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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

„Glaubst Du,“ fuhr Hubert mit einer Steigerung des früheren Tones fort, „daß ich wie Blicke, die Du unausgesetzt auf Mira wirfst, nicht bemerkt, daß ich es nicht bemerkt habe, wie Du Dich in ihre Nähe drängst, sie mit Deinen fein gedrechselten Phrasen, die Du ja wohl auf der Universität gelernt hast, verfolgst und ihr Gemüth zu umstricken, zu verderben suchst?“

„Hubert!“ schrie ich.

„Schweig!“ erwiderte er in befehlendem Ton, „und laß mich reden, den Aelteren! Freilich, ich theile Deinen Geschmack vollkommen. Mira ist schön, ein berückendes, herrliches Weib! O, auch ich bin nicht blind für ihre Vorzüge, so wenig wie für die Deinen, denn auch Du bist ein hübscher feiner Junge mit gesunden, kräftigen, gelenken Gliedern, so recht wie ein Romanheld sein soll, während ich auf Krücken herumhumple. Und doch rathe ich Dir als guter Freund: Laß ab von ihr; nimm Dich und Deine Sinne von nun ab besser in Zaum! So leicht wie einst auf die kleine Eveline werde ich auf sie, die mir gehört, nicht verzichten; die Zeiten haben sich geändert seitdem. Und ich rathe Dir dieses nicht nur, sondern ich befehle es Dir, denn Mira gehört mir, sie ist mein Eigenthum, meine Braut und bald mein eheliches Weib, die künftige Herrin von Groß-Stegow!“

„Sie ist Dein Opfer,“ unterbrach ich ihn, außer mir vor Wuth über den rücksichtslosen Ton, in dem er von ihr, die ich anbetete, sprach, „und nicht länger soll sie es sein! Lang genug bin ich ein Feigling gewesen, der sie hilflos leiden sah, lang genug hab’ ich’s widerstrebend in mir verschlossen, aber endlich muß es heraus, Du selbst willst es. Glaubst Du wirklich, Mira, die Herrliche, liebe Dich, armer Thor?“ Er wollte aufspringen, ich drängte ihn mit Gewalt in den Stuhl zurück. „Nein, jetzt rede ich, der Jüngere, und Du, der Aeltere, der Majoratsherr, Du sollst und mußt mich hören, anhören bis zum Ende. Nicht Dir, mir gehört Miras Herz! Aus Klostermauern erlöst, ohne jede Kenntniß von der Welt und den Menschen, hat sie sich dem Wunsch der Mutter, ihrer Wohlthäterin, gefügt, ist sie Deine Braut geworden, hat sie stumm Deine Liebkosungen ertragen, wäre sie vielleicht gar Dein eheliches Weib geworden, wenn ich nicht gekommen wäre. Aber ich kam und weiter soll es nicht gehen, das will die Natur nicht, mag es tausendmal Dein und der Eltern Wunsch sein! Mich liebt sie, mich flehen ihre Blicke um Befreiung aus dem schmachvollen Joch an, in das man sie geschmiedet, und ich sah ihre Qual und zögerte. Fliehen wollte sie mit mir, sterben lieber, als Dir gehören. Aber nicht durch feige Entführung und Flucht, nicht als eine Todte, lebend will ich sie mir gewinnen. Was ich längst hätte thun sollen, heute noch soll es geschehen. Vor unsere Eltern will ich hintreten und sie von ihnen, von Dir vor aller Welt verlangen als mein Eigenthum, das sie durch freie Wahl und durch eine höhere Bestimmung ist als die Eure, die ich nicht anerkenne!“

„Elender, Schamloser!“ zischte Hubert. Mit einem plötzlichen Ruck machte er sich von meiner Faust, die ihm bis dahin schwer auf der Schulter gelastet hatte, frei. Er tastete wie im Fieber nach der geladenen Pistole, die vor ihm auf dem Tisch lag, ergriff sie, sprang auf und stürzte mit der erhobenen Waffe auf mich los. Aber auch ich war meiner Sinne nicht mehr mächtig. „Krüppel, erbärmlicher Krüppel, Du wagst es?“ gab ich ihm die Beschimpfung zurück; „wohl, so mag es sein, Du oder ich, einer von uns beiden muß sterben!“ Blitzschnell faßte ich ihn mit der linken Hand am Hals, mit der Rechten entriß ich ihm die Pistole und setzte sie ihm auf die Brust.

„Mörder! Mörder!“ stöhnte er halberstickt unter meinem Griff.

„Erwin!“ gellte da plötzlich ein verzweifelter Schrei. „Was thust Du?“

Es war meine Mutter. Sie mochte den anderen, die mit ihr vom Schloß kamen, in ahnungsvoller Besorgniß vorausgeeilt sein, als sie den Lärm unserer Stimmen vernommen hatte, und nun, da sie das Schlimmste, was sie besorgen konnte, bestätigt sah, warf sie sich in der Todesangst ihres Herzens zwischen uns und riß meine bewaffnete Hand gewaltsam weg von des Bruders Brust, ach, nur um sie gegen ihre eigene zu kehren. Hubert sank, von meinem Griff befreit, schwerfällig in den Stuhl zurück, und in demselben Augenblick, ehe ich noch zur Besinnung gelangt war, krachte der Schuß und die Mutter stürzte lautlos neben mir zu Boden.

Die Waffe entfiel meiner Hand, eine Weile stand ich betäubt, das Gräßliche kaum begreifend, dann beugte ich mich über sie. Nur ein schwaches, dumpfes Röcheln rang sich noch von ihren mit blutigem Schaum bedeckten Lippen, über ihr Auge, das treue, zärtliche Mutterauge, war schon der trübe, gläserne Schleier des Todes gebreitet. Die Kugel hatte ihr die Brust durchbohrt, die Brust, die mich genährt. Ich wollte sie aufrichten, ein Blutstrom brach aus der Wunde, es war alles vorbei, und ein lebloser Körper entglitt meinen Armen, die nicht würdig waren, ihn zu halten. Und Hubert lag mit weit aufgerissenen, starren Augen lautlos, regungslos, wie ein Leichnam mit bleichen Lippen und offenem Mund in seinem Stuhl. Hatten Schreck und Entsetzen auch ihn getödtet, hatte meine Faust ihn erwürgt? –

Ein Geräusch schnell nahender Schritte weckte mich aus der Betäubung, in der ich das alles nur wie durch einen rothen, zuckenden Schleier sah. Auf der Schwelle des Eingangs erschien Mira, hinter ihr mein Vater; der Anblick, der sich ihnen hier bot, bannte sie einen Augenblick schaudernd auf die Schwelle. „Mörder! Doppelter Mörder!“ rief mein Vater, rief Mira. Oder waren es nur die Rächerstimmen in meiner Brust, die so riefen? –

Jetzt erst ward ich mir meiner unseligen That ganz bewußt. Vor ihrem Anblick floh ich wie ein gehetztes Wild die Schießbahn hinunter, kletterte über den Wall, gelangte aufs freie Feld, sprang über Gräben und Hecken ohne Weg und Ziel, den Abend, die Nacht hindurch, immer verfolgt von dem fürchterlichen Ruf, bis ich erschöpft zusammenbrach.

Am nächsten Morgen stellte ich mich selbst den Gerichten.


6.

Ich entsinne mich, daß ich in einer Krankenzelle im Bette lag, wo der Arzt mich pflegte; daß ich in einer Gefangenzelle ruhelos auf und nieder ging; daß ich viele Verhöre bestand, ohne daß ich wußte, was ich angegeben, noch wie lange das gedauert hatte, bis ich endlich in einem großen Saal saß, den viele Menschen füllten, Geschworene, Richter und ein vielköpfiges Publikum von Männern und Frauen, feierlichen Ernst, stilles Mitleid, erbarmungslose Neugier in den Zügen. Ich selbst saß auf der Anklagebank, die mit Schranken umgeben, von Gendarmen bewacht war, und hinter mir saß der Vertheidiger, den man mir beigegeben, ohne daß ich’s verlangt hatte. Er sprach mir Muth zu, dessen ich nicht bedurfte, denn ich war ruhig, schier theilnahmlos.

Der Präsident eröffnete die Sitzung. Da der Angeklagte, so etwa begann er, gleich bei der ersten Vernehmung ein volles Geständniß abgelegt und dasselbe bei allen ferneren uneingeschränkt aufrecht erhalten habe, auch der Einwand der Vertheidigung, daß bei ihm eine geistige Störung und hierdurch bedingte Unzurechnungsfähigkeit vorliege, durch das auf genaueste Untersuchung und Beobachtung gegründete Gutachten der Herren Sachverständigen bereits widerlegt sei, da zwei Hauptbelastungszeugen, nämlich die im Lauf der Voruntersuchung ins Kloster getretene Casimira von Gliwitzka, welche auf Grund ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen zu dem Angeklagten das Zeugniß abgelehnt habe, und der durch den Schmerz über des Sohnes Frevelthat ans Krankenlager gefesselte Vater des Angeklagten, welcher nach ärztlichem Ausspruch als nicht vernehmungsfähig zu betrachten sei, wegfallen, und da auch der schwerkranke Bruder sein Zeugniß nur schriftlich habe zu Protokoll geben können, so sei zu hoffen, daß dieser überaus traurige Fall den Gerichtshof wenigstens nicht allzulang beschäftigen werde. Er verlas hierauf das Gutachten der Aerzte, das Zeugniß meines Bruders, das den Thatbestand genau wiedergab, soweit ich mich dessen entsinnen konnte, denn seit ich von Miras Rücktritt ins Kloster und meines Vaters Krankheit vernommen hatte, beschäftigten sich meine Gedanken nur noch damit.

Ich bestätigte alles, was die später vernommenen Zeugen über mein Vorleben, mein Verhältniß zu dem Bruder angaben. Es waren meist Leute aus unserer Dienerschaft, die in Trauerkleidern erschienen, mich mit theilnehmendem, sogar thränenfeuchtem Blick ansahen und gerne zu meinen Gunsten ausgesagt hätten. Die Querfragen, die der Staatsanwalt an sie richtete, bezogen sich namentlich darauf, ob ich nicht früher schon Gelüste nach dem Majorat an den Tag gelegt, meinen Bruder mit schelen Augen betrachtet, hämische Reden über ihn geführt habe, ob ferner der Gang nach dem Schießstand an jenem verhängnißvollem Nachmittag nicht doch auf meine, wenn auch nur mittelbare Veranlassung unternommen worden, ob ich an dem Zurückbleiben der anderen,

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