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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889)

Als ich in katholisches Land kam und oft feierlichen Prozessionen von Mönchen und Wallfahrern begegnete, ihre frommen Gesänge vernahm und die heiligen Gebräuche wieder sah, die mich an meine Kindheit gemahnten, da kam mir wohl auch der Gedanke, in ein Kloster zu treten. Dort, sagte ich mir, erhältst du einen andern Namen, dort findest du Ruhe und Frieden; und wenn ich mich dann mit der Menge auf die Kniee warf und mich bekreuzend die Gebete, wie ich sie einst gelernt, wiederholte, da bildete ich mir ein, ich sei reif zu solchem Los. Aber war nicht diese Einbildung schon ein Beweis des Gegentheils? Durfte ich ein Los begehren, das Mira sich erwählt? Nein, wandern mußte ich, unstät wie jener, der den Herrn von seiner Schwelle stieß, bis Gott selbst mir das Ziel setzte, und so zog ich weiter, tiefer ins Gebirg hinein, wo Eis und ewiger Schnee die Berge deckt und an den kahlen Felszacken kein Halm sprießt und die Ströme zu Gletschern erstarren.

Da, als ich über den Mont Cenis wollte, verließen mich plötzlich Muth und Kraft. Ich hatte mich bei geringer Nahrung überarbeitet beim Ausgraben einer Hütte, die durch einen Lawinensturz verschüttet worden war im Thal auf der italienischen Seite. Nur ungern hatte man mich ziehen lassen, denn es gab dort noch genug zu thun, auch die Eisenbahnlinie war unterbrochen und es fehlte an Arbeitskräften. Die Passagiere der Züge mußten umsteigen, eine Strecke zu Fuß zurücklegen, und eben das war’s, was mich forttrieb. Ich wußte, daß in dieser Zeit viele Norddeutsche die Gegend durchreisten, und vor einer Begegnung mit meinen früheren Landsleuten scheute ich mich. Darum schlug ich mich tiefer ins Gebirg und wanderte die alte, verlassene Straße hinauf.

Hier an einer Stelle, wo ich mich niedergelassen hatte, von welcher der Hang nach der einen Seite steil, fast senkrecht abfiel in schwindelnde Tiefe, daraus gedämpft das Rauschen eines Wildbachs zu mir herauftönte, während rings herum die Bergriesen sich thürmten, hier in der schauerlichen Einsamkeit kam es über mich: wie klein ist doch der Mensch im Vergleich zu diesen Riesenwerken der Schöpfung, er, der sich ihr Herr dünkt! Was ist er mehr als ein winziges Gebilde des Zufalls, in die Welt geschleudert wie jene? Aber während sie feststehen in ihrer steinernen Majestät und mit eisbedeckter Stirn dem Lauf der Zeiten trotzen, wird er rastlos umhergetrieben von den Launen des Schicksals, heute erhoben und morgen zu Boden geschmettert, bis ihn früher oder später die kühle Erde deckt oder der kalte Schnee, wie die Bewohner jener Hütte im Thal. Sie hätten ihr elendes Leben wohl gerne noch weiter geführt, aber ich, was soll ich noch hier? Und wenn keine Lawine niederstürzt, mich zu begraben, ist nicht der Abgrund vor mir auch ein Grab, so gut wie jedes andere? Einer weniger von Millionen! Wer fragt danach, wen stört es? Die Berge stehen so fest wie vorher, aber das ist es, was der Mensch vor jenen Schöpfungskolossen voraus hat, der freie Wille, durch den er, wenn er’s für gut findet, seinem Dasein selbst ein Ziel setzt.

Mit solchen Gedanken beugte ich mich tiefer über den Abgrund, ein eisiger Hauch wehte von drunten zu mir herauf, der mir wohlthat; immer stärker drang das Brausen des Wildbachs in mein Ohr, es betäubte mich.

Schon faßte mich der Schwindel, da war mir’s plötzlich, als riefe hinter mir eine Stimme, eine schwache zitternde Greisenstimme: „Erwin!“ und ich fuhr zurück.

„Erwin!“ Das war meines Vaters Stimme, die Stimme des alten, gelähmten Mannes, der täglich im warmen Mittagssonnenschein an dem Grab seines Glücks saß, den Hügel mit frischen Blumen schmückte und mit gefalteten Händen, wie ein Heiliger verklärt, geduldig abwartete, was der Himmel über ihn beschlossen und wann es ihm gefiele, ihn abzurufen und wieder zu vereinigen mit der, die er auf Erden am meisten geliebt.

Und das Dasein, das er, der Schuldlose, der ein langes Leben voll schwerer, redlicher Arbeit hinter sich hatte, so geduldig trug, das wollte ich, der Schuldbeladene, abkürzen und feige von wir werfen?

Was hatte ich denn gethan, meine Schuld zu sühnen, mir den Tod, der als ein Erlöser nach des Tages Arbeit den Pflichttreuen abruft, zu verdienen? War meine Arbeit denn gethan, hatte ich auch nur einen ernsten Versuch gemacht, den Weg der Pflicht, den ich einmal verlassen, wieder zu finden, der Pflicht gegen die Menschheit, gegen den Schöpfer meiner Kraft und gegen mich selbst, jener Pflicht, deren muthige Erfüllung allein das Vergangene auslöschen und selbst wieder gutmachen konnte? – Nein, wo sich mir eine Gelegenheit dazu bot, war ich ihr in falscher Scham entflohen, und nun wollte ich der Pflicht des Lebens selbst entfliehen, diese neue Schuld wollte ich auf mein Gewissen, diese neue Schmach auf mein Geschlecht, auf das greise Haupt meines Vaters laden? Nein, nie! Dank, Vater, daß Du mich gewarnt, daß Du mir den rechten Weg gezeigt hast, den ich fortan wandeln will.

Ganz entsetzt floh ich von der Stelle.

Ach, nun erkannte ich, wie viel mir noch zur rechten Buße fehlte, wie alles Bisherige nur Selbstbetrug gewesen war. Und ich beschloß, ein neues Leben zu beginnen, meine Kraft, die ich in ziellosem Umherschweifen vergeudet hatte, fortan der Menschheit dienstbar und nützlich zu machen, wo und wie immer es sei. Drunten im Thal gab es Arbeit, zu ihr, der ich feige entflohen war, wollte ich muthig zurückkehren.

Nur den alten Namen wollte ich zuvor begraben, wie ich den alten Menschen begrub. Der sollte todt sein für diese Welt und als ein neuer, besserer in ihr wieder auferstehen.

Hier an der Stätte, wo schon so mancher, wie die am Weg stehenden Kreuze und Bildstöcke bewiesen, gegen seinen Willen den Tod gefunden hatte, wollte ich mich mit Willen noch lebend begraben, und doch sollte es scheinen, als hätt’ ich’s nicht selbst gewollt, als wäre ich verunglückt wie jene.

Meinen Paß aus dem Zuchthaus, die Papiere, die meine Herkunft bezeugten, meine Uhr und den geringen Rest meiner Barschaft steckte ich in die Taschen der Kleider, die ich im Bündel mit mir trug, damit es nicht scheine, als hätten Räuber mich überfallen. Dann ließ ich das Bündel den steilen Hang vorsichtig so hinabgleiten, daß es an einer Felszacke hängen blieb. Dort mochte es, wenn es von einem Vorübergehenden entdeckt wurde, dafür zeugen, daß Erwin von Klaritz hier abgestürzt, daß sein Leichnam irgendwo drunten in der grausigen Tiefe zerschmettert liege.

Ich aber schritt rüstig, denn alle meine Kräfte waren mir wiedergekehrt, des Weges zurück und meldete mich drunten bei der Direktion zur Arbeit an dem verschütteten Bahnkörper, wo ich mit offenen Armen aufgenommen wurde.

Es dauerte Wochen, bis das letzte Hinderniß beseitigt und die Linie wieder frei war. Ich hatte wacker dabei mitgeholfen. Die Beamten, die dies wohl bemerkten, fragten mich, ob ich schon einen andern Dienst habe. Ich verneinte; da bot man mir, weil es eben an Kräften mangelte, an, als Eisenbahnarbeiter Aushilfsdienste zu thun, und ich nahm’s an. Freilich, Papiere hatte ich keine, ich gab vor, sie seien mir abhandengekommen, nannte mich Johann Stiller, meine Heimath, mein Alter gab ich richtig an. Man forschte nicht weiter, man brauchte eben Leute, und zudem war ich ja nur aushilfsweise angestellt.

Ich war, wie mein Name besagte, ein stiller Mann, versah meinen Dienst pünktlich, lernte mit Leichtigkeit die verschiedensten Verrichtungen, zu denen man mich gebrauchte.

Nach verhältnißmäßig kurzer Zeit wurde mir die Bedienung einer Weiche anvertraut, und als der schon bejahrte Bahnwärter in dem Häuschen, vor dem Sie mich gesehen haben, starb, erhielt ich seine Stelle.

Immer und bis heute bin ich nur ein Hilfsarbeiter, aber aus dem provisorischen Verhältniß wurde eben stillschweigend ein dauerndes; die Beamten mochten mir wohl einen Theil meiner Schicksale, so sehr ich mich auch zusammennahm, von den Zügen ablesen, aber sie drangen nicht weiter mit Fragen in mich.

Nun hatte ich, was ich wollte. Vergessen von den Meinigen, von allen, die die Kunde meines Todes erreicht hatte, und doch von dem großen Strom des Lebens täglich, stündlich umbraust, wollte ich lernen, mich selbst, meine Vergangenheit vergessen.

Wie schwer das ist, das hat mir Ihr Anblick gezeigt, des ersten bekannten Gesichts, das ich nach vielen Jahren wiedersah, obgleich ich oft, wenn die Schnellzüge in der Reisezeit an mir vorüberflogen oder auch einige Minuten still hielten und ich mit geschulterter Fahne regungslos auf meinem Posten stand, heimlich nach den Wagenfenstern spähte.

Keinen hab’ ich, keiner hat mich erkannt, nur Sie, die Sie ja auch mein innerstes Wesen früher erkannt als die anderen und als ich selbst und mich oft gewarnt haben vor mir selbst.

(Schluß folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1889). Leipzig: Ernst Keil, 1889, Seite 863. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1889)_863.jpg&oldid=- (Version vom 15.7.2021)