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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Rechten und zur Linken führen Marmortreppen in das Hochparterre. Ueber den rechtsseitigen Treppenarm gelangen wir zunächst zu den mineralogischen Sammlungen, die fünf Säle füllen. Aber nicht weniger als 19 Säle nebst einigen Nebenräumen hat der Besucher zu besichtigen, ehe ihn der linke Treppenarm in die Vorhalle zurückführt. Und jeder dieser 19 Säle birgt mehrere große Wandgemälde, theilweise von hohem Kunstwerth. Diese Bilder geben in baukünstlerischem Sinn einen fortlaufenden Fries, der durch Pilasterstellungen (Wandpfeiler) unterbrochen wird. Auch die figürliche Ausschmückung, ja selbst der Deckenschmuck ist für jeden Raum eigens berechnet, sowohl im Hochparterre, als im ersten Stockwerk, welches gleichfalls 19 Säle (mit den zoologischen Sammlungen) umfaßt. Wird vielleicht auch die Mehrzahl der Besucher diese Naturwunder nicht mit fachmännischem Verständniß, sondern nur mit laienhaftem Staunen betrachten, so darf man doch voraussetzen, daß sich auch der Naturforscher manchmal in den Anblick der ausschmückenden Kunstwerke verlieren wird.

Einen geradezu blendend schönen Eindruck macht das Stiegenhaus mit seinen hellschimmernden Stuck-Marmorwänden, seinen echten Marmorstufen, seinen echten Marmorsäulen und seinem echten Marmorgeländer. An der Decke ist Hans Canons mächtiges Gemälde „Der Kreislauf des Lebens“ aufgespannt. Dieses Bild, welches nicht weniger als 140 Quadratmeter umfaßt, war vor Jahren einmal im Künstlerhause zu sehen und hat damals insbesondere von seiten der Künstler bitteren Tadel und derben Hohn geerntet. Heute, da die Riesenleinwand in einer Entfernung von beinahe 30 Metern von unserem Auge, an ihrem eigentlichen Bestimmungsorte sich befindet, sehen wir, daß Canon recht hatte, das Bild in der Art alter Fresken durchaus mit lichten, durchsichtigen Tönen auszustatten. Auch einige Uebertreibungen und Muskelschwellungen treten jetzt keineswegs mehr störend in Erscheinung, sondern sind eher geeignet, den Gesammteindruck zu steigern. Hans Canon mußte sterben, ehe seine größte Schöpfung gerecht beurtheilt wurde.

In der Mitte des Bildes sieht man die geheimnißvolle Sphinx, ihre Tatzen auf ein siebenfach versiegeltes Buch legend; unterhalb dieser Räthselgestalt den alten Saturn, das Stundenglas in der Hand. Rechts steigt die Kette der Gestalten hinan, welche das Werden und Vergehen des Menschenlebens versinnlichen sollen. Der Mann ringt der Thierwelt seine Nahrung ab und gewährt seinem Kinde Schutz; er genießt die Liebe und erstrebt irdisches Glück. Die Habgier greift nach dem Golde, der Ehrgeiz empfängt von einer Kindergestalt den Lorbeer. Die Krönung des Gemäldes bildet „der Kampf ums Dasein“. Auf mächtigen Rossen stürmen die Streitenden gegen einander. Der Gegner zur Linken fällt, und somit beginnt die Vernichtung. In jähem Sturze sinken Männer, Weiber und Kinder in die Tiefe, wo der Aasgeier ihrer wartet.

Außer diesem Deckengemälde zieren das Stiegenhaus noch zwölf Lünettenbilder (Füllbilder) Canons, welche die verschiedenen Zweige der Naturwissenschaften – in den meisten Fällen durch eine Frauengestalt mit einem Kinde – versinnlichen. In kräftig ausgebildeten Nischen aber stehen die Gestalten berühmter Naturforscher, von den Bildhauern Kundmann, Tilgner, Weyr und Zumbusch gefertigt.

Vorhalle im Wiener naturhistorischen Hofmuseum.

Hat uns das Stiegenhaus durch seine Glanzfülle schier geblendet, so wird der Eindruck von architektonischer Gewalt noch gesteigert, sobald wir die Flurhalle des ersten Stockes betreten, welche mit ihrem Lichtüberfluß auch die Vorhalle des Erdgeschosses erhellt. Der mächtige Kuppelraum prangt im üppigsten bildnerischen Schmuck, und die perspektivischen Durchblicke, welche Stiegenhaus und Halle gewähren, sind einzig in ihrer Großartigkeit.

Was nun den künstlerischen Schmuck der Schausäle betrifft, so hat der Architekt darauf Rücksicht genommen, daß die Darstellungen stets in geistigem Zusammenhang mit den naturgeschichtlichen Gegenständen seien, welche in den verschiedenen Räumen zur Ausstellung gelangen. So finden wir bei den prähistorischen Funden Idealbilder aus dem Kulturleben der Menschen aus vorgeschichtlicher Zeit, in der ethnographischen Abtheilung (der interessantesten und jedenfalls volksthümlichsten des ganzen Museums) Darstellungen aus dem Leben und Treiben der verschiedenen Völkerschaften. Besonders eigenartig wirken die tragenden Halbfiguren, welche im Mittelsaal und in den vier Ecksälen des Hochparterres angebracht sind. Sie stellen sinnbildlich in durchaus freier, lustiger Art Naturerzeugnisse, Thiergattungen und Völkerrassen dar. Den reichsten Schmuck aber besitzt, wie schon angedeutet, der Kuppelraum des ersten Stockwerks, welcher mit humoristischen Darstellungen von Benk, Tilgner und Weyr ausgestattet ist. Der künstlerische Prunk, der hier entfaltet wurde, muß selbst die kühnsten Erwartungen übertreffen.

Das kleinere Stiegenhaus, welches zu dem zweiten Stockwerk hinaufführt, weist sehr hübsche Lünettenbilder auf. Dieselben wirken, obgleich nur von einem einfachen Zimmermaler hergestellt, äußerst glücklich, insbesondere dadurch, daß die Luft mit einer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 812. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_812.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)