Seite:Die Gartenlaube (1889) 743.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

solchen Verzicht anzunehmen. Und so zart und schwach sie auch sonst war, in ihrer Liebe fand sie den Muth, dem eisernen Willen ihres in seinem Stolze unbeugsamen Vaters zu trotzen. Er verschloß ihr die Thür des Elternhauses und sagte sich für immer von ihr los. Sie aber flüchtete sich an meine Brust und wurde mein Weib. Von der Mühsal und Plage, die ich ihr als Ersatz für das verlorene Glück zu bieten hatte, hast Du ja selber ein gut Theil mit angesehen; aber sie wußte es allezeit wie eine Heldin zu ertragen. Niemals hat sie es mich entgelten lassen, daß mir die vermeintlichen Adlerschwingen schon beim ersten Anlauf versagten, und geduldig hat sie sich darein gefunden, daß ich mein Leben lang blieb, was ich gewesen war, ein kleiner, schlecht bezahlter Musiklehrer, den niemand kannte und von dem niemand sprach.“

Mit tiefer Bewegung hatte Gerhard den wehmüthigen Erinnerungen des Kranken gelauscht.

„Und doch hattest Du hundertmal mehr Anspruch auf Ehre und Erfolg als die meisten von denen, deren Namen heute in aller Munde sind.“

Ein trauriges Lächeln glitt über Bernhardis Züge.

„Du meinst es gut mit mir, Gerhard; aber warum sollte ich mich noch auf meinem Sterbebette betrügen? Ich war nicht geschaffen für den harten Kampf ums Dasein, und an meiner Schwäche mußte leider auch mein armes Weib zu Grunde gehen. Sie starb dahin wie eine Blume, die wir am frühen Morgen verwelkt finden, nachdem sie uns noch am Abend zuvor mit ihrem Duft erfreut hat. Der Kummer und die Sehnsucht nach ihrem norwegischen Vaterhause hatten sie langsam verzehrt. Nach ihrem Tode fand ich in einem Tagebuche Aufzeichnungen, die mit nur zu deutlicher Beredsamkeit davon sprachen. Ich hielt Herrn Christoph Ulwes Zorn nicht für so hartnäckig, daß er selbst das Grab überdauern würde. Aber ich hatte mich darin getäuscht, denn auf meine Anzeige von Astrids Hinscheiden erhielt ich keine Antwort. Da gelobte ich mir feierlich, daß der reiche Handelsherr auch für mich künftighin todt sein solle. Doch ich habe nie in meinem Leben Charakterfestigkeit genug gehabt, solche Gelöbnisse, die ich mir selber abgelegt hatte, zu halten. Als ich mich vor wenigen Wochen plötzlich so unbeschreiblich matt und hinfällig zu fühlen begann und als mir der Arzt auf mein dringendes Befragen zögernd erklärte, es möchte nun wohl für mich an der Zeit sein, meine irdischen Angelegenheiten ins Reine zu bringen, da mußte ich mir wohl die Frage vorlegen: was soll nach meinem Tode aus Astrid werden? Wer soll sich ihrer annehmen, um sie vor den Sorgen und Gefahren des Lebens zu schützen? Und wie ich auch sann und grübelte, es wollte mir doch kein anderer einfallen als Christoph Ulwe, mein Schwiegervater. Noch einmal schrieb ich an ihn, demüthiger und bescheidener als je zuvor. Ich schilderte ihm meine Lage und bat ihn mit den herzbeweglichsten Worten, die mir zur Verfügung standen, sich nach meinem Tode seines armen, unschuldigen Enkelkindes anzunehmen. Lange harrte ich vergebens auf seine Antwort – gestern endlich ist sie gekommen. Und willst Du wissen, wie sie lautet? Da ist sie!“

Mit zitternder Hand zog Bernhardi unter seinem Kopfkissen ein Briefblatt hervor. Es war zerknittert und die Schrift war hier und da verwischt – vielleicht von den Thränen des armen Mannes, an den dies unbarmherzige Schreiben gerichtet war. Gerhard aber las:

„An den Musiklehrer Herrn Bernhardi in Berlin.

In Erwiderung Ihres Schreibens vom 4. dieses theile ich Ihnen mit, daß ich irgend welche verwandtschaftlichen Beziehungen zu Ihnen und Ihrer Tochter nicht anerkennen und demgemäß gegen diese Tochter auch keinerlei Verpflichtungen übernehmen kann. Mit dem Hinzufügen, daß mir meine Zeit nicht gestattet, etwaige weitere Briefe oder Bittgesuche zu beantworten, zeichne ich

Christoph Ulwe.“ 

„Welch eine empörende Hartherzigkeit!“ rief der Künstler mit ungeheuchelter Entrüstung. „Aber wozu bedarf es auch dieser gefühllosen norwegischen Krämerseele! Du wirst nicht sterben, und wenn uns dereinst dieser schwere Schlag dennoch treffen sollte, so wird es Astrid wahrlich nicht an dem Beistand eines aufrichtigen Freundes fehlen! Niemand hat ein heiligeres Anrecht darauf, für sie zu sorgen, als ich! Ich verdanke Dir mehr als einem Vater, und darum ist es nur natürlich, daß ich alle Pflichten eines Bruders gegen Astrid übernehme!“

Die leuchtenden Augen des Kranken hatten ihm die Worte fast von den Lippen getrunken. Er richtete sich in eine sitzende Stellung auf und legte beide Hände auf die Schultern des jungen Mannes.

„Willst Du mir das feierlich geloben, Gerhard? Willst Du mir schwören, daß Du sie niemals, niemals verlassen wirst, was auch immer geschehen möge?“

Feierlich hob Gerhard seine Rechte empor, und der tiefe Ernst eines heiligen Entschlusses lag auf seinem schönen Gesicht, als er erwiderte: „Ich schwöre Dir’s, Meister! – Ich werde sie niemals verlassen!“

Noch ehe Bernhardi imstande gewesen war, ihm zu danken, wurde ihr ernstes Gespräch durch den Wiedereintritt Astrids beendet. Rasch verbarg Gerhard den Brief des norwegischen Handelsherrn, den er noch immer in der Hand hielt, in der Brusttasche seines Rockes, und mit einer Leichtigkeit und Gewandtheit, welche den vollendeten Weltmann verrieth, lenkte er die Unterhaltung auf andere, fröhlichere Dinge.

Vielleicht war es mit Rücksicht auf das feierliche Versprechen, welches er soeben abgelegt hatte, nur natürlich, daß seine Blicke jetzt aufmerksamer als vorhin auf Astrids schlanker Gestalt und auf ihrem schönen Antlitz ruhten. Er hatte das junge Mädchen ja seit den frühen Tagen seiner Kindheit gekannt, und vielleicht erklärte es sich gerade daraus, daß ihm ihre zarte, eigenartige Schönheit niemals so recht zum Bewußtsein gekommen war.

Er bemerkte sie jetzt wie etwas ganz Neues, Ueberraschendes, und er fand plötzlich ein bisher ungekanntes Vergnügen darin, Astrid zu betrachten und jede ihrer zierlichen, geschmeidigen Bewegungen mit den Blicken zu verfolgen. Das junge Mädchen aber schien die ungewöhnliche Aufmerksamkeit des Pflegebruders wie etwas Bedrückendes und Peinigendes zu empfinden. Sie bemühte sich, seinen Blicken auszuweichen, und sie vermied es mit unverkennbarer Absichtlichkeit, ihm nahe zu kommen. So war trotz der guten Laune Gerhards ihr Beisammensein kein unbefangenes und erfreuendes. Als die alte schwarzwälder Uhr in der Zimmerecke nach einer Weile zum Schlage aushob, zog auch der elegante Besucher seine goldene Taschenuhr.

„Schon drei Uhr!“ sagte er wie in unangenehmer Ueberraschung. „Wie bedauerlich, daß ich gezwungen bin, Euch schon zu verlassen! Ich habe eine Verabredung, der ich mich ohne empfindliche Nachtheile nicht entziehen kann. Aber ich werde natürlich sehr bald, sicherlich schon morgen wiederkommen, und Ihr sollt Euch nicht von neuem über meine Undankbarkeit beklagen müssen.“

Er verabschiedete sich von dem Kranken, und er behielt Astrids feine, kühle Hand länger als gewöhnlich in der seinigen.

„Auf Wiedersehen, mein liebes Schwesterchen! Behalte den Kopf hübsch oben und sei mir vor allem nicht allzu fleißig! Solche Arbeiten wie diese da“ – und er deutete auf die kunstvolle Stickerei – „sehe ich nicht gern in den Händen einer jungen Dame; denn ich habe mir sagen lassen, daß sie der Gesundheit nicht eben förderlich seien. Du solltest Dir eine andere Liebhaberei aussuchen, Astrid.“

„Es ist keine Liebhaberei!“ erwiderte sie ruhig. „Ich fertige diese Arbeiten gegen Bezahlung für ein Geschäft.“

Gerhard wurde roth, und seine Hand zuckte unwillkürlich nach der Stelle, wo er seine Brieftasche trug. Da begegneten seine Augen dem voll auf ihn gerichteten Blick Astrids, und es mußte etwas in diesem Blick gewesen sein, was ihn bestimmte, von der Ausführung seiner Absicht abzustehen.

„Das ist freilich etwas anderes!“ sagte er, seine Verlegenheit nur mühsam verbergend. „Und ich denke doch, das wird nur eine vorübergehende Thätigkeit sein! Auf Wiedersehen also! Auf baldiges Wiedersehen!“

Sie begleitete ihn diesmal nicht in das Vorzimmer hinaus, und sie erwiderte seinen Abschiedsgruß so leise, daß Gerhard sie fast befremdet ansah. Als er gegangen war, eilte sie wieder an das Bett des Vaters und drückte ihr Antlitz neben das seinige in das Kissen. Der Kranke legte seinen müden, kraftlosen Arm um ihren Nacken und flüsterte dicht vor ihrem Ohr:

„Er ist doch noch der gute, treue Junge von ehedem! Sei standhaft und guten Muthes, mein Kind! So lange er da ist, wirst Du nicht verlassen sein, auch wenn ich nicht mehr unter den Lebenden weile!“

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 743. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_743.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)