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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

haben, so grinst dafür aus jedem von den zahllosen Fenstern der himmelhohen Hinterhäuser die nackte Armuth in ihrer abstoßendsten Gestalt.

Hudetz verließ seinen hohen Sitz und ging langsam an den Häusern des Weddingplatzes und einiger benachbarter Straßen dahin. Fast über jedem Hausthor war eine Unzahl von Zetteln befestigt, auf denen Schlafstellen für Männer oder Mädchen angeboten wurden; aber nur vereinzelt fand sich die vornehmere Ankündigung, daß in dem oder dem Stockwerk ein möblirtes Zimmer zu vermiethen sei.

Wo er eine solche Ankündigung entdeckte, blieb Hudetz zaudernd stehen, musterte das Haus und seine nächste Umgebung mit ängstlich mißtrauischen Blicken und schob sich, wenn ihn nicht aus schwer zu errathenden Gründen irgend eine seiner Wahrnehmungen abschreckte, rasch und scheu in den überall unverschlossenen Thorweg hinein. Aber mit derselben müden und niedergeschlagenen Miene, mit welcher er eingetreten war, kehrte er jedesmal nach Verlauf einer sehr kurzen Zeit auf die Straße zurück. Eine unbegreifliche, räthselhafte Ursache mußte die Schuld daran tragen, daß ihm keines der angebotenen Quartiere zusagte, obwohl ihm doch große und kleine, dürftige und behagliche, wohlfeile und kostspielige gezeigt worden waren.

Der Nachmittag war weit vorgeschritten, und der Himmel, der an den Wochentagen hier überhaupt nur durch einen feinen Schleier von Dunst und Rauch zu erblicken ist, begann sich bereits mit den Schatten der Dämmerung zu verhüllen. Noch immer schlich der Suchende von Haus zu Haus; aber es stand ihm deutlich auf das blasse Gesicht geschrieben, daß er keine Hoffnung mehr auf einen Erfolg seiner Bemühungen habe. Da, an einem der ältesten, häßlichsten Häuser, denen ursprüngliche gelbe Farbe längst unter einer dicken, seit Jahrzehnten nicht mehr entfernten Schmutzkruste verschwunden war, fesselte ein neben dem Thorweg befestigter Zettel seine Aufmerksamkeit. Es war keine von den sonst üblichen, mit großen Buchstaben bedruckten Karten, wie sie die Zimmervermiether für wenige Pfennige bei den Buchbindern erstehen können, sondern ein unregelmäßiger Fetzen schlechten grauen Papiers, auf welchen eine ungelenke, zitterige Hand geschrieben hatte:

„Drei Treppen lings ist eine möhblirte Stuhbe sovort zu fermieten.“

Es war schwer zu begreifen, was gerade an dieser unorthogräphischen Anzeige für Hudetz Verlockendes sein konnte. Er las sie, ging zaudernd ein paar Schritte weiter und kehrte wieder um, um den Zettel abermals und noch genauer als zuvor zu betrachten. Er studirte die steifen Schriftzüge, als könne er sich aus ihnen ein Bild der Person entwerfen, von welcher sie herrührten, und nachdem er wohl fünf Minuten im Anschauen des abgerissenen Fetzens zugebracht hatte, ging er mit größerer Entschlossenheit als bisher in das Haus, um auf der alten, ausgetretenen Treppe, die von den schmalen Flurfenstern nur kümmerliches Licht empfing, bis in das dritte Stockwerk emporzuklimmen.

Die Glocke, deren hölzernen Griff er in Bewegung setzte, gab nur einen heiseren, klappernden Ton, und er mußte denselben noch zweimal erklingen lassen, ehe ihm geöffnet wurde.

Ein großes, hageres, starkknochiges Weib von wenigstens siebzig Jahren stand auf der Schwelle der engen, niedrigen Küche, in welche man von der Stiege aus zuerst gelangte. Ihr weißes Haar war am Hinterkopf nachlässig in einen Knoten zusammengesteckt, aber einige widerspenstige Strähne hingen wirr um das faltenreiche, finster blickende Gesicht. Die Aermel der groben Tuchjacke waren bis weit über die Ellbogen aufgestreift und entblößten zwei rothe knochige Arme, unter deren welker Haut die Adern wie fingerdicke Stränge lagen.

„Was wünschen Sie?“ fragte sie mit rauher, fast männlich tiefer Stimme, ohne dem draußen Stehenden den Eintritt freizugeben. „Ich habe nichts zu verkaufen.“

„Darum ist es mir auch nicht zu thun; aber wenn ich nicht irre, wollen Sie ein Zimmer vermiethen.“

Die tief liegenden, dunkel umränderten Augen der Alten hefteten sich auf ihn mit einem mißtrauischen Blick.

„Ja,“ knurrte sie. „Fünf Thaler monatlich!“

„Der Preis wäre mir nicht zu hoch. Darf ich die Stube sehen?“

Ohne weiter ein Wort zu sagen, ließ sie ihn eintreten und öffnete die Thür, welche aus der Küche in das Nebengemach führte. Die Wohnung bestand augenscheinlich nur aus diesen beiden Räumen.

Obgleich das Zimmer zwei Fenster hatte, ließ sich doch bei der draußen herrschenden Dämmerung nur undeutlich erkennen, wie es mit seiner Einrichtung beschaffen war. Daß dieselbe aber derjenigen in den Gemächern des Fräulein Engelhardt noch um ein Beträchtliches nachstand, unterlag trotzdem keinem Zweifel.

„Es würde für meine Ansprüche genügen,“ sagte Hudetz, der sich vielleicht nur zum Schein umgesehen hatte. „Kann ich noch heute einziehen?“

Ein heftiger Hustenanfall hinderte die Alte, ihm sogleich zu antworten. Als sie wieder zu Athem gekommen war, meinte sie, ohne auf seine letzte Frage einzugehen:

„Die Miethe wird im voraus für den ganzen Monat bezahlt. Auf Winkelzüge und Finten lasse ich mich nicht ein. Ich bin eine arme Frau, die sich für Windbeutel und faule Zahler nicht abrackern kann.“

Er nickte mit freundlicher Zustimmung, als hätte sie ihm in der höflichsten Form ihre Bedingungen mitgetheilt.

„Das ist nur natürlich! - Sie werden sich in dieser Beziehung über mich gewiß nicht zu beklagen haben. Aber –“

„Was aber? – Ist wohl sonst etwas nicht in Ordnung?“

„Ich warte auf meine Ausweispapiere, die mir aus der Heimath zugeschickt werden sollen. Es können noch einige Tage vergehen, ehe sie eintreffen, und weil ich nicht gerne Weitläufigkeiten mit der Polizei haben möchte, wäre es mir lieb, wenn die Anmeldung bis dahin unterbliebe.“

Die Alte ließ einige Laute vernehmen, die wie ein Lachen klangen; aber es bewegte sich dabei keine Muskel in ihrem faltigen Gesicht.

„Das kenn’ ich! – Auf Ihre Papiere würd’ ich wohl bis zum dreißigsten Februar warten können. Aber das ist mir gleichgültig. Um die Polizei schere ich mich den Teufel, und wenn Sie pünktlich bezahlen, brauchen Sie sich um das andere keine grauen Haare wachsen zu lassen. – Wann wollen Sie denn Ihre Siebensachen bringen? Oder haben Sie keine?“

„Nur einen Handkoffer! – Mit Ihrer Eriaubniß stelle ich mich in einer Stunde wieder ein.“

Ehe er ging, legte er den Betrag von fünfzehn Mark in kleinen Silbermünzen auf den mit Wachsleinwand überzogenen Küchentisch. Die Frau zählte ihn nach und bestätigte mit einem stummen Kopfnicken den Empfang. Auf den Gruß aber, mit welchem Hudetz sich entfernte, hatte sie keine Erwiderung. –

Fräulein Engelhardt legte dem Auszuge ihres verdächtigen Miethers keine Schwierigkeiten in den Weg, um so weniger, als er auch hier für den ganzen Monat zahlte, obwohl er die Gastfreundschaft der kleinen schiefen Dame kaum halb so lange in Anspruch genommen hatte.

„Sie werden begreifen, daß ein alleinstehendes Mädchen sich keine Unannehmlichkeiten mit den Behörden bereiten darf,“ sagte sie wie zur Entschuldigung ihrer vorigen Schroffheit. „Es wird einer schutzlosen Dame ohnehin schwer genug gemacht, sich anständig durch die Welt zu bringen.“

Hudetz mochte dies vollkommen einsehen, denn er widersprach ihr nicht; aber es schien, als hätte er noch einen Wunsch auf dem Herzen, als wollte er ihr sehr gern irgend einen Auftrag ertheilen. Stammelnd und unsicher kamen einige Worte über seine Lippen. Als ihm Fräulein Engelhardt jedoch daraufhin mit ihren kleinen, boshaften Aeuglein neugierig ins Gesicht sah, verstummte er plötzlich und machte sich wieder an seinen Habseligkeiten zu schaffen.

Es war schon längst Abend geworden, als er abermals die klappernde Glocke seiner neuen Wohnung in Bewegung setzte. Die Wirthin mußte seinen schleichenden Schritt erkannt haben, denn sie begnügte sich diesmal, ein kurzes „Herein!“ zu rufen. Als Hudetz eintrat, saß sie vor ihrem Bett am Tische, die nackten Arme auf die Kante desselben gestützt und den grauen Kopf tief auf ein dickleibiges Buch herab geneigt, das sie jetzt hastig zuschlug, als wünschte sie nicht, den neugierigen Blick eines anderen auf die zerlesenen Blätter fallen zu sehen. Vor ihr brannte eine kleine, armselige Küchenlampe, und der Petroleumdunst derselben vereinigte sich mit dem unangenehmen Duft des schlechten Cichorienkaffees, der in einer gewaltigen Tasse dampfend neben dem Buche stand.

„Sie sollten die Thür nicht unverschlossen lassen, Frau – Frau –“

„Haberland!“ ergänzte die Alte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 264. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_264.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)