Seite:Die Gartenlaube (1890) 091.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

durfte. Das Frühere mit der Begegnung oder Nichtbegegnung und dem Gottesurtheil darin, das war etwas Ausgeklügeltes gewesen, jetzt aber war das Schicksal aus freien Stücken für ihn eingetreten und hatte gegen Opitz entschieden. Er seinerseits war nur Werkzeug gewesen, dessen sich die Vorsehung zur Abstrafung eines bösen Menschen bedient hatte.

Dies waren so die Vorstellungen, in denen er sich erging und die so stark waren, daß selbst die Stimme des Mitleids darin erstickte. Nur an die Frau dacht’ er mit Theilnahme. „Sie war immer gut gegen mich; aber sie wird sich trösten und nach Jahr und Tag dem vielleicht danken, der’s that und sie mit befreite.“

Und nun war sein Frühstück beendet und er empfahl sich und ging auf die Riesenbaude zu. Hier angekommen, bog er in den Riesengrund ein, sich berechnend, daß er um Zehn in Trautenau sein könne. Da, das mußt’ er, fand er Freundschaft und Anhang und konnte leicht weiter, fort in die Welt, und war dann keine Noth und Gefahr mehr. Aber mußt’ er denn fort? Um was war denn überhaupt alles geschehen? Doch nur, um nicht in die Welt hinaus zu müssen. Wenn er aber umgekehrt Platz machen wollte, dann konnte ja „der andere“ bleiben und die Leute weiter quälen. Nein, er durfte nicht gehen! Wenn er ging, war alles umsonst gewesen. So sann er auf seinem Wege hin und her, und als er bis Johannisbad gekommen war, war er entschlossen, den Weitermarsch bis Trautenau aufzugeben und in seine Wolfshauer Stellmacherei zurückzukehren. Es zog ihn mit einemmal wieder heim und ein seltsames Verlangen regte sich in ihm, Zeuge zu sein, wie nun alles kommen werde.

* * *

Der Abstieg war bequem gewesen, jetzt aber ging es wieder steil bergan und von Bequemlichkeit war keine Rede mehr. Indessen er war ein guter Steiger und schon um Vier war er wieder auf dem Koppenkamm und um Sechs in Wolfshau.

Die Mutter, die die Siebenhaarsche Predigt unten in Arnsdorf nicht versäumt hatte, stand am Herd und hielt just einen Bunzlauer Kaffeetopf und ein Stück Streußelkuchen in Händen, als Lehnert unter Kopfnicken eintrat.

„Guten Tag, Mutter!“

„Tag, Lehnert!“

„Weiter nichts, Mutter? Du bist doch sonst nicht so kurz. Nichts Neues? Nichts vorgefallen? Keine Menschenseele dagewesen? Der Streußel da kann doch nicht durch den Schornstein gekommen sein, wie der Klapperstorch oder der Gottseibeiuns.“

„Ach, rede doch nicht von dem, der kommt doch, der kommt auch so.“

„Durch die Thür, meinst Du?“

Sie nickte, that einen Zug und starrte dann wieder schweigend vor sich hin, ohne Lehnert anzusehen. Der schwieg auch. Endlich sagte sie: „Opitz ist noch nicht da.“

„So?“

„Die Frau war hier und weinte.“

„Warum?“

„Weil sie glaubt, daß ihm was passirt sein könne.“

Lehnert lachte. „Dann muß eine Förstersfrau jeden Tag weinen.“

„Und dann fragte sie nach Dir . . .“

„So, so. Und was sagtest Du?“

„Daß Du nach dem ,Waldhaus’ gewollt hättest und vom Waldhaus nach Arnsdorf . . . vielleicht von wegen dem Hof’ . . . zum Grafen. Aber ich wüßt’ es nicht genau.“

„Das ist recht, Mutter, daß Du das gesagt hast, daß Du gesagt hast, Du wüßtest es nicht genau. Das ist immer das beste, das mußt Du immer sagen. Und nun gieb mir einen Schluck von dem Kaffee da. Nein, laß lieber, ein Teller Milch ist mir besser. Ich bin verhungert und verdurstet. Seit heute früh keinen Bissen und keinen Tropfen.“

Beide standen auf, Lehnert um sich umzuziehen und die Gamaschen abzuthun, die Mutter, um ihm die Milch zu holen, die nach Landesbrauch in einer vom Ufer aus vorgebauten Steinhütte stand, durch welche die Lomnitz hindurch schoß und Kühle gab.

Als Lehnert wieder treppab kam, sah er, daß die Mutter ihm das Abendbrot vor dem Hause hergerichtet hatte, neben dem Rosenbusch, unter dessen überhängendem Gezweig er am liebsten saß. Drüben aber, in der Hausthür der Försterei, stand die gute Frau Opitz und sah abwechselnd nach dem Gehänge hinauf und dann wieder in die tiefroth untergehende Sonne.

„Nicht hier, Mutter!“

„Aber es ist doch Deine Lieblingsstelle!“

„Ja, sonst. Aber heute nicht.“

Und er hieß sie den Tisch mit anfassen und beide trugen ihn mit leichter Mühe durch den Flur, bis vor die Küchenthür. Da nahm er nun Platz und aß.

Als er damit geendigt hatte, stand er auf und ging wieder in die Vorderstube, in der jetzt völlige Dämmerung herrschte. Die Mutter war noch draußen, und so schritt er auf und ab und überlegte, was werden würde. Mit einemmal aber war es ihm, als würde die Klinke leis geöffnet und wieder ins Schloß gedrückt, und als er sich umsah, stand Christine vor ihm.

„Da, Lehnert!“ Und sie hielt ihm bei diesen Worten ein nach Art eines amtlichen Schreibens zweimal zusammengefaltetes Papier hin. Als er es auseinandergeschlagen und, ans Fenster tretend, einen Blick hineingeworfen hatte, sah er, daß es der Bericht war, in dem Opitz seinen Strafantrag gestellt hatte.

„Zerreiß’ es!“ sagte Christine. „Ich hab’ es gefunden. Es lag auf seinem Schreibtisch.“

„Aber er wird es suchen, wenn er nach Hause . . . wenn er wieder kommt.“

„Er kommt nicht wieder.“

Und damit war sie fort, und er sah nur, wie sie rasch über den Steg hinhuschte, wieder der Försterei zu.


11.


„Er kommt nicht wieder,“ hatte Christine gesagt; – sie konnte nicht wissen, was geschehen war, und sie wußt’ es doch! Daß er von ihr nichts zu befürchten habe, das bewies das Papier, das er in Händen hielt, und doch könnt’ er sich eines Gefühls banger Unruhe nicht entschlagen. Erst hatte die Mutter in Andeutungen gesprochen und nun Christine. Wenn er vor aller Welt der war, gegen den sich der Verdacht wie von selbst richten mußte, so war er verloren oder hatte doch auf lange hin einen schweren Stand. Er war müde von dem vielstündigen Bergauf und Bergab, aber seine Erregung war doch so stark, daß es ihn zu Hause nicht litt. Er mußte wieder hinaus, und die Frage war nur: „wohin?“

Am nächsten lag ihm Vater Brauner, in dessen Ausschank „Zur Rabenklippe“ die Holzknechte zu verkehren und sich bei einer Stonsdorfer oder einem Ingwer gütlich zu thun pflegten; aber das war keine Gesellschaft, die heute für ihn paßte. „Was macht Opitz?“ oder „ist Opitz noch immer gut bei Wege?“ Das waren Fragen, die sich hier in zurückliegender Zeit, und noch ganz vor kurzem, mehr als einmal und mitunter mit ganz besonderer Betonung an ihn gerichtet hatten, und er erschrak bei dem Gedanken, daß sie sich auch heute wieder an ihn richten könnten. Das sollte nicht sein, und so beschloß er denn, statt in die „Rabenklippe“ lieber ein paar tausend Schritte weiter bis zu Exners in die „Schneekoppe“ zu gehen und in der wohlbekannten niedrigen Gaststube mit Gebirgsführern und Sesselträgern oder vielleicht auch mit alten Kriegskameraden, was immer das beste war, eine Unterhaltung zu suchen. Denn er sehnte sich danach, eine Stimme außer seiner eigenen zu hören und von seiner Unruhe loszukommen. Er griff denn auch bald nach seiner Soldatenmütze, die neben dem Gewehr und dem alten Kalender am Riegel hing, und schritt auf Krummhübel zu. Halben Weges zwischen Brückenberg und der Obermühls trat er von dem tiefergelegenen Wolfshau her auf den eine lange Schräglinie bildenden Fahrweg und sah nun einerseits nach Kirche Wang hinauf und andererseits nach Dorf Krummhübel hinunter, dessen weiße Giebel, trotz der schon herrschenden Dämmerung, in aller Deutlichkeit aus den vereinzelten Baumgruppen hervorblinkten. Der am deutlichsten blinkende Giebel aber war der von Exners „Schneekoppe“, und das helle Licht, das er dicht über der Straße flimmern sah, kam aus eben der Gaststube, drin er sich gütlich thun und hören und sprechen und alles, was ihn quälte, nach Möglichkeit vergessen wollte. Zwischen ihm und Exner lag nur noch der Gerichtskretscham und das kleine katholische Kapellchen mit seinem Sparrenwerk und seinem rothgestrichenen Dache.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_091.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)