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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

weites Gebiet beherrscht; aber es waren doch nur wieder so viel Gesetzbücher, so viel Rechte. Das erste Gesetzbuch von allgemeiner Geltung war die „Allgemeine deutsche Wechselordnung“ vom Jahre 1849. Ihr folgte zwanzig Jahre später das „Allgemeine deutsche Handelsgesetzbuch“, ein Gesetz, in welchem man die feinen Unterscheidungen des römischen Rechtsverstandes mit dem altdeutschen Gefühle für Treu und Glauben ins Einvernehmen zu setzen suchte.

Als dann die politische Einheit auf blutiger Wahlstatt erkämpft war, wurde die Schaffung eines gemeinsamen bürgerlichen Rechts zu einer der vornehmsten Aufgaben, welche das junge Reich zu lösen hatte. So betraute auf Grund des Reichsgesetzes vom 20. Dezember 1873 der Bundesrath im Juni des folgenden Jahres eine aus elf Juristen, Männern von Kenntniß und Erfahrung, gebildete Kommission unter Vorsitz des Geheimrathes Dr. Pape mit der Ausarbeitung eines bürgerlichen Gesetzbuches für das ganze Deutsche Reich, und nach einer mühevollen Arbeit von dreizehn Jahren lag der Entwurf dieses deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs mit seinen 2164 Paragraphen und fünf Bänden Motiven fertig auf dem Tische des Reichskanzleramtes: ein Werk rastlosen Fleißes, gewissenhafter Gründlichkeit, reicher Kenntniß, tiefsinniger, aber den Anforderungen des praktischen Lebens dabei in erster Reihe Rechnung tragender Erwägung.

Die Aufgabe war eine ungewöhnlich schwere, denn die Kommission konnte sich nicht darauf beschränken, das bereits im Volke lebende Recht zusammenzufassen und nur hie und da mit den Bedürfnissen der neuen Zeit in Einklang zu bringen; hier „handelte es sich,“ wie die Motive sagen, „vielmehr darum, nach einer jahrhundertelangen politischen Zersplitterung und einer der selben entsprechenden verschiedenartigen Entwicklung des Rechtes in den verschiedenen Theilen Deutschlands ein einheitliches Recht erst wieder zu gewinnen.“

Es galt also vielfach, wenigstens für einzelne Landestheils neues Recht zu schaffen, von dem man hoffen konnte, daß es nach einer wenn auch anfangs vielleicht unfreundlichen Aufnahme doch mit der Zeit in das allgemeine Rechtsbewußtsein eindringen werde. Die Kommission war sich dieser undankbaren Seite ihrer Aufgabe wohl bewußt, aber die drängende nationale Forderung, dem deutschen Volke ein einheitliches Recht in jedem Falle zu schaffen, gab ihr den zu ihrer Aufgabe nothwendigen Muth.

So wie es vorliegt, trägt das Werk durch und durch ein echt deutsches Gepräge schon in der Form des sprachlichen Ausdrucks, obwohl die leidige Fremdwörterei unter dem Einflusse des römischen Rechts kaum auf einem Gebiete so ins Kraut geschossen ist als auf dem des Rechts, ein Umstand, der nicht wenig dazu beigetragen hat, das Recht dem Volke zu entfremden.

Im Ausbau des Innern aber weht durch das neue Gesetzbuch ein frischer, freier, aller Verknöcherung feindlicher Hauch. Ueberall tritt das Bestreben hervor, die Rechtssätze den Anforderungen des praktischen Lebens anzupassen. In diesem Sinne macht der Entwurf es dem Richter zur Pflicht, bei der Auslegung von Willenserklärungen nicht an dem buchstäblichen Ausdrucke zu haften, sondern den wirklichen Willen der Parteien zu erforschen; in diesem Sinne steht ihm das materielle Recht jeder Zeit höher als das formelle und entkleidet er überhaupt die Form ihrer alten schrankenlosen Macht. So schreckt z. B. das Gesetz nicht davor zurück, jemand den Gebrauch der Selbsthilfe zu gestatten, sobald er in Gefahr kommt, durch den Mangel bereiter obrigkeitlicher Hilfe die Verwirklichung seines guten Rechts vereitelt zu sehen. So mildert es auch sonst die mancherlei Härten des alten Rechts und hütet sich, schnöder Uebervortheilung Handhaben zu bieten. Es achtet die Freiheit der Person und schützt sie in der Bethätigung ihres Handelns, so lange sie damit nicht einen andern schädigt. Da aber, wo dieser andere Schaden erleidet an seiner Gesundheit, Freiheit oder Ehre, gewährt sie ihm die weitestgehende Entschädigung.

Den Grund und Boden, der in der Entwickelung des deutschen Rechts unter dem Drucke der mannigfachsten, oft widersinnigsten Lasten stand, will der Entwurf, wozu ihm die neuere Gesetzgebung schon vielfach den Weg gebahnt hat, möglichst unabhängig und nur mit solchen Beschränkungen belegt sehen, welche die allgemeinen Bedürfnisse und nicht der Bequemlichkeit des einzelnen entsprechen. In den Reibungen, in welche die neuzeitliche Industrie und ihre Fabrik- und Dampfanlagen oft mit dem nachbarlichen Eigenthum gerathen, Verhältnisse, mit denen das alte deutsche und das römische Recht nicht zu rechnen hatten, nimmt der Entwurf den Standpunkt des „Leben und Lebenlassens“ ein. „Eine Ueberspannung des Eigenthumsbegriffs,“ heißt es in den dem Entwürfe beigegebenen Motiven, „würde hier die nothwendigen Vorbedingungen des Lebens und Verkehrs beeinträchtigen, insbesondere dem Gewerbebetriebe schnöde Fesseln anlegen und die Entwicklung der Industrie in nicht zu übersehender Weise lähmen.“

Der Entwurf stellt demnach fest, daß der Grundstücksnachbar die nicht durch unmittelbare Zuleitung erfolgende Zuführung von Gasen, Dämpfen, Rauch, Ruß, Gerüchen, Wärme, Erschütterungen und dergleichen insoweit zu dulden habe, als solche Einwirkungen entweder die regelmäßige Benutzung des Grundstücks nicht in erheblichem Maße beeinträchtigen oder die Grenzen der Ortsüblichkeit nicht überschreiten.

In Würdigung der großen Bedeutung, welche der Grundbesitz für die Erlangung flüssiger Geldmittel oder laufenden Kredits im heutigen Verkehrsleben erlangte, nahm die Kommission in den Entwurf alle diejenigen Rechtseinrichtungen auf, welche sich in dieser Richtung neu gebildet haben; neben der alten Hypothek mit oder ohne Dokument (Brief) die Grundschuld, bei welcher nur das Grundstück, nicht aber zugleich die Person des Schuldners haftet, die Sicherungshypothek und die Eigenthümer-Hypothek, bei welcher durch Tilgung der Pfandschuld der Eigenthümer selbst in die Hypothek eintritt.

Von hoher Bedeutung sind die Bestimmungen des Entwurfs in betreff der Ehe und Familie. Nach der Anschauung des älteren Rechts galt der Ehemann als das Haupt, als der unumschränkte Herrscher im Hause. Die Frau hatte nichts voraus vor der Haustochter. Auch das kanonische Recht hielt sich noch streng an das alte Bibelwort, das dem Weib sagt: „Dein Wille soll deinem Manne unterthan und er soll dein Herr sein.“ Das spätere deutsche Recht stellte jedoch die Frau nicht mehr unter die Herrschaft, sondern unter die Vormundschaft des Mannes. Er wurde ihr Pfleger, Verwalter und Berather; sie aber stieg in Erstarkung ihrer gesellschaftlichen Stellung mehr und mehr empor zur gleichberechtigten Genossin. So stellt der Entwurf, als leitenden Grundsatz für das Ehe- und Familienrecht auf, daß die Ehegatten untereinander zur ehelichen Lebensgemeinschaft verpflichtet und berechtigt sind, wie es schon in einer alten Schöffengerichtssatzung heißt:

„Mann und Weib
Sollen sein in Wahrheit wie ein Leid.“

Dem Ehemann gebührt die entscheidende Stimme in allen Angelegenheiten des ehelichen Lebens. Er bestimmt Wohnort und Wohnung. Die Frau hat das Recht und die Pflicht, dem Hauswesen vorzustehen, ein Recht, das, würde es ihr entzogen, sie sogar klagbar verfolgen kann. Dem bestimmenden Worte des Mannes braucht sie aber dann nicht zu folgen, wenn es mit der rechten ehelichen Gesinnung unverträglich ist. Wohl aber ist sie verpflichtet, neben den rein häuslichen Arbeiten dem Manne auch in dem von ihm betriebenen Geschäfte Hilfe zu leisten, soweit solche Verrichtungen nach dem Stande des Mannes für sie üblich sind. Innerhalb ihres häuslichen Wirkungskreises schaltet und waltet sie rechtlich ganz frei. Sie besitzt, wie es in alten Rechten heißt, die Schlüsselgewalt. Für das, was sie hier thut, haftet der Mann mit seinem eigenen Vermögen. Das gleiche ist der Fall, wenn sie eheliche Lasten bestreitet, z. B. nothwendige Kleider für sich und die Kinder anschafft. Wie weit sie in dieser Richtung gehen kann, bestimmt sich nach den socialen Verhältnissen der Eheleute, nach Stand und Sitte. Dieser edlen Auffassung der Ehe entstammt auch die Bestimmung, daß die vermögende oder erwerbsfähige Frau den kranken oder in Noth und Armuth gerathenen Mann unterhalten muß.

Ungemein vielgestaltig ist in Deutschland die Rechtsbildung gewesen in bezug auf das den Ehegatten gehörende Vermögen. Die Zahl der in Deutschland geltenden ehelichen Güterrechte beziffert sich auf hundert. Römisch- und deutschrechtliche Grundsätze haben sich in bunter Mischung und in den weitest auseinanderliegenden Formen nach- und nebeneinander ausgestaltet. Mit deutscher Gründlichkeit hat die Kommission diese vielseitigen Systeme geprüft und „sich bemüht, aus der Vielgestaltigkeit des bestehenden Rechts diejenigen Rechtssätze auszuwählen, welche unter Berücksichtigung aller Verhältnisse am meisten zur Geltung in ganz Deutschland geeignet erschienen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 795. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_795.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)