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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

nach dem Aufstande vom 31. Oktober bis zum Ende der Belagerung von Paris in Untersuchungshaft steckten. In dieser unfreiwilligen Muße verfaßte er sein Buch „Die sozialistische Partei“. Aus diesem Werke nun tritt deutlich seine Ueberzeugung hervor, daß es unmöglich sei, das soziale Ideal durch eine plötzliche Volkserhebung zu verwirklichen. Auch sah Vermorel so klar als irgend ein anderer ein, daß, als ihn die Urheber des Aufstandes vom 18. März in die Kommune heranzogen, dies nur geschah, um dieser den sich zunächst darbietenden Deckmantel des Sozialismus umzuhängen. Wie mochte er aber damals seinen Berufsgenossen Arthur Ranc beneiden, der sich gleich wieder zurückziehen konnte, als er erkannt hatte, welches Gelichter jetzt im Stadthause seinen Sitz aufgeschlagen hatte!

Das Urtheil A. Rancs, „die ganze Kommune zähle nicht mehr als zwei oder drei Sozialisten, verständige, ehrbare, unterrichtete Männer mit einem Schimmer von Staatsvernunft, die übrigen gehören sämmtlich der Hefe des Volkes an, sie seien unwissend, unerfahren, ungezogen, ohne politisches Denkvermögen und sie klammern sich als geckenhafte Emporkömmlinge an die Macht an“: dieses Urtheil war auch dasjenige Vermorels. Aber auf ihm lastete eben noch Rocheforts schnöde Verdächtigung, die jetzt sein Gegner Felix Pyat in der Kommune zu wiederholen wagte; und so glaubte er, von der Kommune, so aussichtslos sie ihm von Anbeginn schien, sich nicht lossagen zu dürfen. Er bewies seine Hingebung, indem er in den ersten Kämpfen gegen die Versailler mitfocht, gegenüber der Kommune selbst aber seine Unerschrockenheit, indem er öffentlich fort und fort eine friedliche Lösung befürwortete, in den Sitzungen auf dem Stadthaus alle Ungesetzlichkeiten und insbesondere die von dem blutdürstigen Pyat vorgeschlagenen Schreckensmaßregeln und die Verfolgungen andersdenkender Schriftsteller bekämpfte. In den letzten Tagen der Kommune wurde Vermorel bald hier bald dort unter den Vertheidigern der am meisten bedrohten Barrikaden gesehen; es war, als ob er den Tod herausfordern wollte. Immer enger schloß sich der eiserne Ring um die Kämpfer. Zuletzt blieb ihnen nur noch der hochgelegene Friedhof Père-Lachaise. Hier hatte denn Vermorel noch ein letztes Mal inmitten der verzweifeltesten Kommunarden Stand gefaßt. Nochmals entsandten ihre Kanonen Zerstörung auf die von allen Seiten brennende Stadt hinab. Die Granaten der Versailler rissen fort und fort klaffende Lücken in die auf dem Leichenfelde dicht zusammengedrängten Scharen und zerschmetterten die Grabdenkmäler, hinter denen sie sich bergen wollten. Immer näher rückte von unten Gewehrfeuer und Kampfgeschrei. Da brachte man vor Vermorel die Leiche seines Freundes, des Polen Dombrowski, des früheren Befehlshabers der Kommune. Und nun ergriff er an der Bahre dieses Mannes nochmals das Wort, um mit von Zorn und Schmerz erstickter, vom Donner der Geschütze übertönter Stimme die Kommune als eine Bande von Trunkenbolden und Feiglingen, die diesen ihren Führer zuerst des Verraths beschuldigt und ihn dann im Angesicht des Feindes verlassen hätten, anzuklagen und das Andenken dieses Fremden zu preisen, der begeisterungsvoll und treu der Sache eines undankbaren Volkes gedient. Auf den Tod verwundet, wurde Vermorel wenige Augenblicke darauf gefangen genommen.

Es wäre ungerecht, mit völligem Stillschweigen den Schriftleiter des Amtsblattes der Kommune zu übergehen, Ch. Longuet, ein bemoostes Haupt von zwanzig Semestern aus dem Lateinerviertel. Derselbe galt wie Vermorel als guter Kenner der sozialen Fragen, insbesondere auch der Proudhonschen Philosophie, und er bekämpfte bis zuletzt an Vermorels Seite die besonders unsinnigen Maßnahmen der Kommune. Leider war seine Willenskraft und Arbeitslust nicht auf der Höhe seines Wissens und der Begabung, die er früher als Mitarbeiter verschiedener Blätter an den Tag gelegt hatte. Mußte er doch gelegentlich selber eingestehen, daß er das von ihm geleitete Blatt nicht einmal gelesen habe. Und wie waren gleich in den ersten Tagen der Kommune die Leser überrascht, als sie an hervorragender Stelle des Amtsblattes statt Enthüllungen über die neueste Politik der Machthaber eine Abhandlung über – Schweden und Norwegen fanden, die der bequeme Longuet einfach aus dem stehen gebliebenen Satze des Amtsblattes der frühern Regierung herüber genommen hatte!

Wahrscheinlich mehr aus Bequemlichkeit als mit Ueberlegung hatte er gleich in den ersten Tagen seinem Studienfreund Vaillant gestattet, eine lange Abhandlung im Amtsblatte zu veröffentlichen, in welcher dargethan werden sollte, die menschliche Gesellschaft habe gegen die Fürsten nur eine Pflicht, den Mord. Da dies denn doch manchen Lesern damals noch etwas zu stark erschien, so ergab sich für Longuet die verdrießliche Nothwendigkeit, selbst zur Feder zu greifen und nachträglich zu erklären, jener Aufsatz habe nur die Meinung eines einzelnen wiedergegeben, die übrigens sehr wohl aufrecht zu erhalten sei und im ganzen Alterthum, aber auch bei neueren Staatsphilosophen Geltung gehabt habe.

Was aber jenen Vaillant betrifft, so blieb zwar sein Aufsatz über den Fürstenmord die einzige schriftstellerische Leistung seines ganzen Lebens, der Mann ist jedoch nebst seinem unzertrennlichen Begleiter Aristide Rey, mit welchem er außer Paris auch die Hochschulen Heidelberg, Tübingen und Wien besucht hatte, eine für unsern Revolutions-Breughel unbedingt ins Auge zu fassende Erscheinung. Die beiden hatten sich aus den wilden nihilistischen Gedanken des Russen Bakunin, aus mißverstandenen Proudhonschen Lehren und aus Erinnerungen der ersten Revolution eine Art Weltanschauung zusammen gebraut, die im wesentlichen darauf hinaus lief, alles, was als Staat, Kirche, Gesellschaft, Ehe und Eigenthum bestehe, sei krank und unnatürlich, und die Menschheit müsse dadurch, daß man alles zerstöre, was an die Vergangenheit erinnere, Throne, Kirchen, Denkmäler, Kunstwerke und Bücher, kurz dadurch erlöst werden, daß man ein allgemeines Chaos herstelle, aus dem sich neue, gesunde Einrichtungen herausbilden würden. So war denn Rey auch keineswegs mit der Losung zufrieden, die Kommune müsse siegen, oder Paris aufhören zu bestehen; er meinte im Gegentheile, wenn die Kommune siege, dann gerade müsse Paris zerstört werden.

Bei beiden Aposteln der Zerstörung war übrigens der eigene Wille zum Leben hinreichend ausgebildet. Vaillant entfloh daher im rechten Augenblicke noch durch die deutschen Linien, während sich diejenigen, die seinen Lehren gehorcht hatten, niederschießen ließen. Von Rey werden wir noch später hören.

Der nämliche Geist der Zerstörung wie in diesen beiden verbummelten Studenten wohnte auch in dem Schriftsteller Jules Vallès, dem Verfasser des merkwürdigen Buches „Die Stellungs-Flüchtlinge“. Hier werden in ergreifendster Weise die Enttäuschungen und das Elend der vielen Unbekannten geschildert, die aus den Hörsälen in das Leben treten und nun erkennen müssen, daß ihre Begabung nicht ausreiche, ihnen Brot, geschweige denn Ruhm zu erwerben, und die sich nun, mit sich selbst und der Welt zerfallen, in unfruchtbaren Anklagen gegen die Menschen, die Gesellschaft und den Staat erschöpfen. Es ist der tiefste Brustton der Ueberzeugung, den man hier vernimmt, und man fühlt unwillkürlich, der Verfasser habe hier die Beichte seines eigenen Lebens niedergelegt. Lange Jahre hatte Vallès gejammert, unter dem Drucke des Kaiserreichs könne der Geist seine Schwingen nicht entfalten; nun war dieser aber flügellahm geblieben, auch nachdem die Freiheit gekommen war; und die Pariser Leser zogen immer noch einen angenehmen Plauderer wie Albert Wolff dem mürrischen J. Vallès vor. Das Gefühl dieser seiner Ohnmacht und des Neides auf seine glucklicheren Genossen verwandelte sich jetzt mehr und mehr in Haß gegen alles, was die Menschen sonst achteten, gegen die großen Geister der Vergangenheit, einen Homer, Dante und Molière, denen er zuruft: „Schweigt, ihr alten Pedanten! Nieder mit den Todten!“; gegen die Kunst: „Schlagt allen Standbildern die Nasen ab, zerschneidet alle Gemälde in den Museen!“; und gegen Religion und Wissenschaft. Schließlich entdeckte Vallès, 1869, sein sozialistisches Herz und er bewarb sich, allerdings wieder erfolglos, bei den Arbeitern der Vorstadt St. Antoine um einen Abgeordnetensitz. Seine wüthenden Aufruhrpredigten im „Cri du peuple“ ließen ihn endlich der Aufnahme in die Kommune würdig erscheinen, und seine Verachtung gegen Kunst und Wissenschaft empfahl ihn von selbst zur Uebernahme der – Unterrichts-Angelegenheiten. Uebrigens muß ihm zur Ehre nachgesagt werden, daß er es stets mit der verhältnißmäßig zurechnungsfähigeren Minderheit hielt und gelegentlich gegen allzu grelle Gesetzesverletzungen, gegen das Lügensystem, durch welches man das Volk täuschte, und gegen die Liederlichkeit Einspruch erhob, zu deren Sitz man die öffentlichen Gefängnisse gemacht hatte.

In letzterer Beziehung hatte sein Schüler und früherer Mitarbeiter, Gustav Maroteau, schon ein weiteres Herz. Auch er verlangte in seiner Schrift „Männer und Drahtpuppen“, mit Vallès übereinstimmend, man müsse das Unterrichtswesen umstürzen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_274.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)