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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

fünf Mal in der Minute los ging, wieder angpicht wurde und wieder los ging, Schließlich rief der wohlgemeinte Rath: „Laß ihn doch ganz weg!“ eine wahrhaft verzweifelte Stimmung bei dem unglücklichen Besitzer hervor, da er diesen Bart als Hauptgrund und Zweck des ganzen Maskenballs angesehen hatte.

Während solchergestalt alles mit verschiedenen Empfindungen und Zerstreuungen beschäftigt war, stand unser Robert in der Fensternische und kämpfte innerlich die verzehrendsten Kämpfe. Sein jugendliches Herz war von dem ersten Pfeil des Liebesgottes getroffen worden, und er hätte Welten – vielleicht sogar das verheißene Taschenmesser! – um einen Hopser mit der Rokokodame gegeben, die schon ganz regelgerechte Pas zu machen verstand und beständig mit einem oder dem andern Jungen sich im Kreise drehte.

Daß Robert der Erkorenen seines Herzens nur ungefähr bis an die Schulter reichte, steigerte seine Leidenschaft womöglich noch.



Zum Entschluß konnte er aber nicht kommen, er stand und stand, den günstigsten Augenblick abwartend, und wies jede andere sich ihm darbietende Gelegenheit zum Tanzen mit männlicher Rauhheit und der einzigen Silbe „weg!“ ab, mit der er sich ihm freundlich nahende junge Damen wie Brummfliegen verscheuchte. Zum kräftigeren Ausdruck seiner Gefühle riskirte er wohl sogar auch einen kleinen Schubs, wenn die Tanzlustigen sich durch die erste Abweisung nicht gleich einschüchtern ließen. Sein Antheil an den Freuden des Tages blieb daher, vom reichlichen Kuchengenuß abgesehen, ein ziemlich negativer, während Minchen, an deren Wiege die Grazien nicht gestanden – hoffen wir, weil sie vor dem Zudrang der Musen keinen Platz gefunden hatten. – als fröhliches Elefantenkalb unbefangen mit den andern, schlimmstenfalls auch mit sich selbst im Kreise sprang.

Daß der Abend nicht zu Ende ging, ohne daß Robert den Riesenentschluß ausführte, seine Flamme zum Reigen zu führen, und daß diese auch mit einem kühlen: „Meinetwegen!“ sein Flehen erhörte, verdient hervorgehoben zu werden, wie denn Robert die feste Absicht faßte, sich dessen der Mutter gegenüber zu rühmen. „Ich habe mit der Hübschesten getanzt!“

In diesem Entschluße wurde er freilich im Verfolge seiner Ballunterhaltung wieder schwankend, die nur darin bestand, daß die Schöne, nachdem er zweimal mit ihr ohne jede Ahnung von den Forderungen der rhythmischen Künste halb durch die Stube gehopst war, ihm einen kleinen Stoß vor die Brust gab und mehr wahr als zart bemerke: „Du Schafskopf, Du kannst ja gar nicht tanzen!“

Vernichtet zog sich Robert zurück und fühlte sich wirklich zur schwärzesten Weltverachtung geneigt, als in dem Augenblick die Musik schwieg und in die allgemeine plötzliche Stille hinein das Dienstmädchen des Hauses mit weithin vernehmlicher stimme rief: „Die kleinen vom Herrn Doktor Rademann werden abgeholt!“ Auf diese schmachvolle Aufforderung hin mußte sich Robert mit Minchen im Bunde der Dame des Hauses empfehlen und als „Kleiner“, „Abgeholter“ noch den nagenden Zweifel im Busen mit forttragen, ob „der Schwarz“, der Dämon der Quarta, der seinem Charakter ganz untreu als schuldloser Schäfer erschienen war, diese unsterbliche Blamage mit angehört habe und Roberts sociale Stellung in der Klasse durch Wiedergabe derselben vernichten würde.

Die derbe Rokokofee hatte ebenfalls das Schreckliche nicht vernommen, – das war ein Trost! Sie stand fächerschlagend und eifrig plaudernd mit einem Schornsteinfeger, der zu Ostern sitzen geblieben und daher nur aus unbegreiflicher väterlicher Nachsicht auf den Ball gelangt war, in einer Fensternische und übersah unsern Robert vollständig. O Bitterkeit und doch Süßigkeit der ersten Liebe!

Als die beiden kleinen Masken mit einer Menge Gewinne aus einer Lotterie zu Hause angelangt waren und dieselben vor den staunenden Blicken der Eltern ausgekramt hatten, die diesen Luxus für „rechten Unsinn“ erklärten, begann Minchen mit schnatternder Geläufigkeit alle Erlebnisse des Balles mitzuteilen, wobei verschiedene: „Siehst du, Tony!“ der kleinen Schwester die Unklugheit ihres Verzichtes auf weltliche Vergnügungen klar machen mußten.

Die Geschwister opferten übrigens auf dem Altar der Geschwisterliebe einige Gewinne – Minchen ein angebissenes Zuckerschaf und Robert einen likörgefüllten Bonbon – eine That, der er jeden Nimbus der Großmuth sofort durch den Zusatz raubte. „Solche esse ich nicht!“

„Nun, habt Ihr denn auch getanzt?“ erkundige sich die Mutter, die mit gerechtem Stolz auf ihre Ballkinder blickte.

Minchen bejahte eifrig und wichtig, während Robert sich mit einem Achselzucken und Erröthen begnügte, welches dem Scharfblick der Mutter bedeutungsvolle innerliche Erlebnisse verriet.

„Wer war denn die Hübscheste?“ frug sie scheinbar unbefangen.

„Die Große!“ brachte Robert mit Entschiedenheit hervor.

„Wie hieß sie denn?“ forschte die Mutter weiter.

„Ich glaube, Neumann,“ bekannte Robert erröthend, dessen einzige Unterhaltung mit seiner „ersten Liebe“, wie wir wissen, nicht so ermuthigend war, daß sie ihn zu Fragen nach den Personalien der Angebeteten hätte berechtigen können. –

Die nächste, sichtbare Folge der erwachten Neigung war, daß die Wände und die weißlackirten Fensterbretter in Roberts Stube verschiedene kunstvolle N in deutscher und lateinischer Schrift zeigten. Roberts Leidenschaft, den theuren Namen nach dem Vorgang des bekannten Liedes „in alle Rinden“ einzuschneiden, ging sogar noch weiter: als der Klassenlehrer den Liebenden wegen mangelhaft gelernter Vokabeln zu der schmachvollen Strafe des „Eckestehens“ verdammte, versüßte dieser sich den schmerzlichen Augenblick dadurch, daß er in die Wand der bewußten Ecke ein etwas mißgebornes Herz einkratzte, worin sein und der vornamenlosen Neumann Anfangsbuchstaben prangten.

Die Eltern nahmen von der zarten Neigung ihres Lohnes, die so jeder Nahrung von außen entbehrte – er hatte „die Neumann“ seit dem Maskenabend nie wieder gesehen! – weiter keine Notiz, nach dem bewährten Grundsatz, daß solcher Blödsinn am ersten ein Ende nimmt, wenn man sich gar nicht darum kümmert.

Nur der Vater legte bei einer besonders abscheulich ausgefallenen Schularbeit den Finger roh an die blutende Wunde, indem er dem erziehlichen Kopfstück noch die verbitternde Bemerkung hinzufügte: „Wenn das die Neumann wüßte!“ eine Aeußerung, die, da der betrübende Fall „vor der Minchen“ erörtert wurde, Robert mit rebellischer Empfindung gegen das Oberhaupt der Familie erfüllte.

Das von den Eltern vorausgesehene Ende der Leidenschaft sollte in schneller und unerwarteter Weise hereinbrechen.

Robert ging an einem schönen Wintertag nach der Schlittschuhbahn von der Mutter, Minchen und Tony begleitet, die ihn

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_126.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)