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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

entsetzlich hartherzig! Die Wohnung der Witwe besteht aus einem einzigen Stübchen im Hause eines Schneiders. Im Chorinstitut zu Heilbronn lernt Eulenstein mit achteinhalb Jahren Singen und Violinspielen, er läuft überall hin, wo Musik zu hören ist; die Mutter holt eine seit Jahren weggepackte, vom Vater vererbte Geige hervor, zu welcher der Bogen fehlt, der jetzt gekauft wird. Der Lehrer erklärt, er habe noch nie einen für das Violinspiel so begabten Schüler gehabt; Karl spielt in den Winternächten fort, bis ihm die Finger erstarren, der frühere „Gassenjodel“ eilt in allen Freistunden nach Hause, um sich auf den Saiten zu üben. Der Mutter dämmert wohl die Hoffnung, daß ihr Sohn als ein tüchtiger Musiker dereinst ihre Stütze werden könne; allein der Onkel und Vormund, ein biederer, reichgewordener Färber in der Neckarstadt, der jeden Musikanten von vornherein für einen Faullenzer und Vagabunden hält, vertreibt ihr diese Grillen, und bei ihm ist es beschlossen, fest, unabänderlich: Karl soll Schneider werden!

Inzwischen geigte dieser fleißig fort; aber das Geigen kostet Saiten und das Geld wurde immer seltener in dem Hause, das kleine Vermögen schmolz erschreckend zusammen, trotz der größten Sparsamkeit. Auf welchen Ausweg verfiel da der Knabe? Er überredete die Mutter, ihm statt des Frühstückweckens einen Kreuzer zu geben, so daß er selbst auf dem Weg zur Schule sich ein Brötchen kaufen könne. Anstatt nun Brot zu kaufen, hungerte er bis mittags und ersparte sich auf diese Weise in sechs Tagen das Geld für eine Saite.

Als die Mutter das erfuhr, war sie bis zu Thränen gerührt und bestand darauf, daß er auf diese Art sich keine Saiten mehr erwerben durfte.


Die Calema an der westafrikanischen Küste.


Eine fortgesetzte Reihe von Kümmernissen blieb gleichwohl der Mutter und dem Sohn nicht erspart. Um ihre Lage zu verbessern, nimmt die erstere einen Dienst an, wird Kindsfrau bei einer Familie, die früher viel ärmer war als sie selbst, aber es jetzt zu Wohlhabenheit gebracht hat. Der Knabe wird einstweilen bei dem Schneider in die Kost gegeben, für 50 Gulden jährlich. Und doch ist die Kost besser, als die Mutter sie ihm zu reichen imstande gewesen war! Nach der Konfirmation gab der Knabe sich alle Mühe, den Onkel zu überzeugen, daß er zu etwas anderem geboren sei, als zu einem Schneider; doch der Musiker wurde ihm rundweg versagt und auf einem ehrlichen Handwerk bestanden. So kam er zu einem Buchbinder in die Lehre. In einer Rumpelkammer, vollgepfropft mit Pappendeckeln und allerhand bunten Papieren, steht sein Bett; der zarte, schwächliche Junge erstickt fast unter der schweren Decke. Die Geige darf er nicht mit ins Haus bringen, doch wird ihm erlaubt, des Abends einige Stunden bei der Mutter zuzubringen, welche sich wieder ihr eigenes Stübchen gemiethet hat und jetzt für andere Leute Strümpfe strickt.

Das waren Lichtblicke in diesem Kinderleben – ein paar friedliche Stunden des Tags bei dem guten Mütterchen und ihr auf den Saiten hinhauchen, was die Kindesseele bewegte! Da waren sie glücklich und zufrieden, da spürten sie keine Noth. Und nun denke man sich ihren jähen Schmerz, als der Buchbinder kurzer Hand erklärte, er könne den Lehrjungen nicht brauchen, er sei zu schwach zu diesem Geschäft! Nach vielen Verhandlungen mit dem Onkel kam Karl noch ein halbes Jahr ins Gymnasium, das er schon früher besucht hatte, und dann in die Lehre zu einem Kaufmann . . . dem nämlichen, bei dem er die Bekanntschaft Justinus Kerners und der Maultrommel machen sollte. –

Sein neuer Geschäftsherr war sehr wohlwollend gegen ihn vom ersten Tag an und schenkte ihm doppelte Theilnahme, als er gehört hatte, wie musikalisch er sei; hegte er doch selbst für die edle Tonkunst eine ausgesprochene Vorliebe. Um so mehr verdarb Karl es mit der mürrischen Frau Prinzipalin, die nichts mehr haßte als Musik. Sie ließ Karls Mutter kommen und verbot ihr streng, daß ihr Sohn je eine Geige mitbringe. Man stelle sich daher das Glück des Lehrlings vor, als er ein Instrument entdeckte, das er ganz im geheimen und in jedem freien Augenblick, im Laden, im Konto, im Keller, im Holzstall, auf dem Dachboden, wo immer er allein war, spielen und üben konnte! Auch kostete eine Maultrommel nur zwei Kreuzer und brauchte keine Saiten. Bald vervollkommnete der erfinderische junge Mann das Instrument dadurch, daß er ein Stück Wachs oder Sigellack an das Ende der Zunge anklebte und es so tiefer stimmte. Durch blitzschnellen Wechsel der Maultrommeln beim Spielen vermochte er auf diese Weise in verschiedenen Tonarten zu moduliren. Aber die Sache bot noch die weiteren Vortheile, daß erstens der Ton infolge der langsameren Schwingungen bei vergrößerter Stahlzunge voller und schöner wurde und daß zweitens ihm die Maultrommeln das Gesicht nicht mehr zerkratzten.

Durch rastlose heimliche Uebung bei Tag und Nacht machte er so überraschende Fortschritte, komponirte auch viele so hübsche Stückchen, daß, als sein Geschäftsherr zufällig davon Kenntniß erhielt, er hinter dem Rücken seiner Frau einige Freunde einlud, um sie durch das Spiel des Jünglings zu erfreuen. Zunächst wollte er ihnen damit ein Räthsel aufgeben. Karl sollte im Dunkeln spielen und die Herren sollten rathen, was das für ein Instrument sei. Nur einer war eingeweiht: Dr. Justinus Kerner von Weinsberg, der den jungen Eulenstein schon zuvor einmal gehört hatte.

Die Herren lauschten verwundert, und wie groß war ihr Staunen, als Licht gebracht ward und ein halbes Dutzend Maultrommeln

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 317. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_317.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)