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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Krach, ein Ruck, ein Knistern, Brechen, Prasseln, alles auf einmal – unter uns wich der feste Boden, wir flogen durch die Luft – noch hielt ich Gertrud im Arm – dann ein harter Fall; nachher war’s, als wären wir in feuchtem, tiefem Laub begraben. Neben uns ein wüster, verzweifelter Kampf von Pferdebeinen, die in Trümmern arbeiteten, und das stöhnende Keuchen der zu Fall gekommenen Thiere.

Ich hob halbbetäubt den Kopf; dicht neben mir brannte noch schwälend eine losgeschlagene Wagenlaterne; ich griff danach und leuchtete Gertrud ins Gesicht; neben mir lag sie im tiefen welken Laub des Grabens; die schützende Hülle war ihr von Kopf und Nacken geglitten, das schöne, blonde Haar lag in wirren Strähnen um ihr marmorbleiches, von welken Blättern fast bedecktes Gesicht – ich neigte mich in namenloser Angst zu ihrem Munde, athmete sie? Ich horchte lange: endlich – ja! und ihre Augenlider zuckten ein wenig – Gott sei Dank!

Ich schob den schmerzenden Arm unter ihren Kopf und hob die Laterne, um weiter um mich zu schauen. Da sah ich Sternhagen drei Schritt von mir auf dem Gesicht liegen, die Hände weit vorgestreckt, die Füße im Laub des Grabens; sein Kopf lag hart an der blutbespritzten scharfen Kante des Pfahls, der die Tafel trug: „Hier erlegte am 27. August 1885 Graf Eberhard von Aller eine grobe Bache“ – am Geburtstag des Hingestreckten. Hier hatte ein anderer Schütze jetzt in furchtbarer Stunde ein edler Wild erlegt! Sternhagen starb in derselben Nacht, ohne zur Besinnung gekommen zu sein. –

Ohne Thränen stand Gertrud mit mir an seinem Todtenbett. Seit dem Augenblick, da sie erwacht war aus schwerer Ohnmacht, hatte sie kein Wort zu mir gesprochen. Jetzt sank sie am Sterbelager in die Kniee und verhüllte das Gesicht mit den Händen. Ich ging. Und ehe noch der Tag graute, klopfte ich an im Pächterhause zu Wulfshagen.


Die Glocke auf dem Friedhof hatte ausgeläutet. Sie hing, noch summend, unter ihrem Schutzdach im Stuhl, und der Glockenstrang schwankte hin und her im Winde. Der Herr von Finkenfelde und Kleinwulkow war mit großen Ehren zur Ruhe bestattet worden. Alle Leidtragenden waren vom Kirchhof gegangen. Nur ein Wagen hielt noch vor der Pforte, die wir so oft hatten klirren hören in den Tagen der Seligkeit, Gertrud und ich. Nur eine schlanke, blonde, schöne Frau, in tiefe Trauer gehüllt, stand noch am Grabe und schaute stumm und starr hinab auf den Sarg, an der Hand zwei blondlockige kleine Jungen, die noch nichts vom Leid des Lebens wußten. Und unter der Glocke stand ein einzelner Mann mit verbundenem Arm: das war ich.

Sie hob das blasse, liebe Gesicht und sah mich. Da warf sie einen letzten Blick ins Grab und kam langsam mit den Kindern auf mich zu. Sie reichte mir mit traurigem Lächeln die Hand. „Wann reisen Sie?“

„Heute abend!“

„Dann geleite Sie Gott in Ihr Heim!“

Unsere Hände lagen fest ineinander; wir tauschten einen langen, stummen Blick.

„Darf ich Dir schreiben, Gertrud?“ fragte ich.

„Ja!“

„Willst Du mir antworten?“

„Ja, Konrad!“

„Leb’ wohl!“

.„Gott segne und behüte Dich!“


Es war wieder Herbst. Ein wunderschöner Sommer war vergangen und wir hatten uns fleißig geschrieben, ganze Hefte und Bücher; immer länger wurden unsere Briefe – und es wehte durch sie hin der duftige, herzstärkende Hauch unseres zweiten Liebesfrühlings. Sehr kurz war nur mein letzter Brief: „Gertrud, darf ich kommen?“ Noch kürzer ihre Antwort: „Ja!“

Da waren wir wieder verlobt, und ich hob in stummer, übermächtiger Freude die Hände. Ich stand am Fenster und sah hinaus von meiner hohen Warte über das Meer, das im rothen Abendglanz weinfarben funkelte – und ich nahm Abschied von ihm: der einsame Vogel, der sein Nest unters Dach gebaut hatte, weil’s ihm unten zu laut und zu eng war – jetzt zog er zu Thal, jetzt hob er die Schwingen: hin zu ihr!

Zum drittenmal fuhr ich die altbekannte Straße entlang. Aber diesmal war der Herbsttag am stillsten, die Luft am duftigsten, die Sonne am hellsten!

Neben mir lag ein großer, prächtiger Todtenkranz – für Sternhagens Grab. Ich ließ den Wagen auf der Brücke am Grenzbach halten und wanderte langsam in Gedanken den schmalen Weg hinauf zum Friedhofshügel. Ich hatte nicht geschrieben, wann ich kommen würde. Wozu? Sie wartete mein – das war genug! Klirrend und kreischend ging die Thür; ich wanderte längs der Grabreihen bis dahin, wo jetzt ein dunkler Granitstein ragte auf dem Grabe dessen, der einst mir mein Glück gestohlen, geraubt – aber der es mir hatte wiedergeben müssen. Der Tod ist der große Schlichter im Streit, und es giebt keine Berufung gegen den Entscheid, den er gefällt hat, der große, allgewaltige Löser aller Fragen, an denen unser Herz und Verstand sich zermartert. Aber er hat nicht nur Trauerkränze, auch Kränze des Lebens in seiner Hand; und für den Kranz, den ich hier niederlege, senkt sich ein anderer Kranz von jungen Rosen auf Gertruds blonden Scheitel.

So dachte ich und legte das Blumengewinde nieder auf den Stein und hob das Auge; da saß sie auf der niedrigen Mauer, lichtumstrahlt, den Hut in der Hand, und sah mit wundersamem Lächeln auf mich. Ich that die Arme weit, weit auf – da kam sie eilend mit fliegendem Fuß den Gang herab – „Konrad, Konrad!“ Ich fing sie auf – stürmisch warf sie sich an mein Herz; die blauen Augen leuchteten, die rothen Lippen lachten und sie küßten mich: neun Jahre lagen zwischen unserm letzten Kuß und diesem! Und als sie hochathmend, ein seliges Weib, im Arm des seligen Mannes lehnte, der sie umfing, da sagte sie mit holdem Klang: „Wir haben doch einen gnädigen Gott gehabt!“

Ueber uns hing die Glocke. Wieder saßen wir auf dem Fußbalken – wie lange, das weiß ich nicht. Mein Kutscher war jedenfalls drüber eingeschlafen.

„Konrad, willst Du meine Kinder lieb haben?“ fragte sie leise.

„Wie mein eigen Blut!“

„Konrad, willst Du mich immer lieb haben, wie Du’s jetzt hast?“

„Nein; mehr, immer mehr; von Jahr zu Jahr wachsen wir mehr zusammen; nicht das erste Jahr ist das beste: die Flamme wächst, die Liebe wird vertieft; der Glaube an einander wird Erfahrung –“ und wieder küßte sie mich mit der Gluth der Jugend.

Die Kirchhofpforte klirrte; ein alter Mann kam herein; es war der mit dem Läuten Beauftragte. Wir gingen den Hügel hinab; Gertrud lehnte sich auf meinen Arm; hinter uns her hallten feierlich, friedlich die tiefen Glockenklänge, überm Feld verfliegend. – –




Blätter und Blüthen.

Gesundheitsregeln bei geistiger Arbeit. Dem menschlichen Körper kann man schon etwas zumuthen und dem Geiste noch mehr. So meinen viele und wüthen drauf los –– zu guten und auch schlechten Zwecken. Eine Zeit lang erträgt auch der Geist die Zumuthungen, bis er schwach wird und seine frühere Leistungsfähigkeit verliert. Dann will man ihm helfen, trinkt Phosphorwein, ißt Fische und wendet andere ähnliche Mittelchen an. Sie helfen natürlich nicht, und endlich muß zu dem Radikalmittel, dem „Ausspannen“, gegriffen werden.

Es ist schon viel über die Hygieine des Geistes geschrieben worden, namentlich seitdem das blasse Gespenst der Nervenschwäche bei uns umgeht. Aber trotzdem dürfte es jetzt an der Zeit sein, wieder einmal einige Gesundheitsregeln für geistige Arbeiter in Erinnerung zu bringen, da der Winter vor der Thür steht und für so viele die Zeit der Erholung in der freien Natur aufhört und die Arbeitszeit daheim oder im Bureau beginnt.

Gleichmäßige Reize ermüden uns und ebenso ermüdet auch das Gehirn rasch, wenn es anhaltend in einer und derselben Weise thätig ist. Darum gilt als erste Regel der Hirndiätetik, daß für genügende Abwechslung gesorgt werde.

Jedes Organ unseres Körpers bedarf nach der Arbeit einer Ruhepause, damit es sich erholen kann; auch dem Gehirn muß diese Erholung in genügendem Maße gewährt werden. Man findet sie nicht im Theater oder am Stammtisch in der Kneipe. Das ermüdete Gehirn erholt sich im Schlaf und darum muß der geistig Arbeitende in erster Linie für

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 771. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_771.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)