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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

pflegen gewöhnlich anderer Meinung zu sein. Sie wollen über alle Unebenheiten sanft hinweg geleitet und getragen sein.“

„Alle? Es giebt auch Frauen , die es vorziehen, allein zu gehen, ohne sich wie ein Kind leiten und führen zu lassen.“

„Vielleicht als Ausnahme! Ich preise den Zufall, der mir das Glück zutheil werden läßt, eine so reizende Ausnahme –“

Hartmut war im Begriffe, ein sehr keckes Kompliment auszusprechen, verstummte aber plötzlich, denn die blauen Augen richteten sich mit so strafendem Ausdrucke auf ihn, daß ihm das Wort auf den Lippen erstarb.

In diesem Augenblick verfing sich der Schleier der jungen Dame wieder in ein dorniges Gezweige, das ihn unerbittlich festhielt. Sie blieb stehen, aber noch hatte ihr Begleiter kaum die Hand ausgestreckt, um das zarte Gewebe zu befreien, als sie es mit einer raschen Wendung des Kopfes losriß. Der Schleier blieb in Fetzen an den Zweigen hängen, aber die Hilfe war vollständig überflüssig geworden.

Rojanow biß sich auf die Lippen, dies Abenteuer entwickelte sich ganz anders, als er erwartet hatte. Er hatte geglaubt, bei einem jungen schüchternen Wesen, das sich seinem Schutze anvertraute, den Liebenswürdigen spielen zu können, in jener kecken, siegesgewissen Art, die ihm den Frauen gegenüber zur zweiten Natur geworden war, und nun wurde er gleich bei dem ersten Versuche durch einen bloßen Blick in seine Schranken zurückgewiesen, man machte ihm sehr deutlich klar, daß er hier nur der Führer zu sein hatte und nichts anderes. Wer und was war denn eigentlich dies Mädchen, das mit seinen achtzehn oder neunzehn Jahren schon die vollendete Sicherheit einer großen Dame zeigte und sich so unnahbar zu machen wußte? Er beschloß, um jeden Preis darüber ins klare zu kommen.

Jetzt endete der schmale Pfad, sie traten auf eine Lichtung hinaus und jenseit derselben begann wieder der Wald. Es war für jemand, der noch so wenig mit der Gegend vertraut war wie Hartmut, nicht leicht, hier den Führer zu machen, aber er hätte jetzt vollends nicht seine Unkenntniß eingestanden. Anscheinend mit voller Sicherheit hielt er die einmal eingeschlagene Richtung fest und wählte einen der Holzwege, die den Forst durchkreuzten. Endlich mußte man doch an eine Stelle gelangen, die einen freieren Ausblick bot und es möglich machte, sich zurechtzufinden.

Der breitere Weg gestattete jetzt ein ruhiges Nebeneinandergehen, und Hartmut benutzte das sofort, um die Unterhaltung anzuknüpfen, die bisher, da man mit fortwährenden Hindernissen zu kämpfen hatte, nicht möglich gewesen war.

„Ich habe bisher versäumt, mich Ihnen vorzustellen, mein gnädiges Fräulein,“ begann er. „Mein Name ist Rojanow, ich bin augenblicklich in Rodeck als Gast des Fürsten Adelsberg, der wohl den Vorzug genießt, Ihr Nachbar zu sein, da Sie in Fürstenstein wohnen?“

„Nein, ich bin gleichfalls nur als Gast dort,“ erklärte die junge Dame. Die fürstliche Nachbarschaft schien ihr ebenso gleichgültig zu sein wie der Name ihres Begleiters, jedenfalls fand sie es nicht für nöthig, nun auch den ihrigen zu nennen, sondern nahm die Vorstellung mit jener stolzen, vornehmen Bewegung des Hauptes entgegen, die ihr eigen zu sein schien.

„Ah, dann leben Sie vermuthlich in der Residenz und haben das schöne Herbstwetter zu einem Ausfluge benutzt?“

„Ja wohl!“

Das klang so einsilbig und abweisend wie nur möglich, aber Rojanow war nicht der Mann. sich abweisen zu lassen. Er war es gewohnt, daß seine Persönlichkeit sich überall Bedeutung und Wichtigkeit erzwang, zumal bei den Frauen, und empfand es fast als eine Beleidigung, daß dieser oft erprobte Eindruck hier versagte. Aber das gerade reizte ihn, ein Gespräch zu erzwingen, das offenbar nicht gewünscht wurde.

„Sind Sie von Ihrem Aufenthalte in Fürstenstein befriedigt?“ hob er wieder an. „Ich war noch nicht dort und habe das Schloß nur aus der Ferne gesehen, aber es scheint die ganze Umgegend zu beherrschen. Es gehört freilich ein eigener Geschmack dazu, um diese Landschaft schön zu finden!“

„Und dieser Geschmack ist nicht der Ihrige, wie es scheint.“

„Wenigstens liebe ich nicht die Einförmigkeit, und hier hat man ja überall denselben Blick. Wald und Wald und nichts als Wald – es ist bisweilen zum Verzweifeln!“

Es klang wie verhaltener Groll in den Worten, die armen deutschen Wälder mußten es entgelten, daß sie mit ihrem Rauschen und Wehen den Zurückgekehrten peinigten, sodaß er schon einige Male auf dem Punkte gestanden hatte, ihnen zu entfliehen. Er konnte es nicht ertragen, dies ernste, einförmige Lied aus alter Zeit, das die Wipfel ihm zuflüsterten. Seine Begleiterin hörte freilich nur den Spott in der Bemerkung.

„Sie sind ein Ausländer, Herr Rojanow?“ fragte sie ruhig.

Ueber Hartmuts Stirn flog wieder der finstere Schatten, einen Augenblick lang zögerte er mit der Antwort, dann erwiderte er kalt:

„Ja. mein gnädiges Fräulein.“

„Ich dachte es mir, Ihr Name wie Ihr Aussehen verräth es, und da ist auch ihr Urtheil begreiflich.“

„Jedenfalls ist es ein unbefangenes Urtheil,“ sagte Hartmut, gereizt durch den Vorwurf, der in den letzten Worten lag. „Ich habe ziemlich viel von der Welt gesehen und kehre jetzt eben aus dem Orient zurück. Wer den Ocean kennt in seiner strahlenden, durchsichtigen Bläue oder seinem mächtigen Sturmestoben, wer den Zauber der Tropenwelt genossen und sich an ihrer Farbengluth und ihrem Lichte berauscht hat, dem erscheinen sie doch nur kalt und farblos, diese ewig grünen Waldestiefen, diese ganzen deutsehen Landschaften überhaupt!“

Das mitleidige Achselzucken, mit dem er schloß, schien seine Begleiterin endlich aus ihrer kühlen Gelassenheit zu bringen. Es flog wie ein Ausdruck des Unwillens über ihre Züge und in ihrer Stimme verrieth sich eine gewisse Erregung, als sie antwortete:

„Das ist wohl einzig und allein Sache des Geschmackes. Ich kenne, wenn auch nicht den Orient, doch den Süden Europas; diese sonnendurchglühten, farbenleuchtenden Landschaften berauschen im Anfange – ganz recht – und dann ermüden sie. Es fehlt ihnen die Frische, die Kraft, man kann darin wohl träumen und genießen, aber nicht leben und schaffen. Doch wozu uns darüber streiten, Sie verstehen eben unsere deutschen Wälder nicht.“

Hartmut lächelte mit unverkennbarer Genugthuung. Es war ihm nun doch gelungen, die eisige Zurückhaltung seiner Genossin zu durchbrechen. All seine Liebenswürdigkeit war wirkungslos an ihr abgeglitten, aber er sah jetzt, daß es doch irgend etwas gab, was Leben in diese schönen kalten Züge rufen konnte, und fand einen eigenen Reiz darin, es hervorzurufen. Wenn er dabei verletzte – gleichviel, es machte ihm Vergnügen.

„Das klingt wie ein Vorwurf, den ich leider hinnehmen muß,“ sagte er mit unverhehltem Spott. „Möglich, daß mir dies Verständniß fehlt, ich bin eben gewohnt, einen anderen Maßstab an die Natur wie an die Menschen zu legen. Leben und schaffen? Es kommt nur darauf an, was man so nennt. Ich habe jahrelang in Paris gelebt, diesem mächtigen, blendenden Mittelpunkte der Civilisation, wo das Leben in tausend Strömen wogt und fluthet. Wer es gewohnt ist, sich von diesen brausenden Wogen tragen zu lassen, der kann sich nicht mehr in enge, kleinliche Verhältnisse finden, in all die Vorurtheile und Pedanterien, in das ganze Philisterthum, das hier in diesem braven Deutschland ‚Leben‘ genannt wird.“

Der verächtliche Nachdruck, den er auf die letzten Worte legte, hatte etwas Herausforderndes und erreichte auch seinen Zweck. seine Begleiterin blieb plötzlich stehen und maß ihn vom Kopf bis zu den Füßen, aber aus den bisher so kalten blauen Augen sprühte ein Blitz flammenden Zornes. Sie schien eine heftige Entgegnung auf den Lippen zu haben, bezwang sich aber. Sie richtete sich nur zu ihrer vollen Höhe empor und ihre Antwort klang in eisig stolzer Abwehr:

„Sie vergessen, mein Herr, daß sie zu einer Deutschen reden – ich erinnere Sie daran!“

Hartmuts Stirn färbte sich dunkelroth bei dieser herben Zurechtweisung, und sie galt doch nur dem Fremden, dem Ausländer, der die Rücksichten des Gastes vergaß. Wenn dies Mädchen ahnte, wer so zu ihr sprach, wenn sie wüßte – eine heiße, brennende Scham wallte plötzlich in ihm auf, doch er war Weltmann genug, sich augenblicklich zu fassen.

„Ich bitte um Verzeihung,“ sagte er mit einer leichten, halb spöttischen Verneigung. „Ich glaubte, wir tauschten nur allgemeine Ansichten aus, bei denen das Recht der freien Meinung gewahrt bleibt. Ich bedaure, Sie verletzt zu haben, mein Fräulein.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_102.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)