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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Gestärkt und mit einem Gefühl der Spannung, wie es ihm in seinem aufreibenden Kampfe ums Dasein seit langem fremd geworden war, kehrte er nach langem Umherwandern in seine Wohnung zurück. Die Alte lag hustend und nach Athem ringend auf ihrem Bette. Seine Mittheilung, daß die bedrohliche Angelegenheit geordnet sei, schien sehr geringen Eindruck auf sie zu machen. Sie brummte nur etwas, das Hudetz nicht verstand, und auf seine besorgte Frage, ob sie sich vielleicht ernstlich unwohl fühle, fuhr sie ihn fast zornig an:

„Wenn’s schon so wäre, könnten Sie mir etwa helfen? Gehen Sie nur und legen Sie sich schlafen! Hat man dreißig Jahre allein gelebt, kann man am Ende auch allein verenden!“

Er wagte es nicht, ihr zu widersprechen; aber seine Besorgniß, daß ihr etwas zustoßen könnte, veranlaßte ihn doch, sich in den Kleidern auf das Bett zu legen. Sein Schlaf war infolge dessen unruhig und vielfach durch Träume unterbrochen, die fast den Charakter von Fieberphantasien hatten. Erst gegen Morgen, als auch der bellende Husten der Alten minder häufig und beängstigend durch die dünne Scheidewand tönte, fiel er in tieferen, halbwegs erquickenden Schlummer.

Und er träumte, daß sich van Eycks Madonna im Rosenhag nicht mehr im Besitz der Berliner Galerie, sondern in seinem eigenen engen Stübchen befand. Das Bild schwebte frei in der Luft mitten im Gemache, und es ging ein wunderbares Leuchten von ihm aus, ein überirdischer Glanz, der ihm zuletzt eine schmerzliche Empfindung in den Augen verursachte. Und diesen stechenden, bohrenden Schmerz fühlte er auch noch beim Erwachen. Der Kopf war ihm so schwer, daß er ihn nur nach minutenlangem Kampfe und mit dem Aufgebot seiner ganzen Willenskraft von dem Kissen zu erheben vermochte. Eine furchtbare Mattigkeit machte ihm selbst die geringfügigste Bewegung der Glieder zu peinvoller Anstrengung.

Sicherlich wäre er in seinem heutigen Zustande ganz unfähig gewesen, irgend einen Entschluß zu fassen, welcher moralischen Muth oder Spannkraft des Geistes zur Voraussetzung gehabt hätte. Aber der Vorsatz vom gestrigen Abend wirkte seltsamerweise in ihm nach wie der Befehl einer höheren Macht, vor der es kein Entrinnen und gegen die es kein Widerstreben gab.

Er hatte sich nie so schwach, so hinfällig und so zaghaft gefühlt als gerade heute, und trotzdem stand es ihm unumstößlich fest, daß er auf jede Gefahr hin in das Museum gehen werde.

Schon während er sich ankleidete, dachte er an nichts anderes als daran. Er zauderte, den weiten grauen Mantel anzulegen, den ein betrügerischer Kleiderhändler ihm aufgeschwatzt hatte, und der in den Tagen seines Glanzes wohl für zwiefach breitere Schultern reichlich bequem gewesen war. Das auffällige Kleidungsstück mußte es ja dem Beamten leicht machen, ihn wiederzuerkennen. Aber mit einem Male ging es ihm durch den Sinn, wie mühelos man einen Gegenstand, der etwa die Größe des van Eyckschen Madonnenbildes hätte, unter den Falten dieses Mantels würde verbergen können. Zwar vermochte sein schmerzendes Gehirn diesen sonderbaren Gedanken ebensowenig festzuhalten wie irgend eine andere von den tausend abenteuerlichen Vorstellungen, die sich unablässig hinter der fiebernden Stirn jagten; aber er hüllte seine hagere Gestalt nun doch ohne weiteres Zögern in das gefährliche Kleidungsstück ein und machte sich auf den Weg.

In einem fast ausschließlich von Arbeitern besuchten Kaffeekeller der Chausseestraße versuchte er ein einfaches Frühstück zu sich zu nehmen. Aber der erste Bissen schon quoll ihm im Munde, und die verpestete Luft des niederen Raumes, dessen Fenster nicht geöffnet worden waren, obwohl mehr als ein Dutzend Menschen sich rauchend und schnapstrinkend bis zum Morgengrauen darin aufgehalten hatten, verursachte ihm unerträgliche Uebelkeit. Er war wirklich nahe daran, ohnmächtig zu werden, und das mochte sich ziemlich deutlich auf seinem Antlitz ankündigen, denn ein älterer Mann in der gestrickten Wolljacke eines Maurers, der sich neben ihn auf die hölzerne Bank geschoben hatte, redete ihn plötzlich an: „Ihnen ist nicht ganz wohl – was? – Lassen Sie doch die Cichorienbrühe stehen – davon wird es nicht besser! Nehmen Sie lieber einen Nordhäuser, der bringt Sie schon wieder auf die Beine!“

Er schob Hudetz das gefüllte Schnapsglas zu, das der Wirth soeben vor ihn niedergesetzt hatte, und der ehemalige Student hob es mit zitternden Fingern an die Lippen, als müßte er heute willenlos jede Weisung befolgen, die ihm von irgend einer Seite her zutheil wurde. Seit den Tagen seiner frühesten Kindheit hatte er stets einen unbezwinglichen Ekel gegen alle geistigen Getränke empfunden. Der bloße Geruch des Branntweins erweckte ihm mit Naturnothwendigkeit die Erinnerung an jene wüsten und grauenhaften Auftritte, deren Zeuge er in seinem Elternhause, dem Hause des unverbesserlichen Schnapstrinkers, gewesen war. Und auch jetzt schüttelte ihn der Widerwillen, als er den ersten brennenden, abscheulich schmeckenden Tropfen auf seiner Zunge fühlte. Ein Erdarbeiter, der ihm gegenüber saß und ihn beobachtete, brach in rohes Gelächter aus; der Maurer aber ermunterte ihn gutmüthig:

„Nur hinunter damit! – Die Wirkung kommt erst, wenn man ihn im Magen hat.“

Und sie ließ in der That nicht lange auf sich warten, diese Wirkung, die so wunderbar war und so unbeschreiblich wohlthätig. Wie ein Strom flüssigen Feuers rann es durch seinen Körper, als er mit furchtbarer Anstrengung den ganzen Inhalt des Glases hinabgeschüttet hatte; der bohrende Schmerz in den Schläfen und den Augen verwandelte sich in einen dumpfen, um vieles leichter zu ertragenden Druck, und ein Kraftgefühl, wie er es kaum je gekannt hatte, war urplötzlich an die Stelle der bisherigen Mattigkeit getreten.

Er besaß nicht mehr als zehn Pfennig, als er die steile Kellertreppe wieder emporklomm. Aber diese Mittellosigkeit machte ihm keine Sorge. Er hatte überhaupt keine Sorgen in diesen glücklichen Augenblicken. Der Anblick eines eiligen Zeitungsjungen, der ihn mit seiner großen Mappe unsanft in die Seite gestoßen hatte, erinnerte ihn an sein Erlebniß vom gestrigen Abend, an den Patriarchen und an das menschenfreundliche Anerbieten desselben. Er lachte still in sich hinein bei der Vorstellung, wie sich das ehrwürdige Antlitz des Weinhändlers wohl verwandelt haben würde, wenn er ihm geantwortet hätte, daß er auch einer von denen sei, die bereits im Gefängniß gesessen haben ... Als wenn es etwas so Außerordentliches wäre, dies Bestraftsein! ... Waren nicht zu allen Zeiten große Männer eingekerkert worden? Und gab es nicht unter den lebenden Berühmtheiten einige, die in den Sturmjahren der Revolution sogar zum Tode verurtheilt worden waren? ... Am Ende kam es doch nur darauf an, sich nicht erwischen zu lassen! ... Was hatte es denn für die Allgemeinheit zu bedeuten, ob ein paar seltene Kupferstiche die Freude eines armen Studenten ausmachten, oder ob sie in den Mappen eines reichen Liebhabers verschlossen blieben! ... Nicht einmal das Behagen und das Wohlbefinden dieses Liebhabers hatte es länger als für eine flüchtige Stunde zu stören vermocht, daß er die wenigen Blätter genommen, und er – er sollte es trotzdem büßen mit der Zerstörung seines ganzen Daseins? – Nein, das war keine Gerechtigkeit – das konnte nicht der Wille desjenigen gewesen sein, welcher dem Weltenlauf seine ewigen Gesetze vorgeschrieben! Man hatte ein Recht, sich dagegen aufzulehnen ... und er wollte sich auflehnen – gewiß, es war sein fester Entschluß, das zu thun! Wenn man nicht die Kraft besaß, diese unsinnige soziale Ordnung mit einem Ruck übern Haufen zu werfen, so mußte man sie verhöhnen, man mußte sich über sie lustig machen, wie die schwärmenden Mücken sich vielleicht über den starken, alles beherrschenden Menschen lustig machen, den sie ungescheut reizen und peinigen, obwohl ein einziger Druck seines Fingers hinreichen würde, sie zu tödten, wenn er sie nur in seiner Gewalt hätte! ... Ja, wenn er sie hätte – das war eben der Humor davon!

Der Vergleich gefiel Hudetz außerordentlich, er dünkte ihm so treffend, daß er mit dem Behagen eines Dichters, der einen glücklichen Gedanken gefunden zu haben meint, dabei verweilte. Was war er denn auch anderes als eine solche arme, harmlose Mücke? Ein einziges Mal nur hatte er sich seines Daseins freuen wollen, und um des winzigen, kaum fühlbaren Stiches willen, den dabei ein anderer empfangen hatte, wollte man ihn nun erbarmungslos zerdrücken und vernichten! Er war eben so thöricht gewesen, sich erwischen zu lassen – er hatte gar keinen Versuch gemacht, dem Verhängniß zu entrinnen, weil ihm irgend jemand in seiner Kindheit eine thörichte Ehrfurcht eingeprägt hatte vor dieser verrückten Weltordnung, in welcher die Gesellschaft mit dem rohen Rechte des Stärkeren durch Keulenschläge jeden Nadelstich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 300. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_300.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)