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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

die Ferne bis dahin, wo im Abendglanze der Fluß blinkte; ganz drüben, den Horizont abschneidend, ragte im blauen Nebelduft, jetzt wie mit einem halb durchsichtigen Purpurmantel zugedeckt, ein Gebirgszug, und mir ward es so recht Eichendorffisch zu Muth, als plötzlich, ich ahnte nicht woher, sanfte ferne Glockenklänge an mein Ohr schlugen:

„Es redet trunken die Ferne
Wie von künftigem, großem Glück!“

Es sollte mir ja auch kommen! Und bald schon. Es verging kein Tag, daß ich nicht mit Spaten und Botanisiertrommel und in hohen Stiefeln hinauszog, sobald meine Arbeit gethan war, begleitet von zwei lieben, prächtigen Jungen, die voll Freude mit mir wanderten. Aber mein Rhus fand ich nicht, es wollte auch niemand etwas davon wissen, und ich fing schon an, innerlich weidlich auf die Herren Stubengelehrten und Federfuchser mit ihren unhaltbaren Angaben zu schelten.

Müde und hungrig waren wir eines Abends heimgekehrt. „Wieder nichts?“ fragte Herr von Mittelstein, von seiner Schreiberei aufstehend.

Ich verneinte.

„Wissen Sie,“ sagte er nach einer Weile, „so zwingen Sie’s nicht. Auf die Aussagen der Dienstleute können Sie nichts geben; die gehen zu stumpf an allem vorbei. Ich selbst bin kein Jäger und strolche nicht genug im Walde umher. Aber ich möchte Ihnen rathen, machen Sie Bekanntschaften rundumher und fragen Sie die aufgeweckteren Um- und Anwohner aus. Ich interessiere mich selbst für die Sache, nach dem, was Sie mir davon erzählen, und würde mich freuen, wenn Sie so oder anders zum Ziel kämen. Sagen Sie, können Sie reiten?“

Ich konnte reiten. Ich hatte als „Einjähriger“ bei der Kavallerie gestanden.

„Das ist gut!“ fuhr der treffliche Mann fort. „Denn die hiesigen Wege sind vielfach für Fußgänger zu weit. Vor allem rathe ich Ihnen, in Wulfshagen einen Besuch zu machen; der Pächter und seine Familie sind tüchtige Leute. Er selbst hat allerhand Kenntnisse und kann Ihnen vielleicht Auskunft geben. Dahin können Sie übrigens in einer starken Stunde auch zu Fuß kommen; der Erlenbach bildet die Grenze zwischen ihm und mir, ziemlich genau in der Mitte des Weges, da, wo das Tannenwäldchen beginnt.“

„Eine Frage, Herr Baron! Woher kommen die räthselhaften Glockentöne morgens und abends, die doch unmöglich aus Klein-Sülzach herüberklingen können? Ich wollte mich schon immer einmal erkundigen.“

Er lachte. „Ja, das wundert alle Fremden. Folgen Sie nur einmal dem Fußsteig, der dort am Bach entlang führt, bis zu dem Hügel nahe am Hellmühler Holz; er liegt ziemlich in der Mitte zwischen Wulfshagen und Mittelstein; da werden Sie schon sehen, woher das Läuten kommt. Im Winter muß nach uralter Bestimmung Herr Erhard, im Sommer ich den Läuter stellen. Die Leute wollen nicht gern hinüber. Es ist ein dummer Aberglaube damit verknüpft: sie behaupten, sie würden krank vom Läuten, und den Grund suchen sie natürlich in übernatürlichen Einwirkungen.“

„Sind denn einmal wirkliche Erkrankungen vorgekommen?“

„Eine Art Nesselfieber war hier einmal im Gang; sie hätten’s freilich hier im Stall so gut bekommen wie dort beim Glockenstuhl. Aber es giebt doch immer saure Gesichter, wenn die Reihe an uns kommt.“ –

Es war ein schöner, klarer Tag Ende September, da ritt ich hinüber nach Wulfshagen und bald sah ich das große Gehöft vor mir liegen – lauter neue Gebäude mit rothen Dächern; hinter dem Hause ein großer Garten mit einzelnen alten Bäumen. Als ich zwischen den beiden langen Scheunen hindurch auf den Hof ritt, sprang aus der Thür des niedrigen Wohnhauses ein weißer Spitz und kläffte aus Leibeskräften. Darauf erschien unter der Thür eine wahre Hünengestalt, ein Mann von mächtigen Schultern und mit langherabwallendem blonden Barte. Bequem und etwas breitspurig stand er da, die Hände auf dem Rücken. Ich grüßte.

„Willkommen, Herr Kandidat!“ schallte es tiefstimmig und freundlich mir entgegen; und der Klang, der in dieser Stimme lag, sprach warm zu meinem Herzen vom ersten Augenblick an.

Ich gab mein Pferd ab und trat ein. Seine ungeheure Hand hielt und schüttelte die meine.

„Recht von Ihnen, daß Sie gekommen sind; haben Sie schon erwartet, und wenn Sie sich hier ganz zu Hause fühlen, dann soll’s uns herzliche Freude sein.“

Die Thür that sich auf, eine hübsche, stattliche junge Frau sah aus munteren hellen Augen auf mich, und zwei kleine Mädchen von acht und zehn Jahren etwa reichten mir bescheiden knixend die Hand. Ich war keine Minute fremd da im Hause; vom ersten Augenblick an – ja, wirklich und wörtlich: vom ersten Blick der Augen an – war ich dort heimisch und wäre es gewesen und geblieben mein lebenlang auch ohne die Erscheinung des Fräuleins, die nach einer Weile in die Thür trat, das Kaffeebrett mit klirrenden Tassen in den Händen. War ich an dem Tage gerade besonders veranlagt für plötzlich durchschlagende Eindrücke, oder war’s die wenigstens für mich und meinen Geschmack überwältigende Macht ihrer reizenden Erscheinung: ich sprang auf aus meiner Sofaecke und blickte dem jungen Mädchen wie gebannt in die glänzenden Augen. Es hilft nichts, ich muß es eingestehen, ob ich will oder nicht: ich war verliebt, gründlich verliebt von Stund an in Gertrud, und wenn ihre junge Seele in dem Augenblick gleich ebenso gefangen gewesen wäre, dann hätt’ ich zur selben Stunde fragen können: „Willst Du mein ganzes Lebensglück sein?“ und sie hätte mir beide Hände gegeben und wir wären der Erde seligstes Brautpaar gewesen, so unklug eine solche Verlobung auch in den Augen bedächtiger Leute hätte scheinen mögen.

Ich sehe sie noch da am Tische stehen im einfachen dunkelgrauen Kleid, schlank und voll, eine Masse blonden Haares auf dem Kopfe; ein wunderbarer Glanz leuchtete aus den klugen Mädchenaugen, in denen sich eine ganze Welt von Frohsinn, Vertrauen und Herzensgüte spiegelte. Mit einem Wort: „den Mann hatte es!“

Und daß ich’s kurz mache: den Mann ließ es auch nicht wieder los. – –

Es war ein paar Wochen später. Ich bat wieder einmal um das Pferd, um hinüberzureiten zum Erntefest nach Wulfshagen.

„Na, hören Sie ’mal,“ lachte Herr von Mittelstein, „meine Empfehlung der Familie scheint bei Ihnen geholfen zu haben. Seien Sie ’mal aufrichtig: ist es mehr der Umgang mit Herrn und Frau Erhard, der Sie so anzieht, oder ist es die schöne Erzieherin, das blonde Fräulein Zorn? Ein Prachtmädel!“

Ich muß sehr roth geworden sein. Er klopfte mir leicht auf die Schulter.

„Na, sagen wir: sie ist der Thau in der Rose! Reiten Sie mit Gott und grüßen Sie mir die Erhards!“

Langsam ritt ich durch den trüben Oktobernachmittag dahin. In mir war eitel Sonnenschein. Ich war gefangen, gebunden, davongeführt, fertig! Ich war vollständig unfähig, mir mein weiteres Leben ohne Gertrud zu denken. Wir hatten uns einen Leseabend eingerichtet auf Wulfshagen, nur die Familie und ich. Er, Erhard, saß im Sofa und rauchte langsam und bedächtig aus seiner langen Pfeife; Frau Hedwig, Gertrud und ich lösten uns ab im Vorlesen. Frau Hedwig mit ihren klaren grauen Augen, ihrer wohlklingenden Stimme, ihrer frauenhaften Herzlichkeit und Heiterkeit war eine deutsche Hausfrau, die in einem feinen und reinen Herzen jeden Sonnenstrahl fing, der aus unserm Buch aufblitzte; Gertrud ein Modell für einen Maler, wie der Lichtschein auf ihrem Blondhaar und dem lebhaften, ausdrucksvollen Gesicht lag, dessen weiche feine Züge so leicht und klar jeglichen Eindruck wiederspiegelten, den ihre junge Seele empfand. – Aber es konnte nur immer eines lesen. Und damit die andern nicht allzu sehr in aufhorchende Trägheit versänken, sondern gleichzeitig auch bescheidenen Nutzen schaffen möchten, hatte die energische Frau Hedwig gleich am ersten Abend lachend einen großen Sack voll trockener unausgehülster Bohnen in die Stube getragen und neben den Tisch hingestellt, und nun war es Aufgabe der beiden Hörenden, die Bohnen auszubrechen.

Frau Hedwig, trefflichste und anmuthvollste der Frauen – und auch eine kluge, scharfblickende Frau warst du zugleich – aber das hättest du nicht thun sollen! Wußtest du nicht, daß es gefährlich sein mußte für zwei junge, feurige, ungepanzerte und unbewaffnete Herzen, wenn ihre Hände unter der deckenden Hülle des Sackleinens sich begegneten? – begegnen mußten, um zuerst scheu auseinander zu fahren, und um wieder zusammenzukommen, als wäre nichts geschehen; zwei junge, warme, feinfühlige Hände, zurückzuckend und wieder langsam sich vorwagend, behutsam tastend und gleichsam alles leugnend, wie mit eigenem,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 720. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_720.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)