Seite:Die Gartenlaube (1889) 832.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

der Primadonna und dem Komponisten irgend etwas wahrzunehmen gehofft hatten. Es war kein Zweifel, und Rita bemühte sich nicht im mindesten, es zu verbergen: – sie sang diese Arie nur für ihn allein. Nicht auf seinen Taktstock war ihr Blick gerichtet, nicht auf die Bewegungen seiner Hand, sondern ausschließlich auf sein Gesicht. Ihre schönen Augen bohrten sich gleichsam in die seinigen ein, und je mehr die Macht der leidenschaftdurchbebten Musik sie fortzureißen schien, desto beredter, desto bezaubernder wurde der feuchte Glanz dieser bald heiß aufflammenden, bald sehnsüchtig schmachtenden Augen.

Wie konnte ein Mann, der jede Mahnung, jeden Vorwurf und jede Bitte der verschmähten Sakuntala auf sich beziehen durfte, solcher Versuchung widerstehen? Wie konnte der Komponist, der seine innersten Gedanken hier mit der Meisterschaft eines mitfühlenden und nachschaffenden Genius verkörpert sah, das jubelnde Entzücken niederhalten, das sein Herz bis zum Zerspringen erfüllen mußte? Auf seinem Antlitz ging und kam in raschem Wechsel die Farbe unter dem sengenden Blick der schönen Künstlerin; seine Hand, die den Taktstock führte, zitterte so, daß die Nächstsitzenden es deutlich bemerken konnten, und als nun der letzte, in seliger Zuversicht himmelauf jauchzende Ton verklungen war, als allem Herkommen zuwider ringsumher jubelnder Beifall laut wurde, als die Musiker im Orchester sich wie auf ein gegebenes Zeichen erhoben, um der gottbegnadeten Sängerin zu huldigen, da eilte Gerhard mit zwei raschen Sprüngen auf das Podium, um Ritas Hand zu ergreifen und sie wieder und wieder stürmisch an seine Lippen zu drücken. Es wurde kein Wort zwischen ihnen gesprochen, aber es schien den Umstehenden, als ob dieser kleine stumme Vorgang auch ohne weitere Erläuterungen deutlich genug für sich selber spräche.

Und so erschien es wohl auch der einzigen Zuhörerin im dunklen Hintergrunde des weiten Saales. Astrid war dem bisherigen Verlauf der Aufführung gefolgt, ohne durch einen Laut oder auch nur durch eine leise unwillkürliche Bewegung zu verrathen, was in ihrem Innern vorging. Als sich nun aber die Wogen der begeisterten Erregung da oben auf dem Podium allmählich zu glätten begannen, richtete sie sich langsam auf und verließ geräuschlos, wie sie gekommen war, ihren Platz.

Der Mann, welcher sie eingelassen hatte, stand noch draußen.

„Aber es ist noch nicht aus, mein Fräulein!“ sagte er in dem eifrigen Bestreben, der Braut eines so bedeutenden Künstlers gefällig zu sein.

Astrid aber, die jetzt ihren Schleier zurückgeschlagen hatte, hob den Blick zu ihm auf, und es war ein seltsames Funkeln in den großen Augensternen, die ihm da aus dem todtenbleichen Gesichtchen entgegenleuchteten.

„Für mich ist es aus!“ sagte sie mit einem Ausdruck namenloser Bitterkeit, „denn nun kenne ich auch das Ende!“

Sie ging rasch davon; der alte Mann aber schüttelte höchlichst verwundert den Kopf.

„Vielleicht ist sie gar nicht seine Braut gewesen, sondern nur irgend eine Konkurrentin!“ brummte er vor sich hin. „Ich glaube, es ist doch am besten, wenn ich ihm nichts davon sage, daß ich sie eingelassen habe.“


10.

Als Astrid das Wohnzimmer ihrer mütterlichen Freundin wieder betrat, wurde sie von dieser mit einem Ausruf der Freude und der Erleichterung begrüßt.

„Mit welcher Sehnsucht und mit welcher Sorge habe ich auf Dich gewartet, meine liebe Astrid!“ rief ihr die Rechnungsräthin, die in ihrem Eifer das veränderte Aussehen des jungen Mädchens gar nicht zu bemerken schien, entgegen. „Ich habe Dir etwas sehr Wichtiges mitzutheilen. Es ist eine Nachricht gekommen, auf die Du gewiß nicht vorbereitet bist!“

„Eine wichtige Nachricht – für mich?“ Astrid sagte es so müde und theilnahmlos, daß Frau Haidborn unter anderen Umständen gewiß sogleich auf die Vermuthung gekommen wäre, ihrem Schützling müsse etwas Außerordentliches und etwas sehr Trauriges widerfahren sein. Aber ihre eigene Neuigkeit war ebenfalls von einer so außergewöhnlichen Art, daß daneben für die wackere Frau zunächst alles andere in den Hintergrund treten mußte.

„Ja, liebe Astrid! Und ich hoffe, Du wirst mir nicht böse sein, wenn ich ohne Dein Wissen ein wenig Vorsehung für Dich gespielt habe. Aber ich glaubte das dem Andenken meiner armen Freundin schuldig zu sein. Ich wollte wenigstens versuchen, für die Tochter zu thun, was ich für die Mutter leider nicht thun konnte.“

„Du sprichst in Räthseln, Mama! – Ich begreife wirklich nicht, was Du meinst!“

„Das glaube ich wohl! Und wenn es schlecht ausgegangen wäre, hättest Du auch niemals etwas davon erfahren! Hast Du niemals den Wunsch gehabt, Kind, Dich mit Deinem Großvater zu versöhnen?“

„Mit meinem Großvater? Mit dem harten, mitleidlosen Manne, der meine Mutter verstoßen konnte, nur weil sie bei der Wahl des Gatten nicht seinen selbstsüchtigen Wünschen, sondern ihrem eigenen Herzen folgte?“

„Nun ja, liebe Astrid! Von eben diesem Großvater ist freilich die Rede! Aber ich denke, seine damalige Handlungsweise, so wenig ich sie auch in allen Stücken entschuldigen möchte, könnte doch vielleicht noch aus einem anderen Gesichtspunkt betrachtet werden. Er hat doch in seiner Weise auch nur das Beste seiner Tochter im Auge gehabt.“

„Ihr Bestes, Mama? – So wäre es zu ihrem Besten gewesen, auf den Mann zu verzichten, welchen sie liebte?“

„Das ist eine Frage, auf die ich nicht so leichthin antworten möchte, mein Kind! Niemand hat die vortrefflichen Herzenseigenschaften Deines Vaters aufrichtiger geschätzt als ich, und ich bin sicher, daß Deine Mutter an seiner Seite sehr glücklich gewesen ist, so glücklich wenigstens, wie sie es den Umständen nach sein konnte. Aber Christoph Ulwe war doch eigentlich auch nicht ganz im Unrecht, als er meinte, daß der mittellose Musiklehrer mit seinen schwärmerischen Neigungen und seinem unpraktischen Kindergemüth nicht der rechte Gatte für sie sei. Sie war in Reichthum und Ueberfluß aufgewachsen, die kleinen Sorgen und Mühseligkeiten des Lebens waren ihr so fremd wie irgend ein Zauberland aus dem Märchen, und darum war es nur natürlich, daß sie in der Glückseligkeit ihrer ersten jungen Liebe auch die Leiden der Armuth und die Schrecknisse eines endlosen Kampfes ums Dasein unterschätzte. Sie war nur zu bereit, eine Last auf sich zu nehmen, deren Schwere sie gar nicht kannte, – eine Last, die wohl im ersten Augenblick leicht und unbedeutend erscheinen mag, die aber immer grausamer und unbarmherziger drückt, je länger sie getragen werden muß, und die endlich nicht bloß ein zartes, schwaches Weib, sondern selbst einen Riesen unter ihrem Gewicht erdrücken kann.“

„Und wenn mein Großvater dies alles voraussah, warum hat er meinen armen Eltern die Last nicht abgenommen? Er konnte es doch; denn ich meine, er war ein reicher Mann.“

„Ja, liebes Kind! Das ist der Punkt, in welchem auch ich mit seiner Handlungsweise nicht übereinstimmen kann. Aber am Ende sind wir beide nicht dazu berufen, über ihn zu richten, und Du hast kein Recht, die Hand der Versöhnung zurückzuweisen, die Deine arme Mutter mit Freuden ergriffen haben würde!“

„Die Hand der Versöhnung? Hat denn der Großvater den Wunsch, sich mit mir zu versöhnen?“

„Ja, Astrid! Ich habe an ihn geschrieben, und heute morgen hat mir der Postbote diese Antwort gebracht.“

Mit viel geringerer Theilnahme, als es die Rechnungsräthin erwartet haben mochte, empfing Astrid das Blatt aus ihrer Hand. Die großen, ungelenken und unregelmäßigen Schriftzüge setzten sie in Erstaunen, aber schon in den ersten Zeilen war ja die Erklärung dafür zu finden. Da hieß es:

 „Meine werthe Dame!

Halten Sie es einem halb Erblindeten zugute, wenn seine Handschrift Ihnen Schwierigkeiten macht; aber wenn mir nicht die Gewohnheit eines ganzen Menschenlebens zu Hilfe käme, würde ich in der Dunkelheit, die mich umgiebt, selbst diese armseligen Zeichen nicht mehr zusammenkritzeln können.

Sie haben mir in der Angelegenheit meiner Enkelin Astrid Bernhardi geschrieben, und ich bin Ihnen dafür herzlich dankbar; denn ich suchte eben vergeblich nach einem Mittel, ihren Aufenthalt in Erfahrung zu bringen. Gern hätte ich sogleich selber an sie geschrieben, aber es wird einem alten Manne doch schwer, zu einem jungen, unerfahrenen Mädchen, das er nicht einmal kennt, von seinem Unrecht zu sprechen und davon, was es ihn

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 832. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_832.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2020)