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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Er hörte und sah es nicht, daß der Weinhändler aus dem Inhalt des Geldschrankes Geld auf die Platte seines Pultes zählte. Der verführerisch helle Klang des Goldes erreichte sein Ohr so wenig wie das lockende Knistern der Kassenscheine – und es riß ihn erst aus seinen Träumereien auf, als eine jugendliche Frauenstimme aus dem Nebenraume rief:

„Ach, Papa, komm doch herein – nur für einen Augenblick! Unser Hugo hat eben gelächelt – wahrhaftig gelächelt; die Wärterin sagt, sie habe das noch nie erlebt bei einem Kinde von kaum vier Wochen!“

In den Zügen des Patriarchen leuchtete es auf wie heller Sonnenschein. Als gälte es, ein Geschäft mit hundert Prozent Gewinn zu machen, eilte er zu der Thür des Nebengemaches. Und was hätte er wohl sechs Wochen früher demjenigen geantwortet, der ihm prophezeit hätte, daß er jemals ein paar tausend Mark unbeaufsichtigt bei unverschlossener Thür auf seinem Pulte liegen lassen würde, nur um das vermeintliche Lächeln eines Kindes von vier Wochen zu sehen? Er würde den Propheten für verrückt erklärt haben, – aber er war eben damals noch nicht Großvater gewesen wie heute.

Minute auf Minute verrann – eine lange Viertelstunde, – und Joseph Hudetz war noch immer allein mit dem blinkenden Golde und den verführerisch bunten Kassenscheinen. Doch nicht für die Dauer eines Herzschlages wandelte ihn die Versuchung an, seine Hand auszustrecken nach dem fremden Gute. Der Tag neigte sich bereits dem Abend zu; seit dem frühen Morgen hatte er weder Speise nach Trank zu sich genommen, und es war wenig Aussicht vorhanden, daß er die Mittel erlangen würde, das Versäumte später nachzuholen. Aber er dachte nichtsdestoweniger keinen Augenblick an die Möglichkeit, eine dieser glänzenden Münzen, eines dieser bunten Papiere an sich zu nehmen und mit unhörbaren Schritten das Weite zu suchen.

Er würde niemals aus Hunger gestohlen haben – niemals!

Der Weinhändler trat wieder auf die Schwelle. Sein erster Blick streifte die zusammengekauerte Gestalt in der Ecke bei dem Ofen – der zweite flog blitzschnell nach dem Pulte hinüber.

„Sie sind noch immer da?“ fragte er, und aus dem Klang seiner Stimme war es zu hören, wie schwer ihm sein beispielloser Leichtsinn noch nachträglich auf die Seele fiel. „Sind Sie die ganze Zeit hindurch dagewesen?“

„Ja,“ erwiderte Hudetz bescheiden, „Sie forderten mich ja auf, zu warten, bis Sie Zeit für mich haben würden.“

Der Patriarch brummte etwas vor sich hin und begann von neuem sein Geld zu zählen. Es fehlte nichts davon, und als er es bis auf den letzten Thaler in den diebessicheren Eisenschrank eingeschlossen hatte, wandte er sich wieder gegen seinen Besucher.

„Eine Anzeige soll ich Ihnen geben für die ‚Morgenpost‘ und für die ‚Abendglocken‘, nicht wahr? Nun, ich habe nicht gesehen, ob es mir in meinem Geschäft genützt hat, aber es hat mir auch nicht geschadet, denn mein Geschäft geht gut. Also sollen Sie sie haben, die Anzeige.“

Er kritzelte einige Worte auf ein Blatt Papier, drückte seinen Firmenstempel darunter und reichte es dem erleichtert aufathmenden Hudetz.

„Ich danke Ihnen,“ erwiderte dieser, indem er hastig nach seinem Hute griff und Miene machte, sich zu entfernen. Wohlgefällig streichelte der Patriarch seinen langen grauen Bart.

„Nun, warum haben Sie es mit einem Male so eilig, da Sie doch Zeit hatten, eine Stunde oder darüber zu warten? – Es ist Ihr Geschäft, herumzulaufen und sich Inseratenaufträge von diesem und jenem geben zu lassen. Nun ja – warum nicht? – Mancher wird sie geben und mancher wird sie nicht geben. Es ist ein Geschäft wie jedes andere. Aber ich glaube nicht, daß es ein gutes Geschäft ist – das heißt: ein einträgliches Geschäft – ich glaube es nicht.“

„Freilich, man kann nicht reich davon werden,“ sagte Hudetz, dem der Boden unter den Füßen brannte.

Mit einem tiefsinnigen Lächeln wiegte der Patriarch das ehrwürdige Haupt.

„Reich?“ wiederholte er. „Wovon kann man reich werden in diesen schweren Zeiten? Wer Gottes Segen nicht auf seinem Geschäft hat, der bleibt ein armer Teufel sein Leben lang. Soll ich Ihnen etwas sagen, junger Mann? Als ich in Ihren Jahren war oder darunter, bin ich hierher gekommen mit fünf Groschen in der Tasche und hab’ nicht gewußt, wo ich mein Haupt hinlegen sollte in der Nacht. Und da, an der nämlichen Stelle, wo Sie stehen, habe ich gestanden und um eine Zehrung gebeten für meinen Weg. Aber der, der damals der Herr war in diesem Haus, war übel gelaunt und hieß mich mit einem unfreundlichen Wort von dannen gehen. Ich sage nicht, daß es recht von ihm war, denn wer da hat, der soll seinem Bruder geben, daß er auch habe. Aber wir sind alle nur Menschen und haben unsere Fehler wie Menschen. Also ging ich still hinaus und kaute auf einem Strohhalm, weil mich hungerte, wie einen gesunden Menschen von zwanzig Jahren hungert, der in fünfzehn Stunden nichts Warmes und nichts Kaltes zwischen den Zähnen gespürt hat. Und wie ich im Finstern die Treppe hinabgehe, da stößt mein Fuß an was Hartes, und wie ich es aufhebe, ist es ein Geldbeutel mit elf harten Thalern. Elf Thaler sind nicht viel für einen, der im Ueberflusse sitzt; aber es ist sehr viel für einen, der seit fünfzehn Stunden hungert und nicht weiß, wo er sein Haupt hinlegen soll. Nun, was meinen Sie, daß ich gethan habe? Umgekehrt bin ich, den Geldbeutel hab’ ich auf den Tisch gelegt und gesagt: ‚Zählen Sie’s nach, ob etwas fehlt von dem, was darin gewesen ist!‘ Und von Stund’ an bin ich als Gehilfe hier im Hause geblieben, und sechs Jahre später hab’ ich die Tochter desselben Mannes geheirathet, der mich hinausgeschickt hatte. Und dann bin ich Herr geworden im Haus, und Gottes Segen ist auf meinem Geschäft gewesen. Nun, was meinen Sie, warum ich Ihnen die ganze alte Geschichte erzählt habe?“

Hudetz hatte ihm nur mit halbem Ohr zugehört, denn die Ungeduld verzehrte ihn, und er empfand nicht die geringste Theilnahme für die Erinnerungen des Patriarchen.

„Ich weiß in der That nicht,“ stammelte er, „es war gewiß ein sehr merkwürdiger Zufall – aber –“

„Zufall – warum Zufall? – Und ich will es Ihnen gerade heraus sagen! Ihr Geschäft ist kein gutes Geschäft, denn Sie kommen dabei niemals auf einen grünen Zweig. Ich aber kann ganz gut noch einen ehrlichen, zuverlässigen Menschen brauchen für die Schreibstube und für das Lager. Da melden sich so viele mit den rechtschaffensten Gesichtern und den schönsten Redensarten, und hinterher kann man froh sein, wenn sie nicht vielleicht gar schon im Gefängniß gesessen haben. – Nun, was ist denn, warum haben Sie’s mit einem Male so eilig, junger Mann?“

Hudetz stand schon in der geöffneten Thür. Das Blatt, das er noch immer in der Hand hielt, war nicht viel weißer als sein Gesicht.

„Sie sind sehr gütig,“ stieß er hervor, „aber ich kann wirklich nicht – es geht nicht – und – und ich darf mich nicht länger aufhalten – guten Abend!“

Er rannte davon, als hätte er statt des menschenfreundlichen Anerbietens Stockschläge von dem Patriarchen erhalten. Seine Geschäfte in den Expeditionen der „Morgenpost“ und der „Abendglocken“ waren rasch erledigt, und er erreichte die Steuerkasse eben noch unmittelbar vor Thoresschluß. Als er wieder heraustrat, war sein Besitz an barem Gelde geringer als die Barschaft, mit welcher einst der Weinhändler nach Berlin gekommen war, um sein Glück zu machen. Er kaufte sich etwas Gebäck bei einer alten Frau, die trotz der schneidenden Kälte mit ihren Kuchenkörben im Lustgarten saß, und während er essend vor der großen Freitreppe des Museums auf und nieder ging, kehrten seine Gedanken zu dem einzigen Gegenstand zurück, der jetzt noch Werth und Bedeutung für ihn hatte.

Die Dunkelheit, welche ihn umgab, übte einen beruhigenden Einfluß auf ihn aus. Wie weit er auch von einer Empfindung der Sicherheit und des Geborgenseins entfernt war, er wagte doch endlich, ganz schüchtern der Vorstellung Raum zu geben, daß seine Befürchtungen vom Mittag grundlos gewesen sein könnten, und er rang sich endlich nach vielem Zaudern und Verwerfen zu der Entschließung durch, morgen noch einmal auf jede Gefahr hin den Besuch der Galerie zu wiederholen. Er wollte die äußerste Vorsicht aufwenden und sich von dem eigentlichen Ziele seiner Sehnsucht so lange fernhalten, bis er die Gewißheit erlangt hatte, daß man ihn nicht beobachte. Wenn er die Augen offen hielt, mußte ihm ja unter allen Umständen noch Zeit genug zum Rückzuge bleiben, sobald sich irgend etwas Besorgnißerregendes zeigte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 299. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_299.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)