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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

geschlossen hatte, irgendwie zu beachten, und der Sanitätsrath sagte kurz: „An meiner Hingebung und an meinem Eifer soll es gewiß nicht fehlen, mein Herr! Das Gelingen aber steht in Gottes Hand!“ –

Einem sehr verständlichen Blick der Diakonissin gehorchend, verließ Gerhard das Zimmer. Er war hier in seiner Wohnung jetzt vollkommen überflüssig geworden, und er fühlte zudem erst jetzt, eine wie schwere Mattigkeit ihm auf Haupt und Gliedern lastete. Der Sanitätsrath hatte recht. Auch er bedurfte der Ruhe, wenn er sich die Klarheit seines Geistes und die Kraft seines Körpers erhalten wollte. Beide aber waren ihm kaum je zuvor dringender nöthig gewesen als in diesen schweren Tagen.


5.

Die frühe Dunkelheit des Wintertages war bereits hereingebrochen, als Gerhard in einem einfachen Hotelzimmer aus seinem langen, bleischweren Schlummer erwachte. Wirre und beängstigende Träume hatten ihn gegen das Ende desselben gequält, und er brauchte Minuten, um sich im Reiche der Wirklichkeit wieder zurecht zu finden. Während er seinen Anzug beendete, ging er mit sich selber zu Rathe, was nun zu beginnen sei. Der Zwiespalt in seinem Herzen, dem er durch jenes rasche Wort ein Ende zu machen geglaubt hatte, war durch dasselbe nur noch schärfer und peinigender geworden, und er war unzufrieden mit sich selbst, obwohl er sich vergebens immer wieder die Frage vorlegte, welcher andere Weg ihm denn noch offen geblieben wäre nach dem Ereigniß der letzten Nacht. Für einen Augenblick dachte er daran, daß er auch Rita eine Erklärung schuldig sei, und in diesem Gedanken war etwas wie die uneingestandene Hoffnung, daß ihr scharfer Verstand und ihr weibliches Gefühl eher als sein eigenes, von widerstreitenden Empfindungen zerrissenes Herz die rechte Lösung finden werde. Aber dann erinnerte er sich ihres letzten, herzlosen Wortes, und noch fester als zuvor wurde seine Ueberzeugung, daß es danach keine Möglichkeit einer Verständigung mehr zwischen ihnen gebe.

Aber es war jedenfalls nothwendig, die Frau zu benachrichtigen, bei welcher Astrid gewohnt hatte. Ohne Schwierigkeit fand Gerhard das Haus in der Karlstraße, neben dessen Eingangsthür auf einem zierlichen Porzellanschildchen zu lesen war: „Klara Ringewald, Atelier für feine Damenwäsche.“ Die Geschäftsräume lagen im ersten Stockwerk, und Fräulein Ringewald selbst, eine kleine Person mit einem unangenehmen, spitzigen Gesicht, nöthigte den Künstler, in das sogenannte Empfangszimmer einzutreten. Gerhard war ein wenig überrascht von der behaglichen Eleganz des Raumes, in welchen er da gerieth. Er hatte sowohl von Astrids bisheriger Umgebung als auch namentlich von der Persönlichkeit ihrer Wirthin eine wesentlich andere Vorstellung gehabt. Diese ältliche, verschrumpfte Dame in ihrem schweren grauen Seidenkleide und mit ihrem überreichen Schmuck von prahlerischen Goldsachen machte ihm einen recht peinlichen Eindruck, und die geschwätzige Liebenswürdigkeit, mit welcher sie ihn, noch ehe er ein Wort gesprochen hatte, zum Niedersitzen einlud, hatte etwas geradezu Widerwärtiges.

Mit einer Handbewegung lehnte er die Aufforderung ab.

„Mein Kommen betrifft eine junge Dame, welche sich bis zum gestrigen Abend unter Ihrem Schutze befand und über deren Verbleib Sie bereits in Sorge gewesen sein müssen.“

Fräulein Ringewald lachte. Es war ein hölzernes, klangloses Lachen.

„Ah, Sie meinen die kleine Bernhardi? – Nun, die mag Ihnen schöne Geschichten erzählt haben von dem schrecklichen Ungemach, das ihr hier widerfahren ist!“

Ein häßlicher Argwohn regte sich in Gerhards Brust, und in seinen Augen blitzte es drohend auf.

„Und wenn es so wäre?“ fragte er mit erzwungener Zurückhaltung, „hätte sie damit etwas anderes als die Wahrheit gesagt?“

„Nun, mein Herr, Sie werden mir wohl glauben, daß sie nicht umgebracht werden sollte. Aber sie ist ein sonderbares, hochmüthiges Geschöpf, um nicht zu sagen, ein wenig überspannt. Sie arbeitete sich fast zu Tode und lief in jeder freien Stunde in der Stadt umher, um Klavierschüler zu finden, die eigentliche Gelegenheit aber, auf eine beinahe wunderbare Weise ihr Glück zu machen, trat sie geradezu mit Füßen.“

„Eine Gelegenheit, ihr Glück zu machen?“

„Nun ja, wie soll man es denn sonst nennen, daß sich der Sohn des steinreichen Bankiers Schottenfeld, der sie zufällig irgendwo gesehen hatte, wie ein Wahnsinniger um ihre Gunst bemühte? Mit einiger Geschicklichkeit hätte sie ihn sehr wohl zu einer Heirath bringen können, und am Ende soll sich ein armes Mädchen in einem solchen Fall nicht allzu lange besinnen. Sie aber wollte durchaus nichts davon wissen, und da habe ich ihr denn freilich zu ihrem eigenen Besten gestern abend etwas kräftig ins Gewissen geredet, und weil sie noch obendrein die Entrüstete spielen wollte, habe ich ihr kurzweg erklärt, daß ich für so halsstarrige und unvernünftige Personen keinen Platz hätte in meinem Hause. Statt mir für diese schwesterliche Sorgfalt dankbar zu sein, stürzte sie gleich einer Verrückten davon, und ich hatte natürlich keine Veranlassung, ihr obendrein viele gute Worte zu geben.“

Sie hatte eine sehr gekränkte Miene angenommen, aber dieselbe wich rasch einem wahrhaft entsetzten Ausdruck, als sie sah, mit welcher Heftigkeit ihr unbekannter Besucher den schweren Stuhl, auf dessen Lehne er sich bis dahin gestützt hatte, von sich stieß.

„Darum also?“ rief Gerhard mit zornbebender Stimme. „Nun, ich bin Ihnen wenigstens dankbar für die Offenheit, mit welcher Sie mir Ihre niederträchtige Gesinnung dargelegt haben. Danken Sie es Ihrem Geschlecht, daß ich darauf verzichte, Ihnen so zu antworten, wie Sie es verdienen!“

Die kleine Dame hatte sich sehr erschrocken bis in die Ecke des Zimmers zurückgezogen, und ihre spitze Stimme hatte einen recht giftigen Klang, als sie von diesem sicheren Winkel her fragte:

„Und mit welchem Recht sprechen Sie aus einem solchen Tone zu mir, mein Herr? In welchen Beziehungen stehen Sie denn zu dem musterhaften Fräulein?“

„Hüten Sie sich, zu den früheren Beleidigungen noch eine neue hinzuzufügen, denn meine Geduld ist erschöpft. Fräulein Bernhardi ist nicht ohne Beistand, wie Sie geglaubt haben mögen, sondern sie steht unter meinem Schutze – sie ist meine Braut!“

Nun hatte er es zum zweitenmal ausgesprochen, und diesmal ohne Kampf und Zögern und ohne daß er vor dem Klange des eigenen Wortes erschrak. Der leidenschaftliche Zorn, welcher sein ganzes Wesen erfüllte, war ja zum nicht geringsten Theil ein Zorn gegen sich selbst, und die Schuld, deren er sich während der letzten Minuten mit tiefer Beschämung bewußt geworden war, mußte ihre Sühne finden, um welchen Preis es auch immer wäre.

Er wartete den Eindruck seiner Worte und die Antwort des ehrenwerthen Fräuleins Ringewald nicht erst ab, sondern verließ ohne einen Gruß das Zimmer. Es kümmerte ihn nicht, daß er etwas wie ein spöttisches Kichern hinter seinem Rücken vernahm – er hatte diesem Weibe nichts mehr zu sagen und ihn ekelte vor jeder weiteren Berührung mit ihrer Verworfenheit. –

Vorsichtig wie ein zaghafter Bittsteller klingelte er an der Thür seiner eigenen Wohnung, und er wartete geduldig, obwohl Minuten vergingen, ehe man ihm öffnete. Ueber Astrids Befinden gab es keine guten Nachrichten. Sie lag in heftigem Fieber und der Sanitätsrath war schon dreimal dagewesen. Er hatte den Wunsch ausgesprochen, daß Gerhard das Krankenzimmer vorläufig nicht betreten möge.

Einige Briefe, die für ihn angekommen waren, schob Gerhard gleichgültig in die Tasche, ohne sie zu öffnen. Zuletzt erinnerte sich der Diener, daß da auch von der Zofe des Fräuleins Gardini ein kleines Packet abgegeben worden sei. Hastig griff Gerhard nach der schmalen Rolle und riß den Umschlag herab. Einige Notenblätter fielen ihm entgegen – die Handschriften seiner letzten, ihr gewidmeten Lieder. – Und sonst nichts! – Kein Blatt – keine Zeile – nicht der geringste Versuch einer Aufklärung oder Versöhnung! Verächtlich schleuderte Gerhard die Noten in einen Winkel und seine Lippen murmelten: „So ist dieser Roman denn für immer zu Ende!“ – –

(Fortsetzung folgt.)




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 776. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_776.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)