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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

überlegen drein zu schauen, und schien über sich und die Welt lachen zu wollen, aber ein mächtigeres Gefühl hielt seinen Spott im Bann, und er sah aus wie der Tod auf der Maskerade, der tanzen will. Endlich nahm er Platz, während Lehnert sich ihm gegenüber setzte.

„Ihr könnt nicht schlafen, Monsieur L’Hermite. Was giebt es?“

„Es sah wer in mein Fenster.“

Wer?“

„Ich sah ihn nicht. Aber er hielt ein Kreuz vor der Brust.“

„Das war das Fensterkreuz und der Mondschein dahinter.“

L’Hermite lächelte. Lehnert aber, der das Grauen, das ihn mit erfaßt hatte, dem Freunde wie sich selber wegreden wollte, suchte bei seinem zwangsweis angeschlagenen Heiterkeitstone zu beharren und sagte: „Sinnestäuschung, Monsieur L’Hermite! Wer Euch ins Fenster sehen will, muß von unten her eine Leiter anlegen.“

„Oder von oben!“

Er sprach das so, daß Lehnert verstummte. Und nun saßen sie sich einander gegenüber und zwischen ihnen schwebte das Licht, dessen Flackerschein von dem Spiegelchen zurückgeworfen wurde.

So verging eine Weile. Dann sagte Lehnert: „Es giebt eine Himmelsleiter und die Engel steigen hernieder, so steht geschrieben . . . Und vielleicht auch die des Gerichts. Glaubt Ihr solche Dinge?“

„Nein! Aber das Märchen hat nun mal Gewalt über uns, das Eiapopeia, das uns schon von der Wiege her gesungen wird. Da liegt es. Wir zittern vor dem Spuk und haben kein Mark in der Seele.“

Lehnert schwieg. Endlich sagte er: „Monsieur L’Hermite, drüben ist der Mond und der Mond ist nicht jedermanns Sache. Bleibt hier, legt Euch auf das Ruhebett!“

L’Hermite aber erhob sich wieder von seinem Platz, legte seine Hand auf Lehnerts Schulter und sagte: „Nein, wir wollen lieber in die Kapelle gehen; ich will da das Kreuz vom Altar nehmen und es Hochhalten und den Geist anrufen. Denn der Geist ist die Idee. Die Kapelle soll ’mal etwas anderes hören, als die Geschichte von Pharaos Traum und den ewigen sieben Kühen. Obadja persönlich ist eine fette Kuh, aber seine Predigt ist eine magere. Kommt! Ich will sein Tabernakel in einen Tempel der Idee verwandeln und will bloß vor zweien sprechen, vor Euch und dem Mond. Das ist nur genug.“ –

Es war nicht leicht, Monsieur L’Hermite von seinem Vorhaben ab- und in sein Zimmer zurückzubringen. Endlich gelang es, und nachdem Lehnert, des noch immer draußenstehenden Mondes halber, die Läden des einen Fensters geschlossen hatte, ging er in sein eigenes Zimmer zurück, um hier wieder sein Lager aufzusuchen. Er war nun selber Zeuge gewesen von der gelegentlichen Geistesgestörtheit L’Hermites, von der er schon gehört hatte. „Wenn es nicht sein Gewissen ist“, hatte Toby damals hinzugesetzt. Und Lehnert wiederholte jetzt Tobys damalige Worte.

Der andere Tag war ein Sonntag. Lehnert erschien zur Morgenandacht, beurlaubte sich aber gleich danach für den ganzen Tag, um ins Gebirge zu reiten, in die Ozark-Mountains, deren viele Meilen langen Zug er nun seit einer Reihe von Wochen in beinah’ nächster Nähe vor sich sah, ohne daß es ihm bisher möglich gewesen wäre, sie zu besuchen. Die Woche gehörte der Arbeit und der Sonntag der Betrachtung und Ruhe, worauf Obadja mit einer ihm sonst nicht eigenen Strenge hielt. Ausnahmen waren aber statthaft, und Lehnerts musterhafte Innehaltung aller Hausgesetze während seiner jetzt mehr als zweimonatigen Anwesenheit in Nogat-Ehre ließ es Obadja nicht schwer fallen, heute einen solchen Ausnahmefall eintreten zu lassen.

Es war der zweite September, und als Lehnert eben eine leis ansteigende Ebereschenallee hinauf ritt – er hatte sich für einen kleinen Umweg entschieden – entsann er sich mit einer gewissen Freudigkeit, daß es der Sedantag war. Er versenkte sich wieder in die Vorgänge von damals und sah wieder den Angriff der Chasseurs d’Afrique und wie die Säbel und rothen Käppis der attakierenden Schimmelschwadron in der Sonne blitzten.

Solche Bilder vor der Seele, ritt er weiter, allmählich aber bog die Ebereschenallee wieder nach links ein und ging in einen Birkenweg über, der sich alsbald in geringer Entfernung von dem in Trümmern liegenden Fort O’Brien ins Gebirge hineinzog. Als er in Höhe dieser Stelle war, stieg er ab und band sein Pferd an einen Baum, um, eh’ er weiter ritt, erst dem merkwürdigen Trümmerhaufen, auf den sich, von seinem Fenster aus, sein Auge manches liebe Mal gerichtet hatte, seinen Besuch zu machen. Fort O’Brien war vor kaum mehr als zwanzig Jahren in einem der vielen kleinen Kämpfe mit den Indianern von diesen erstürmt und zerstört worden, wobei Dach und Inneres gänzlich verbrannt, der Wallgang aber sammt seinen Palissaden und vor allem ein an einer Ecke stehender abgeflachter Steinthurm in leidlich gutem Zustände verblieben waren. Lehnert kroch, als er das Fort erreicht hatte, überall umher, erstieg den Thurm auf einer noch wohlerhaltenen Wendeltreppe und sah nun zurück nach Nogat-Ehre hin. Die Entfernung war ziemlich bedeutend, aber die wundervolle Klarheit der Luft ließ ihn alles aufs bestimmteste erkennen. Das Eckfenster zur Linken, das war das seine, und das an der anderen Ecke, da wohnte Ruth. Es war ihm, als sah’ er sie, und indem er ihrer gedachte, gedacht’ er auch schon des Augenblicks der Rückkehr und sah sich die Treppe hinaufsteigen und vernahm andächtig den Choral, den sie mit klarer Kinderstimme sang. Und nun bog er in den Korridor ein und hörte wieder deutlich, wie die Thür ins Schloß fiel, und wie sich Monsieur L’Hermite wie herkömmlich von seinem Lauscherposten zurückzog. Und während er das alles im Geiste vorwegnahm, trat er, sich wieder erinnernd, wo er war, an die Brüstung des alten Thurmes heran und pflückte, sich bückend, allerlei kleine Blumen, die hier aus dem zerbröckelten Gestein reichlich aufsproßten, und band einen Strauß, den er mitnehmen und Ruth überreichen wollte.

Das Pferd nagte noch ruhig an den Birkenzweigen, als er nach einer Weile zurückkam, um wieder in den Sattel zu steigen. Der Weg aber, der immer steiler anstieg, erschien ihm jetzt mehr und mehr wie die Krummhübler Straße zwischen dem „Goldenen Frieden“ und dem „Waldhaus“, und der Gebirgsbach, der da neben ihm schäumte, das war die Lomnitz, die vom Mittagsstein und den Teichen herunter kam. Und unwillkürlich sah er auch nach dem Inselchen aus und ob er das Haus sähe, sein Haus, mit den zwei Brückenstegen und dem Schindeldach und dem sich am Haus hin und dann bis aufs Dach hinaufrankenden gelben Rosenstrauch. Er sah aber nichts als Tannen und wieder Tannen und dann und wann eine Lichtung, und dabei wurde der Weg immer enger und steiler, bis zuletzt ein Quell kam, der aus einer niedrigen, aber senkrechten Felswand sprang und dicht darunter in einen aus vier mächtigen Steinen gebildeten Kessel fiel. Und an dem Kessel hin lief ein Pfad und dahinter kam ein Moorstreifen, und verdorrtes Gras und Huflattich . . . Und dann kam ein Kussetgebüsch . . . Und da lag wer . . .

Und Lehnert hielt an und fuhr mit der Hand über Stirn und Auge, wie wenn er das Bild verscheuchen wollte. Aber es wich nicht. Und zuletzt gab er dem Pferde die Sporen und ritt, so rasch es der Weg zuließ, immer Höher bergan.

Nur einmal noch sah er nach der Stelle zurück.

„Das ist der, der bei L’Hermite ins Fenster sah.“


20.

Mitte September war herangekommen. Die Ernte war herein und es traten Tage der Ruhe ein für Lehnert. Nicht so für Obadja; denn ihm brachte der Herbst das große Fest der Fußwaschung, welches die Gemeinde der Mennoniten alljährlich um diese Zeit zu feiern Pflegte. Aus weitem Umkreise kamen die Lehrer und Prediger, und mit ihnen viele bekehrte Rothhäute, Männer und Frauen, die während des Festes in die Gemeinde der „Taufgesinnten“ ausgenommen werden sollten. In dem großen Betsaal zu Nogat-Ehre waren überall Laub- und Blumengewinde gezogen, am reichsten an der dem Eingang gegenüberliegenden Empore, auf welcher Ruth mit dem Chore der Mennonitentöchter ihren Platz hatte.

Die feierliche Taufhandlung war vorüber und Obadja war von dem Taufbecken wieder an den Altar getreten, um die eigentliche Predigt zu halten, die – wie gewöhnlich bei diesen Jahresfesten – die Hauptunterscheidungspunkte der mennonitischen Lehre betonen sollte. Der Text aber, den er seiner Predigt zu Grunde gelegt hatte, war der: „Wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen“ und daneben der andere Spruch: „Die Rache ist mein, spricht der Herr“. Er sah, als er diese Worte sprach, zu Lehnert hinüber, der sein Auge vor dem ruhigen Blicke des Alten senkte. Dann aber wandte sich dieser der Auslegung seiner Textesworte zu und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_150.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)