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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Was das zu bedeuten hatte, errieth ich ohne Mühe. Casimira, oder, wie ich sie von jeher hatte nennen hören: Mira, war die verwaiste Tochter einer mit unserer Mutter verwandten polnischen Familie. Wie mein Großvater war Herr von Gliwitzki Militär gewesen und durch die polnische Revolution ebenfalls in das Ausland gestoßen worden. Im Kirchenstaat war er in päpstliche militärische Dienste getreten, hatte später eine Italienerin geheirathet, und er sowohl als seine Frau waren vorzeitig gestorben. Ihr einziges Kind, die kleine Mira, war mittellos zurückgeblieben. Meine Eltern hatten sie in Rom in das Kloster der Nonnen du sacré coeur auf Trinita de’ Monti zur Erziehung gegeben, und uns im Vaterhause war das schöne Kind, dessen Bild auf dem Schreibtisch der Mutter stand, zu einem geläufigen Begriff geworden. Sie mußte nach meiner Berechnung in dem Alter sein, in welchem man sich darüber zu entscheiden hatte, ob man sie in dem Kloster lassen wollte. War das nicht der Fall, so war es Zeit, sie aus demselben zu entfernen, und daß ein Mädchen wie dieses, das alle Eindrücke für das Weltleben und ihre Beurtheilung desselben durch die Vermittelung unserer Mutter zu empfangen hatte, derselben zur Gattin für Hubert geeignet dünken mußte, war mir sehr wahrscheinlich.

Die Sache focht mich indeß zunächst nicht an. Es war gut, wenn sie zu Hause mit der Angelegenheit, um die sich doch schließlich alles gedreht hatte, so lange ich zu denken vermochte, fertig wurden, wie sie konnten, wie es die Eltern am besten zufriedenstellte; und erst als ich gegen das Frühjahr hin von Hubert einen Brief erhielt, der mit den Worten anhub: „Nimm das Blatt mit offenem Herzen auf, es ist ein Glücklicher, Dein glücklicher Bruder, der sich Dir mit neuem Sinnen und neuem Empfinden in die Arme wirft!“ – gewann die damit angekündigte Verlobung von Hubert und Mira für mich eine Bedeutung. Wohl ihm, dachte ich, wenn er sein Ideal gefunden hat, wenn er mit sich zum Abschluß kommt und das Dasein als ein Glück erachten lernt, so lang es währt. Auch beide Eltern zeigten sich der Verlobung froh, und man hatte die Heirath für den längsten Tag des Jahres festgesetzt, um damit wie in einem Symbol dauerndes Glück vom Himmel auf die zu schließende Ehe herabzuwünschen.

Auch Mira hatte ein paar Zeilen in üblicher Weise unter den Brief ihres Bräutigams geschrieben, sich meiner künftigen brüderlichen Freundschaft zu empfehlen. Es war eine so feste, feine Handschrift und eine so schlichte Ausdrucksweise, wie man sie bei einem so jungen Mädchen selten findet.

Der Vater hatte mir geschrieben, daß er, da ich mein Auskultatorexamen bestanden habe, zunächst für einige Zeit meine Rückkehr wünsche, denn ich war nahezu zwei Jahre nicht in Stegow gewesen; und obschon es mich verlangte, die Eltern und die Heimath wiederzusehen, zumal der Mutter Geburtsfest in die nächste Zeit fiel, wußte ich, daß ich mit meiner Weltanschauung sie von mir abstoßen, oder mehr noch als vordem zu einem Scheinleben namentlich vor der Mutter gezwungen sein würde, und vor beidem trug ich Scheu. Aber ich ging – ging mit gutem Willen – ins Verderben!

Die Ostern fielen spät in dem Jahre, und selbst bei uns im Norden knospten die Sträucher schon, als ich am Gründonnerstag auf der Poststation unseren Wagen vorfand und das breite ehrliche Gesicht unseres alten Kutschers mir entgegenlachte, sein treuherziges: „Na, guten Tag auch, junger Herr!“ mir mit bekanntem Klange das Ohr berührte. Ich kannte den Posthalter, er kannte mich. Alle und jeder riefen und nickten mir zu. Selbst der alte schwarze Pudel sprang wedelnd an mir empor – wir flogen mit dem leichten Wagen und den starken Pferden rasch davon. Ich kannte jeden Busch und jeden Baum und jede Hecke, der ganze Zauber der Heimath, der Erinnerung umfing mich. Nun sah ich sie vor mir, die thurmartigen Flügel unseres Schlosses, nun fuhren wir ein in den breiten weiten Hof – und sie traten heraus aus des Schlosses Thor: der Vater, die Mutter, Hubert und Mira, um die er, sich an ihr stützend, seinen Arm geschlungen hatte, und – –

Wie ein Blitzstrahl fuhr es durch mein ganzes Sein! – Das war sie! – das war es, wofür es der Mühe des Lebens lohnte! – Und wie ein niegekanntes Entzücken in mir aufloderte, so loderten der Neid und der Haß in mir auf, gegen Hubert, dem man dies Ideal geopfert, – selbst gegen die Eltern, die es ihm geopfert!

Ich fühlte des Vaters Arm auf meiner Schulter, der Mutter Lippen auf den meinen, des Bruders Hand berührte mich, ich hörte Worte der Liebe, sah Miras Augen mit Neugier auf mich gerichtet – und in mir rief es: fort! fort! noch in dieser Stunde – zurück in die Oede – denn die Welt ist öde und leer, wo sie nicht ist! – Aber sollten sie mich für einen Wahnsinnigen halten?

Jeder pries sie mir. Die Eltern waren ihres Lobes voll, sicher des Glücks ihres Sohnes. Ich empfand Huberts siegesfrohes Lächeln, wenn seine bleichen Lippen ihre Schönheit berührten, wie eine Entheiligung – ich! dem nichts mehr heilig gewesen war in der entgötterten Welt – nichts! als er sich selber, ich mir selber. Mich hatte ich zu behaupten vor den andern! – damit betrog ich mich, um nicht fliehen zu müssen, um bleiben zu dürfen, bleiben zu müssen, als wäre sie nicht da!


Ich darf nicht verweilen bei ihr und bei der Zeit. Wenig Tage vergingen, bis ich gewiß war, daß sie ihn nicht liebte, daß die Mutter sie dazu gestimmt hatte, sich ihm zum Opfer zu bringen, bis ich es sah, wie ihr Blick sich suchend, Rath, Hilfe, Weisung suchend nach mir wendete – bis sie in meinen Armen ihr Geschick beweinte und die glühendste Liebe uns verband.

Wie im Wirbel drehten sich meine Gedanken in meinem Hirne. Ich, der an nichts glaubte, dem nichts heilig war, der die Gesetze der Sitte, der Ehre als menschliche, wandelbare Schranken ansah, die sich ändern und in ihr Gegentheil verkehrt werden können je nach menschlichem Belieben, ich hätte sie nicht in Schande zu besitzen vermocht. Mein sollte sie werden, mein ehrliches Weib, und im Hinblick auf sie begann eine Wandlung in mir, die ich mir nicht zu deuten vermochte.

Ich darf die Geliebte mir nicht zurückrufen in dem Strahlen ihrer reinen Schönheit, aber sie verklärte mir das Leben und die Welt.

Sie war es, die das Wort sprach: „Laß uns fliehen!“

Fliehen? Wie Diebe fortgehen aus dem Vaterhause? Nimmermehr! Fordern wollte ich sie offenen Angesichts kraft meiner und ihrer Liebe – alle Hoffnungen der Eltern, des Bruders, die es zu zerstören galt, konnten nicht in Betracht kommen neben dem Elend und der Schmach, der man Mira überantwortete, wenn man sie zu der verhaßten Ehe mit dem Ungeliebten zwang. Und doch versagte mir immer wieder der Muth, wenn ich die Mutter sah, wie ihr Auge voll Liebe und Stolz auf dem jungen Paar ruhte, wie sie sich im Anblick des Glücks ihres Erstgeborenen selbst wieder verjüngte; wie sie, die den Plan dieser Verbindung zuerst erfaßt und zur Ausführung gebracht hatte, sich ihres gelungenen Werkes freute; wie sie glaubte, nun erst das vermeintliche Unrecht ganz wieder gutgemacht zu haben, das sie Hubert, noch ehe er das Licht des Tages erblickt, durch ihre Unvorsichtigkeit zugefügt und dessen sie sich anzuklagen nie aufgehört hatte. Auch dem Vater schien eine schwere Sorge von der Brust gewichen. Und was ihr Glück war, das war meine Verzweiflung. Mit Hubert selbst hatte ich kein Mitleid, ich haßte ihn, ich konnte, ich wollte nicht glauben, daß das Gefühl, das er so offen zur Schau trug, ein echtes, tiefes sei, daß er in Casimira mehr als eben das Aeußerliche, das schöne, reizende Weib, um das ihn die Welt beneidete, zu schätzen wußte. Der Gegensatz unserer Naturen, wie sie sich von früh auf entwickelt hatten, war ein zu großer, ich war zu sehr daran gewöhnt, das, wofür ich mich begeisterte, was mir als ein Ideal vorschwebte, von dem älteren Bruder verspottet zu sehen und umgekehrt das gering zu schätzen, wofür er sich die überkommene Ehrfurcht bewahrt hatte, als daß ich in diesem Fall an eine Gemeinsamkeit unserer Empfindungen hätte glauben können.

Und sein eigenes Benehmen bestärkte mich in dieser Ansicht, die freilich nur zu sehr mit meinen Wünschen übereinstimmte. Geflissentlich bestürmte er Mira mit seiner unwillkommenen Zärtlichkeit, wenn andere zugegen waren, wenn ich selbst Zeuge sein mußte. Es war, als erriethe er meine Pein, als strebte er so recht absichtlich, den Stachel noch tiefer in die Wunde zu bohren. O, was litt ich damals! Wie mußte ich mir Gewalt anthun, auch nur äußerlich meine Fassung zu bewahren, mich nicht auf ihn zu stürzen, ihn von ihr zu reißen mit Gewalt – doch genug!

Mira verfügte nicht über dieselbe Kraft der Selbstbeherrschung wie ich. Sie hatte alles ruhig über sich ergehen lassen als ein Nothwendiges, so lange sie die Welt eben nur durch die Augen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 839. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_839.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)