und zur häuslichen Arbeit erforderliche Zeit freilasse! Bezeichnend für die Bildungssucht der Neugriechen ist es, daß die Universität Athen, welche bei ihrer Gründung 1839 50 Hörer hatte, heute deren 4000 zählt; und diese alle genießen, wie die Zöglinge sämmtlicher Mittel- und Volksschulen, gänzlich unentgeltlichen Unterricht.

Bei einer Bevölkerung von über 2 000 000 Seelen hat Griechenland ungefähr 1600 Volksschulen, an 180 sogenannte „hellenische Schulen“, die unseren Untergymnasien, an 30 Gymnasien, die unseren Obergymnasien entsprechen, und es bestehen, abgesehen von zahlreichen kleineren Lehranstalten, neben der Universität noch eine technische Schule, eine Lehrerbildungsanstalt, eine Ackerbauschule, eine nautische Akademie, ein Kadettenhaus, ein theologisches Seminar und ein großes Mädchenlyceum. Beachtenswerth ist, daß ein guter Theil dieser Anstalten aus Spenden und Vermächtnissen von Privatleuten erhalten wird, wie denn der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 715. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_715.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)