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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Sonntagen Wohlhabende und Unbegüterte, Gebildete und Ungebildete ungezwungen miteinander verkehren könnten, sich gegenseitig belehrend und helfend und die gefährliche Kluft zwischen den Klassen langsam vermindernd, ohne zum Besuch eines Wirthshauses und zum Geldausgeben genöthigt zu sein.

Es ist noch nicht ganz ein Jahr her, seit Victor Böhmert seinen Plan öffentlich vortrug; am 7. Dezember 1888 kam ein Häuflein Männer zusammen, um zu seiner Verwirklichung zu schreiten. Sie begründeten einen „Verein Volkswohl“, Böhmert trat an dessen Spitze; jetzt zählt der Verein bereits über 1500 Mitglieder, besitzt eine eigene Monatsschrift, hat zwei Volksheime und ein Mädchenheim für alleinstehende Arbeiterinnen begründet und in einigen anderen Dingen einen vielversprechenden Anfang gemacht.

Von den Volksheimen wurde das erste am 14. Februar eröffnet; es heißt „Maternihof“, wie die Wirthschaft, welche sich früher in denselben Räumen befand. Es liegt inmitten des bevölkertsten Theiles der Dresdener Altstadt, von vielen Fabriken aus leicht erreichbar. In seiner Ausstattung ist es von einem feineren Gasthause nicht verschieden. Wohl aber merkt man den Unterschied, wenn man auf dem Tische Wasserflaschen sieht, wenn man auf Aushängetafeln deutliche Inschriften liest, welche besagen daß niemand zum Verzehren gezwungen sei und daß Trinkgelder vom bedienenden Personale nicht angenommen werden. Auch hört man kein Kartenspiel mit seinem Austrumpfen, schallenden Lachen und Fluchen, keinen Streit; viele Gäste sind in Zeitungen oder Bücher, in Schach oder Damespiel vertieft und die übrigen nehmen darauf Rücksicht. Täglich verkehren in dem Heim durchschnittlich 200 Personen, 100 bis 130 essen dort für 25 Pfennig zu Mittag – Bier (einfaches) trinkt etwa ein Drittel der Einkehrenden. Es kommen wohlhabende, gebildete Leute, es kommen besonders junge und bildungsuchende Burschen und Männer, Handwerker und Fabrikarbeiter. Der einfache Mann, der zum erstenmal das Heim betritt, stutzt wohl über die feine Ausstattung, über die Blumen auf den Tischen und über die Bücherreihen, er wundert sich, daß kein dienstbeflissener Kellner sofort an ihn herantritt; bald aber fühlt er, daß er hier willkommen ist, daß er sich keinen Zwang aufzulegen braucht, insofern er sich anständig benimmt. Die Stammgäste ziehen ihn bald in die Geselligkeit des Heims hinein, es behagt ihm, daß er es hier sich wohl sein lassen kann, ohne die sauer verdienten Groschen draufgehen zu lassen, und so gewöhnt er sich gern die Kneipe ab. Ein besonderes Zimmer ist vorhanden für Vereins- und Unterrichtszwecke, hier halten Stenographen- und Gesangvereine an einigen Abenden der Woche ihre Uebungen ab, und im Winter werden hier geordnete Unterrichtskurse geboten.

Viel großartiger als der Maternihof ist das am 10. April eröffnete Volksheim „Paulinengarten“. Es trägt seinen Namen nach der Prinzessin Pauline von Schleswig-Holstein, welche Haus und Garten bis zu ihrem Tode (am 12. Dezember 1887) besaß. Der Garten ist einer der schönsten in Dresden, große Rasenflächen und schöne alte Bäume zieren ihn, besonders ist eine Platanengruppe berühmt, die ihre breiten Zweige über die Straße ausstreckt. Der Garten gehört jetzt dem Volke und den Kindern, zur Freude der Verwandten seiner ehemaligen Besitzerin, welche selbst eine herzliche Liebe zu einfachen Leuten und besonders zu Kindern hatte. Auch die Kaiserin Augusta Viktoria erkundigt sich gern nach dem Gedeihen des ihr wohlvertrauten Besitzthums.

In dem hinteren Theile des Gartens sind drei große Spielplätze eingerichtet, und viele Hunderte von kleinen Füßchen tummeln sich darauf. Zwei Stunden jeden Nachmittag wird unter Aufsicht gespielt; da kommen Lehrerinnen, Kindergärtnerinnen und andere Damen, die ihre Lust am Spiel von Kindern haben; da werden Gruppen gebildet: die einen spielen die „fleißigen Waschweiber“, die andern „das Erntefest“, die dritten fahren auf dem Schifflein durch das Meer, die vierten führen das Märchen vom Dornröschen auf. Auf einem besonderen Platze treiben die ganz Kleinen, die noch nicht an den Gesammtspielen theilnehmen können, ihr munteres Wesen. Sie spielen im hohen Sande, graben Löcher, bauen Dämme, backen Kuchen und schauen höchstens sehnsuchtsvoll zur Schaukel empor, die so unermüdlich vor- und rückwärts schwingt. Und mitten in diesem Kinderparadies sitzen die Mütter auf den Bänken und stricken und flicken und freuen sich an der Kleinen Jauchzen. Und wenn abends die Arbeit vorbei ist, kommen auch die Väter und setzen sich oft mit Frauen und Kindern zusammen zu einem einfachen Abendessen unter grünen Bäumen.

Die meisten Erwachsenen sitzen im vorderen Theile des Gartens und genießen von da die herrliche Aussicht auf die belebte Elbe, welche nur durch eine fruchtbare Wiese von ihnen getrennt ist, und auf die ersten Hügel der Sächsischen Schweiz, an deren Eingangspforte Loschwitz und Blasewitz freundlichen Gruß bieten. Hier unter den Platanen essen die Arbeiter einer nahen Fabrik und wer sonst zu einer ausgezeichneten Kost für 25 Pfennig Appetit hat, zu Mittag. Es haben schon Barone und Gräfinnen mitgegessen, und fürstlicher Besuch war mehr als einmal hier.

Die Mischung und Verbindung von Hohen und Niedrigen, Reichen und Armen, Lehrfähigen und Lernlustigen, welche Böhmert so eifrig anstrebt, hier wird sie sichtbare Thatsache. In den stillen Morgenstunden findet mancher Gebrechliche oder Genesende hierher seinen Weg und trinkt vielleicht ein Glas frischer Milch in der balsamischen Luft; nachmittags sind die Frauen hier, abends und Sonntags alle Stände und Lebensalter gleichermaßen.

Treten wir über den freundlichen Altan, an dessen Säulen sich wilder Wein zum Balkon emporrankt, in das Haus ein. Da sind zuerst zwei Zimmer für gesellige Unterhaltung, dann ein mit werthvollen Tapetenbildern versehenes Lesezimmer mit vielen Zeitungen, Zeitschriften und Büchern. Die Bücher sind alle geschenkt; ein Ausschuß des Vereins, der die Verbreitung guter Schriften und Bilder zur Aufgabe hat, stellte den Dresdener Bürgern vor, daß in manchem Hause viele gute Bücher unbenützt veralten und verstauben, die, wenn sie ärmeren Mitmenschen zugänglich gemacht würden, leicht ein Segen und Wegweiser zum Glück werden könnten. Als Antwort kamen viele Packete Bücher, bald war ein ganzes Zimmer voll davon; zumeist kamen die früheren Jahrgänge unserer illustrirten Zeitschriften, und gerade diese sind ja ebenso anziehend als leichtverständlich und lehrreich für die Leser, an die man bei Einrichtung solcher Bibliotheken denkt. Durch ein viertes Zimmer gehen wir hinauf in den Oberstock; dort ist die Geschäftsstelle des Vereins, ferner ein Zimmer für Vereins- und Unterrichtszwecke, das in den Wintermonaten jeden Abend besetzt ist, und ein großer Saal, in dem Vorträge, Konzerte, Unterhaltungsabende, Versammlungen abgehalten werden.

Prüfende Leser werden längst den Gedanken hegen: das ist alles recht wohl gemeint, aber kann es sich erhalten, decken die Einnahmen auch die Ausgaben? Von der Beantwortung dieser Fragen hängt allerdings das Urtheil über die „Volksheime“ wesentlich ab. Bedürfen sie eines regelmäßigen Zuschusses, so haben sie wahrscheinlich keine große Zukunft, obwohl sie auch dann in ihrer Eigenschaft als Musterwirthschaften Einfluß auf die öffentliche Meinung über das Wirthshauswesen üben können, und obwohl solcher Zuschuß von seiten reicher Bürger, besonders aber auch von seiten der Gemeinde wohl am Platze wäre; denn diese Anstalten dienen dem öffentlichen Wohle, der öffentlichen Gesundheit. Aber vermehren wird sich die Zahl dieser Anstalten doch nur in dem Verhältniß, als sie lernen, ohne Zuschuß zu arbeiten.

Ueber die finanzielle Lage der Dresdener Heime läßt sich noch kein endgültiges Urtheil fällen. Die Einrichtungskosten waren bedeutend, sie wurden aus den Geschenken freigebiger Dresdener bestritten. Aber man braucht nicht daran zu zweifeln, daß nach einiger Zeit sich die Volksheime selbst erhalten werden, theils von dem bescheidenen Gewinne an Speisen und Getränken, theils von den Jahresbeiträgen derjenigen, die ihretwegen in den Verein eintreten. Denn wenn auch jedermann als Gast in den Heimen willkommen ist, ein Recht zum regelmäßigen Besuch haben nur die Mitglieder des Vereins Volkswohl, die vierteljährlich wenigstens 50 Pfennig Beitrag zahlen müssen. Diese Beschränkung auf Mitglieder und die Forderung des kleinen Beitrags ist nothwendig; sonst würden die Anstalten bald eine Zuflucht für arbeitsscheue Bummler werden und die Gäste nicht das wahre Interesse an den Heimen nehmen, in denen sie doch nicht nur Besucher, sondern Freunde, Vereinsgenossen, gewissermaßen Mitbesitzer sein sollen.

Schon regt man sich in anderen Städten, nach dem Dresdener Vorbilde ähnliche Heime zu schaffen, so in Köln, Duisburg, Gera, Freiburg a. d. U., Freiburg i. B. und Bremen. Der „Verein Volkswohl“ in Halle baut bereits, derjenige in Leipzig hat sein Vereinshaus vor einigen Monaten eingeweiht. Wir hoffen, daß diese Anstalten sich vermehren und daß sie blühen und wachsen zum Heile unseres deutschen Volkes! Dr. Wilhelm Bode.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 763. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_763.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)