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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

ich einen richtigen Schreck kriegte und bloß nicht wußte, an wen ich dabei denken sollte, ob an Opitzen oder an Lehnert. Ja, liebe Frau Menz, ,jeder That’, so steht drin, und daß er aus diesem Grunde beantrage, die Strafe streng zu bemessen, und zweitens auch deshalb, weil er viel Anhang und Zuhörerschaft habe und überall in den Kretschams herumsitze und den Leuten Widersetzlichkeit beibringe, was um so thörichter und strafenswerther sei, als er eigentlich einen guten Verstand habe und sehr gut wisse, daß alles, was er so predige, bloß dummes Zeug sei. Er sei ein Verführer für die ganze Gegend, so recht eigentlich, was man einen Aufwiegler nenne, und rede beständig von Freiheit und Amerika und daß es da besser sei als hier, in diesem dummen Lande. Ja, Frau Menz, das alles hat Opitz geschrieben, und am Schlusse hat er auch noch geschrieben, daß man an Lehnert ein Exempel statuiren müsse, damit das Volk ’mal wieder sähe, daß noch Ordnung und Gesetz und ein Herr im Lande sei.“

„Das alles?“

„Ja, Frau Menz, das alles. Denn das weiß ich schon, weil ich öfter so ’was lese, wenn er erst mal im Zug ist, dann ist kein Halten mehr, und auf eine Seite mehr oder weniger kommt es ihm dann nicht an, schon weil er eine hübsche Handschrift hat und mitunter zu mir sagt: ,Nu, Christine, wie gefällt Dir das große H?’ und vor allem, weil er gerne so was schreibt von Ordnung und Gesetz und dabei wohl denken mag, so was lesen die Herren gern und halten ihn für einen pflichttreuen Mann.“

Christine hätte wohl noch weiter gesprochen, aber Lehnert, der schon von früh an oben im Dorf gewesen war, kam eben von Krummhübel zurück, wohin er eine Wagenachse abgeliefert hatte. Christine mocht’ ihm nicht begegnen, um nicht aufs neue in ein Gespräch verwickelt zu werden, oder vielleicht auch, weil sie die Wirkung der schlimmen Nachricht auf ihn nicht selber sehen wollte. So nahm sie denn ihren Weg über den nach der Waldseite hin gelegenen Brückensteg und kehrte auf einem Umwege und unter Benutzung einiger im Lomnitzbette liegender Steine nach der Försterei zurück.


9.

Frau Menz hatte zu schweigen versprochen, aber sie war unfähig, etwas auf der Seele zu behalten, und so wußte Lehnert nach einer Viertelstunde schon, was Christine berichtet hatte.

„Laß ihn, er wird nicht weit damit kommen!“

Er sagte das so hin, um die Mutter, so gut es ging, zu beruhigen, in seinem Herzen aber sah es ganz anders aus, und er ging auf das Fenster zu, das er aufriß, um frische Luft einzulassen. Er hatte diesen Ausgang wohl für möglich, aber, bei der Fürsprache drüben, keineswegs für wahrscheinlich gehalten, und nun sollte doch das Schlimmste kommen, und wenn er sich diesem Schlimmsten entziehen wollte, so gab es nur ein Mittel und mußte nun das geschehen, womit er bis dahin in seiner Phantasie bloß gespielt hatte: Flucht. Ungezählte Male war es ihm eine Freude gewesen, von dem elenden Leben in diesem Sklavenlande zu sprechen, von der Lust, dieser Armseligkeit und Knechterei den Rücken zu kehren und übers Meer zu gehen, und doch – jetzt, wo die Stunde dazu da war, das immer wieder und wieder mit Entzücken Ausgemalte zur That werden zu lassen, jetzt wurd’ er zu seiner eigenen Ueberraschung gewahr, wie sehr er seine Heimath liebe, sein Schlesierland, seine Berge, seine Koppe. Das sollte nun alles nicht mehr sein! Um nichts oder um so gut wie nichts war er das erste Mal von Opitz zur Anzeige gebracht worden und um nichts sollt’ es wieder sein! Und wenn es etwas war, wer war schuld daran? Wer anders als „der da drüben“, der ihm den Dienst verleidet hatte, sonst war’ alles anders gekommen und er wäre, was eigentlich sein Ehrgeiz und seine Lust war, bei den Soldaten geblieben und hätte seinem König weiter gedient und hätte jedes Jahr Urlaub genommen und wäre dann mit dem Hirschfänger und dem Czako durch die Dorfstraße gegangen und alles hätte gegrüßt und sich über ihn gefreut. „Um all das hat er mich gebracht, weil er mir’s mißgönnte, weil er nicht wollte, daß einer neben ihm stünde. Ja, er ist schuld, er allein. Um das Kreuz hat er mich gebracht, aber mein Haus- und Lebenskreuz war er von Anfang an und hat mich geschunden und gequält, und wie damals, so thut er’s auch heute noch. Er hat mir das Leben verdorben und mein Glück und meine Seligkeit.“

Als er das letzte Wort gesprochen, brach er ab und sah vor sich hin. Alles was in Nächten, wenn er nicht schlief, ihm halb traumhaft erschienen war, erschien ihm in diesem Augenblicke wieder, aber nicht als ein in Nebelferne vorüberziehendes Bild, sondern wie zum Greifen nah’, und in seiner Seele klang es noch einmal nach „und meine Seligkeit.“

Es war Mittag und Frau Menz brachte die Mahlzeit. Aber Lehnert aß nicht, und als die Alte ihm zuredete, wies er es kurzer Hand ab, stand auf und ging in seine Kammer, um, was ihn peinigte, los zu werden und Ruhe zu suchen. Wenn er hätte schlafen können! Aber er fühlte nur, wies hämmerte. Mit einem Male sprang er auf. „Nein, ich bleibe. Nicht fort. Ich will nicht fort. Einer muß das Feld räumen, gewiß. Aber warum soll ich der eine sein? Warum nicht der andere? Mann gegen Mann . . . und oben im Wald . . . und heute noch. Ich sage nicht, daß ich’s thun will, ich will es nicht aus freien Stücken thun, nein, nein, ich will es in des Schicksals Hand legen, und wenn das es fügt, dann soll es sein . . . Und das Papier drüben und alles, was drin steht, das will ich schon aus der Welt schaffen . . . Und wenn ich ihm nicht begegne, dann soll es nicht sein und dann will ich mich drein ergeben und will ins Gefängniß, oder will weg und über See.“

Lehnert war klug genug, alles was in diesen seinen Worten Trugschluß und Spiegelfechterei war, zu durchschauen, aber er war auch verrannt und befangen genug, sich drüber hinwegzusetzen, und so kam es, daß er sich wie befreit fühlte, nach all dem Schwanken endlich einen bestimmten Entschluß gefaßt zu haben. Er wartete bis um die sechste Stunde, legte dann wie stets, wenn er ins Gebirge wollte, hirschlederne Gamaschen an und stieg, als er sich auf diese Weise marschfertig gemacht hatte, von seiner Bodenkammer wieder in die Wohnstube hinunter. Hier riß er aus dem unter der Jagdflinte hängenden Kalender ein paar Blätter heraus und wickelte was hinein, was wie Flachs oder Werg aussah. Alles aber that er in eine Ledertasche, wie sie die Botenläufer tragen, gab dann der Alten, unter einem kurzen „Adjes Mutter“, die Hand und ging auf das sogenannte „Gehänge“ zu, den nächsten Weg zum Kamm und zur Koppe hinauf. Drüben in der Försterei schien alles ausgeflogen. Nur Diana lag auf der Schwelle und sah ihm nach.

Lehnert verfolgte seinen Weg, der ihn zunächst an den letzten Häusern von Wolfshau vorüber führte. Von hier aus bis zu dem das gräfliche Jagdrevier auf Meilen hin einhegenden Wildzaun waren keine tausend Schritt mehr, ein mit Kusseln besetztes Waldvorland, auf dem sich in diesem Augenblick eine Krummhübler Kinderschar heranbewegte, lauter halbwachsene Mädchen, die, von ihrem Lehrer geführt, eine Tagespartie nach der Schwarzen Koppe hinauf gemacht hatten. Lehnert blieb stehen. Als sie näher kamen, sah er, daß sie Blumen in Haar und Hand trugen. Und dazu sangen sie:

Schlesierland! Schlesierland!
Du bist es, wo meine Wiege stand.
Wo die Schneekoppe hoch in die Wolken steigt,
Wo der Kynast grau die Zinnen zeigt,
Wo Rübezahl tief im Berge thront,
Wo Liebe, Frohsinn, Treue wohnt,
Schlesierland! Schlesierland!
Du bist es, wo meine Wiege stand.

Es war dasselbe Lied, das er in seinen Knabentagen und dann später, bei den Jägern, auf manchem heißen Marsch in Frankreich gesungen hatte. Wie das Lied ihn jetzt ins Herz traf! Er trat zurück, um den jungen Dingern, von denen die meisten ihn kannten, den Weg frei zu geben. Sie nickten ihm zu und eine gab ihm im Vorübergehen den Enzianenkranz, den sie hoch oben im Gebirge gepflückt und geflochten hatte. „Da, Lehnert!“ Und kaum, daß sie vorbei waren, so nahmen sie das Lied wieder aus und sangen die letzte Strophe:

Schlesierland! Schlesierland!
Du bist es, wo meine Wiege stand,
Ach, werd’ ich je Dich wiederseh’n,
Im Schatten Deiner Tannen geh’n.
Und sehen, wie die Wolken zieh’n’?
Auch in der Ferne knüpft mich ein Band
An Dich, geliebtes Heimathland.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_086.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)