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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Das junge Mädchen ließ die Hände sinken und sah der Schwester trotzig ins Gesicht.

„Da Du’s nun doch weißt – wir vier Aeltesten aus der Selekta waren gestern vor acht Wochen –“

So lange hat’s vorgehalten?“ neckte Helene; „Aennchen, Aennchen – nun wird mir angst! Also gestern vor acht Wochen – weiter! was war da?“

„Wir waren auf einem kleinen Ball beim Bürgermeister – eigentlich ein Tanzstundenball – es war himmlisch! Und da war Er auch!“ fügte Anna leise hinzu.

„Wie heißt Er denn?“ frug Helene gespannt.

„Das weiß ich nicht! Nur den Vornamen – Er heißt Kurt! Reizend – nicht wahr?“

„Was habt Ihr denn zusammen gesprochen?“ forschte Helene weiter, ohne auf die Begeisterung der Schwester einzugehen.

Kein Wort! – Das war eben das Schöne!“ sagte Anna mit großer Entschiedenheit. „Siehst Du, Helene, ich habe mir gedacht, wenn er überhaupt spräche, müßte er etwas Entzückendes sagen – ganz etwas Besonderes – und wenn er dann gesprochen hätte wie andere Leute, wäre ich zu sehr enttäuscht gewesen! Da war ich froh, daß er überhaupt nicht mit mir sprach! Er hat sich mir auch gar nicht vorstellen lassen,“ setzte Anna mit sinkender Stimme hinzu, „und wenn ich ihn nicht mit einer andern Dame hätte sprechen hören, wüßte ich nicht mal, wie seine Stimme klingt und wie er mit dem Vornamen heißt!“

Sie schwieg.

„Ach, wenn Du lachst!“ sagte sie dann vorwurfsvoll.

„Ach Aennchen, Aennchen,“ erwiderte Helene und trocknete ihre Lachthränen, „das ist ja ein recht gefährlicher Roman! Und was hast Du ihn denn sprechen hören? War das nun so überwältigend geistreich?“

Das Backfischchen sah etwas verlegen drein.

„O ja,“ sagte sie dann zögernd, „ich fand es ganz hübsch! Eine ältere Dame sagte zu ihm: ‚Tanzest Du denn gar nicht, Kurt?‘ Da sagte er mit sehr hübscher, tiefer Stimme: ‚Nein, Tante, zu solchem Lämmerhüpfen bin ich denn doch nicht mehr kindlich genug!‘“

„Allerdings ein bedeutender Ausspruch!“ bemerkte Helene, die noch immer nicht ihren gebührenden Ernst wiedergefunden hatte, „aber nun weiß ich ja Deine ganze Herzensgeschichte, – jetzt muß ich gehen, Kind! Karl kann jeden Augenblick kommen und sein zweites Frühstück verlangen!“

Sie verließ das Zimmer und Aennchen blieb allein zurück, mit ganzer Seele wieder in ihren Traum hinein versetzt. Nachdem sie sich vorsichtig überzeugt hatte, daß sie allein und von keines Menschen Auge beobachtet sei, zog sie eine seidene Schnur aus ihrem Kleide, an der eine kleine Kapsel hing.

In dieser Kapsel trug sie, nach dem Vorbild sämmtlicher Schülerinnen der Selekta, den Anfangsbuchstaben des angeschwärmten Helden – und zwar aus dem an und für sich nicht sehr poetischen Stoffe des – Nudelteigs angefertigt, den ein unternehmender Materialwarenhändler der Pension gegenüber in ganzen Alphabeten feil hielt. Der Mann machte glänzende Geschäfte damit – besonders da in dem Alter, in welchem seine Kundinnen sich sämmtlich befanden, der Anfangsbuchstabe der „ersten und einzigen“ Liebe öfters zu wechseln pflegt und dann unter tiefem Erröthen und großer Verlegenheit statt des heilig gehaltenen A nun vielleicht ein B in die Kapsel wandert.

Unser Aennchen machte aber von diesen flatterhaften Grundsätzen eine rühmliche Ausnahme! Ihr Herz hatte in der Tanzstunde den gefährlichen Erscheinungen sämmtlicher Primaner und sogar zweier Studenten gänzlich und erfolgreich Widerstand geleistet, und der Klavierlehrer war ihr der gleichgültigste der Menschen geblieben!

Ja, sogar der junge Docent, dem das beneidenswerthe Amt oblag, die „erste Klasse“ in der Litteraturgeschichte zu unterrichten, hatte sie kalt gelassen – er, der sonst alle Mädchenherzen in Flammen setzte, dem man die Ueberschuhe mit Rosenblättern füllte, aus dessen Pelz man Haare auszupfte, um sie im Brieftäschchen bei sich zu tragen, und der durch die männliche Entschiedenheit, mit der er sich eines Tages „derartige Albernheiten“ verbat, noch einen dämonischen Zauber mehr in den Augen seiner Schülerinnen gewann.

Wie gesagt, auch dieser war Aennchens Ruhe nicht verderblich geworden – dem unbekannten Kurt blieb es vorbehalten, ihr sechzehnjähriges Herz ohne jede Bemühung von seiner Seite einzunehmen, und das K aus Nudelteig sollte, so gelobte sie sich, ewig, unverdrängt durch einen andern Buchstaben in ihrer Kapsel bleiben. Der Abschied von der Pension, die zugleich „Seinen“ Aufenthaltsort zu bedeuten schien, war ihr wesentlich erleichtert worden, indem ihr das namenlose, allerdings stark mit Wehmuth versetzte Glück zu theil wurde, daß sie den Unbekannten eines Tages in einer Droschke mit einem Koffer wie andere Sterbliche nach dem Bahnhof hatte fahren sehen. Er war also fort – wohin? ließ sich bei der unbequemen Größe der Welt und der Unberechenbarkeit der Eisenbahnen allerdings nicht feststellen, und sich nach ihm zu erkundigen, hätte Anna in ihrer Schüchternheit nie fertiggebracht.

Aber mit der der Jugend eigenen Hoffnungsseligkeit ging sie jetzt umher und war fest überzeugt, der Unbekannte würde ihr irgendwo und irgendwann wieder begegnen. Hier, in dem kleinen Krähwinkel, das Schwager und Schwester nun seit sechs Jahren bewohnten, war dies freilich recht unwahrscheinlich – aber wer konnte wissen! Sie zog wieder ihre Kapsel hervor, betrachtete das K und seufzte so recht aus tiefstem Herzen.

In demselben Augenblick ging die Thür auf und ihr Schwager, der Amtsrichter Schwarz, trat in das Zimmer, von seiner Frau gefolgt. Anna fuhr mit einem leichten Schrei zusammen und verbarg ihr Heiligthum.

„Nun, was hast Du denn?“ frug der Hausherr etwas verdrießlich, „Du thust ja, als ob ich der schwarze Mann wäre!“

„Laß sie nur,“ beschwichtigte Helene, „sie muß erst bekannter werden, dann wird sie schon aufthauen!“

Der Amtsrichter hatte inzwischen an dem zum zweiten Frühstück gedeckten Tisch Platz genommen. Er war ein ganz hübscher, angenehm aussehender Mann mit einem Zuge von Humor um die Lippen, der nur ungenügend durch einen etwas grämlichen Blick und buschige Augenbrauen versteckt wurde. Der Amtsrichter war nie aus kleinen Städten herausgekommen – eine Thatsache, die dem Menschen unbarmherzig ihr Gepräge aufzudrücken liebt! In einem Nest von zehntausend Einwohnern aufgewachsen, hatte er auf der winzigsten aller Universitäten studiert und seine Referendariatszeit in einem oberschlesischen Städtchen zugebracht, wo er als „der Referendar“ ohne weitere Bezeichnung umherging – ja sogar in der Ortskneipe am Stammtisch nur ein Serviettenband mit der Aufschrift „der Referendar“ hatte, weil er eben einzig in seiner Art und dadurch jede Verwechselung ausgeschlossen war.

Dort hatte er seine Frau kennengelernt, und das Ehepaar saß nun, wie erwähnt, seit sechs Jahren in einer andern kleinen Stadt, in der jeder die genaueste Lebensbeschreibung des andern liefern konnte, dessen Speisezettel auswendig wußte und genau erfuhr, wenn die Post dem lieben Nächsten ein Packet brachte – wo dann nach Form und Größe dieses Packets der nächste Damenkaffee die unfehlbarsten Schlüsse auf den Inhalt und den Absender des fraglichen Gegenstandes zu ziehen verstand. Der Amtsrichter Schwarz, als Honoratiore der Stadt, litt natürlich ganz besonders unter der leidenschaftlichen Aufmerksamkeit seiner Nachbarn und behauptete, er könnte sich keinen Knopf an den Rock nähen lassen, ohne daß seine guten Bekannten dies frohe Ereigniß sich gegenseitig meldeten, sich darüber wunderten und ergötzten – ja, er könnte, meinte er, sehr froh sein, wenn das Lokalblättchen sich nicht der Thatsache bemächtigte und sie in einem pikant gehaltenen Artikel seinen Lesern am nächsten Morgen vorsetzte.

Dieser Zustand hatte sich im Laufe der Jahre im Bewußtsein des Amtsrichters bis zur Unerträglichkeit gesteigert, und wie sich schwierige innerliche Vorgänge in bestimmten Menschen oft verkörpern, so gipfelte alle die Kleinstädterei, die gegenseitige Beobachtung und Kontrolle für die Familie Schwarz in der Person des Apothekers Lebermann, eines ganz gutmüthigen, aber entsetzlich langweiligen und neugierigen Mannes, der sich für alles in der Welt interessirte und alles wissen wollte – andererseits aber auch dieselbe rege Antheilnahme für sich und seine Erlebnisse bei seinen Nebenmenschen voraussetzte.

Der Amtsrichter kehrte heut, an dem Tage, da unsere Erzählung beginnt, schon ein wenig gereizt vom Gericht zurück, und sein Antlitz verdüsterte sich merklich, als er den Apotheker auf sich zukommen sah.

War es, wie wir gehört haben, Herrn Lebermanns berechtigte Eigenthümlichkeit, alles wissen zu wollen und mit einer gewissen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 783. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_783.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)