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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Kältegefühl sichtlich bis ins Mark durchschauert, über den freien Platz des Lustgartens vor dem Museum. Derselbe Wind, welcher die Wangen und die Nasen der anderen so lustig röthete, hatte ihn nur noch um eine Schattirung bleicher und fahler werden lassen; die dunklen Schatten unter seinen Augen zeichneten sich schärfer ab als sonst, und die Umrisse seiner hageren Gestalt traten erbarmungswürdig schmal und eckig unter dem langen havelockartigen Mantel hervor, den der Sturm zu toller Unförmlichkeit aufbauschte.

Die Katalogverkäufer am Fuße der großen Freitreppe mußten ihn bereits kennen, denn sie verschmähten es, ihm ihre Ware anzupreisen. Oder sie hielten ihn vielleicht auch für einen jener Unglücklichen, die sich zur Winterszeit in die öffentlichen Kunstsammlungen flüchten, weil es für sie keine andere Möglichkeit giebt, die Wohlthat eines geheizten Raumes zu genießen.

Ohne einen Blick auf die mächtigen Trümmer der Gigantomachie vom Altar zu Pergamon in der Rotunde und auf die Skulpturen im Erdgeschoß zu werfen, stieg Hudetz nach dem ersten Stockwerk empor. In dem großen Oberlichtsaale zur Linken wo des Peter Paul Rubens ewig junge Meisterwerke hängen, blieb er eine kleine Weile stehen – ähnlich einem frommen Kirchenbesucher, der zaudernd in der Vorhalle verharrt, damit alles irdische Denken und der unreine Odem der Straße von ihm abgethan sei, ehe er seinen Fuß in das eigentliche Heiligthum setzt.

Denn sein Allerheiligstes war nicht dieser prunkende Saal mit den üppigen, in kühner Farbenpracht und überquellender Daseinsfreude leuchtenden Gestalten, sondern ein kleines, abseits gelegenes Zimmerchen, dessen Thür sich zur Rechten öffnete, und an welchem weitaus die meisten anderen Besucher achtlos vorubergingen.

Nur zwei Wände dieses Kabinetts waren mit Bildern geringen Umfanges bedeckt, und diese unscheinbaren Gemälde in ihren schlichten, alterthümlichen Umrahmungen behandelten durchweg Gegenstände, die auf die Neugier der großen Menge keinen Reiz zu üben vermögen. Außer dem uniformirten Beamten, der sich mit äußerst gelangweiltem Gesicht auf einem Stuhl neben der Thür niedergelassen hatte, blieb Hudetz lange Zeit der einzige in dem kleinen Raume. Keine verständnißlose Phrase und kein platter Scherz, wie sie an solchem Orte nur zu häufig laut werden, störte die weltvergessene Andacht, mit welcher er sich in die Betrachtung seiner kostbaren Lieblinge versenkte.

Wie oft hatte er diese kleinen Porträts, den „Mann mit den Nelken“ und das Bildniß des fast abenteuerlich häßlichen Tuchhändlers Giovanni Arnolfini, bereits betrachtet, wie zahllose Viertelstunden hatte er vor dem Christuskopf und den kleinen Madonnenbildern des Jan van Eyck bereits zugebracht! Und doch vermochte er an ihnen immer neue Reize und künstlerische Feinheiten zu entdecken – doch erfüllte ihn immer tiefere, immer liebevollere Bewunderung für den wackeren alten Meister, der als schlichter Handwerksmann mit unendlichem Fleiß und kindlich frommem Herzen eine neue Kunst ins Leben gerufen und den Größeren, die nach ihm kommen sollten, den Weg zur Erreichung der höchsten Ziele gewiesen hatte.

Schon wollte er sich zum Gehen wenden, um das Hauptwerk der Brüder von Maaseyck und den Stolz des Berliner Museums, die Altargemälde von Sankt Bavo zu Gent, aufzusuchen, als sein Blick auf ein winziges Bildchen zunächst dem Fenster fiel, von dem er sofort wußte, daß es früher nicht dagewesen war. Es war ohne Zweifel eine neue Erwerbung; denn statt der üblichen Katalognummer trug es nur auf einem kleinen Schildchen die Bezeichnung:

„Jan van Eyck, Madonna im Rosenhag.“

Eine fiebrische, fleckige Röthe der Aufregung trat auf Hudetz’ Wangen, während er mit weit vorgeneigtem Oberkörper das unscheinbare Holztäfelchen betrachtete, dessen bemalte Fläche von der ausgespreizten Hand eines großen Mannes wohl zu bedecken gewesen wäre. Was war alles Schöne und Bewunderungswürdige, das der Meister von Brügge sonst geschaffen, was waren selbst seine Genter Altarbilder neben diesem kleinen, köstlichen Meisterwerk!

Johes. de eyck me fecit anno 1435“, „Johannes von Eyck hat mich gemacht im Jahre 1435“, so war mit zierlichen, kaum wahrnehmbaren Buchstaben in die Steinbank eingemeißelt, neben welcher die Gottesmutter in ihrem weich herabfließenden weißen Mantel stand. Mehr als vier Jahrhunderte also waren über diese malerische Schöpfung hinweg gegangen, und doch prangte sie in einer so durchsichtigen, leuchtenden Reinheit und Frische der Farben, als hätte erst vor wenig Tagen des Meisters Hand den letzten Pinselstrich gethan. –

Ein Geräusch hinter seinem Rücken ließ Hudetz in heftigem Erschrecken aus seiner Verzückung emporfahren. Der Kopf schmerzte ihn infolge der langdauernden Anspannung des Gesichtssinnes, und als er sich rasch umwandte, wankte er in einer Anwandlung von Schwindel gleich einem Trunkenen. Der Museumsbeamte war noch immer der einzige, welcher sich außer ihm in dem kleinen Zimmer befand; aber während er den Eintretenden vorhin nicht der geringsten Beachtung gewürdigt hatte, waren seine Augen jetzt mit einem Ausdruck lebhafter Verwunderung auf Hudetz gerichtet. Und dieser prüfende Blick, der vielleicht nichts anderes war als eine Aeußeruug argloser Neugierde, erfüllte den ehemaligen Studenten mit athembeklemmender Angst. Wie kam der Mann dazu, ihn so durchdringend und forschend anzusehen? Warum hegte er Mißtrauen gegen ihn? Hatte er ihn vielleicht gar im Verdacht, daß er einen Diebstahl ausführen wolle wie im Kupferstichkabinett zu Breslau? In äußerster Verwirrung kehrte Hudetz sein Gesicht wieder den Bildern zu; aber er fühlte den mißtrauischen Blick, auch ohne ihn zu sehen, und langsam, Schritt für Schritt, schob er sich klopfenden Herzens gegen den einzigen Ausgang des kleinen Raumes hin. Noch in der Thür erwartete er, daß der Mann ihn anrufen und nach seinem Namen fragen werde. Aber nichts derartiges geschah, und ungehindert konnte er den Saal mit den Riesengemälden des Rubens und seiner Schüler durchschreiten.

Tief aufathmend blieb er in einem der angrenzenden Gänge stehen. Sein Erschrecken war sehr thöricht gewesen – gewiß! Seine beständig gereizte Einbildungskraft hatte ihm einen Streich gespielt – nichts weiter! Wie sollte der Beamte dazu kommen, einen Argwohn gegen ihn zu hegen? Er hatte sich ganz unauffällig benommen, und in seiner äußeren Erscheinung war doch am Ende nichts, was ein besonderes Mißtrauen erwecken konnte.

Aber wenn er nun doch richtig gesehen hatte? Wenn es vielleicht eine Uebereinkunft zwischen den einzelnen Museumsverwaltungen gab, nach welcher sie sich die Beschreibung derjenigen mittheilten, die einmal bei einem Galeriediebstahl betroffen worden waren? Der beängstigende Gedanke nahm in seinem aufgeregten Gehirn sofort eine fürchterliche Wahrscheinlichkeit an. Was wollte es am Ende beweisen, daß er schon so oft unbehelligt diese Räume durchwandert hatte? Man hatte ihn eben unter den vielen anderen nicht bemerkt, oder die Museumsdiener, die sonst hier aufgestellt gewesen, hatten sich jener Beschreibung nicht erinnert! Jetzt aber, wo das Mißtrauen des einen einmal geweckt worden war, jetzt würden auch alle übrigen auf ihn aufmerksam werden. Man würde ihn auf Schritt und Tritt beobachten, würde vielleicht der Polizei einen Wink geben, ein Geheimpolizist würde ihn um seine Papiere befragen, und dann – o, er wußte nur zu gut, was dann das Ende sein würde: ein Zwangsabschub in die Heimath, eine Vernichtung der letzten Hoffnung, die ihn noch an dies elende, gehetzte, kaum zu ertragende Dasein fesselte!

Wie geistesabwesend stierte er auf des jüngeren Teniers „Versuchung des heiligen Antonius“, vor der er seit zehn Minuten stand. Ein Fieberschauer schüttelte seinen Leib. Die abenteuerlichen Ungeheuer auf dem Bilde schienen plötzlich Leben zu gewinnen und sich in einem tollen Wirbeltanze zu bewegen. Von der plötzlichen Furcht gepackt, daß er hier krank oder ohnmächtig zusammenbrechen könnte, ging Hudetz mit beschleunigten Schritten denselben Weg zurück, den er gekommen war. Als er an dem offenen Eingang des kleinen Kabinetts vorüberkam, zog es seinen Blick mit unwiderstehlicher Gewalt dahin. Ein breiter Streifen hellen Wintersonnenscheins lag über dem kleinen Bilde zunächst dem Fenster. Scharf und körperlich hob sich die Madonna in ihrem weißen Mantel von dem grünen Rosengehege ab. Der Fuß des Fliehenden zauderte, denn eine schier unnatürliche, zwingende Lockung ging für ihn von dem winzigen Gemälde aus. Er meinte, der Versuchung einzutreten nicht länger widerstehen zu können – da hob der Beamte, der noch immer auf seinem Stuhle hockte, das gelangweilte Gesicht, sein erster Blick streifte die hagere Gestalt in dem weiten, fadenscheinigen Mantel, und jetzt glimmte vielleicht wirklich etwas wie ein leises Mißtrauen in seinen Augen auf. Hastig, zitternd, die Entgegenkommenden anrennend, und fast ohne zu sehen, wohin er trat, eilte Hudetz die Treppe hinab und durch die Vorhalle hinaus ins Freie; der scharfe,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_296.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)