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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Sie stampfte mit dem Fuß auf den Boden und ließ sich dann wie erschöpft wieder auf das Ruhebett fallen. In wortlosem Erstaunen betrachtete Marie ihre unbegreifliche Erregung. Die Furcht, daß möglicherweise doch ein trotzig verschwiegener körperlicher Schmerz solchen Einfluß auf die Stimmung ihrer Verwandten ausübe, wollte sich von neuem ihrer bemächtigen.

Aber Cilly ließ es nicht erst zu einer dahin gehenden Frage kommen. Indem sie mit etwas nervösen Bewegungen die Falten ihres Kleides glättete, sagte sie, noch einmal umherschauend, in plötzlich verändertem, spöttischem Ton:

„Das also ist das Herrschgebiet Deines Bruders? – Vermuthlich befinden wir uns in seinem Allerheiligsten, da – wo er die Zähne auszieht.“

Es war ohne Zweifel eine boshafte Absicht in dieser Bemerkung, aber Marie war zu harmlos, um dieselbe zu verstehen.

„Ja,“ erwiderte sie, froh, daß der seltsame Zornesausbruch so rasch vorübergegangen war, „da ist der Operationsstuhl und dort der Schrank mit den Instrumenten. Möchtest Du sie einmal sehen, diese Marterwerkzeuge der Neuzeit?“

„Nein – um Gotteswillen! – Schon der Gedanke an diese erbaulichen Dinge könnte mich von neuem ohnmächtig machen. – Aber wo ist denn der Herr Vetter? Nimmt ihn sein Geschäft so sehr in Anspruch, daß ich nicht einmal die Vergünstigung genießen soll, ihm für seine Gastfreundschaft zu danken?“

„Er wollte sich bemühen, einen Arzt herbeizuschaffen.“

„Freilich – Ohnmachten und dergleichen gehören ja nicht in sein Gebiet! Aber, wie Du siehst, liebste Marie, bin ich schon wieder so frisch und munter, daß ich gar keines Arztes mehr bedarf, weder eines ganzen noch eines halben. Und ich empfinde ein lebhaftes Verlangen, nach Hause zu kommen.“

„Wenn Du gestattest, werde ich mich nach meinem Bruder umsehen. Er befindet sich wahrscheinlich ganz in der Nähe.“

Cilly sagte nichts, und Marie nahm dies Schweigen für eine Zustimmung. Sie ging hinaus und fand Wolfgang in dem zweiten der anstoßenden Zimmer anscheinend sehr ruhig an seinem Schreibtische sitzen.

„Nun?“ fragte er. „Es ist nichts, nicht wahr? Die Nervenschwäche einer verzärtelten jungen Dame. Aber der Arzt wird gleich da sein.“

„Es bedarf seiner nicht mehr. Bis auf eine gewisse Gereiztheit befindet sich Cilly wieder ganz wohl, und sie wünscht nur, sich von Dir zu verabschieden.“

Er erhob sich sofort von seinem Schreibsessel.

„Ich stehe zu Diensten! Doch, da uns der Zufall einmal zusammengeführt hat – eine beiläufige Frage, liebe Marie! Wie behagt es Dir im Hause des Generals?“

Sie sah voll zu ihm auf und ihre Augen leuchteten.

„O, gut, Wolfgang, sehr gut! Ich bin recht von Herzen glücklich!“

Es zeigte sich weder Freude noch Verstimmung auf seinem Gesicht, aber er strich zwei- oder dreimal seinen blonden Bart, ehe er erwiderte:

„Natürlich ist es mir sehr lieb, das zu hören! Hoffentlich wird weder jetzt noch künftig einer von unseren trefflichen Verwandten die Rücksichten außer acht lassen, welche er Dir schuldet.“

„Wie kannst Du daran zweifeln! Ich wäre entsetzlich undankbar, wenn ich nicht freudig anerkennen wollte, wie zartfühlend und liebevoll man sich gegen mich benimmt. Selbst der gestrenge Herr Assessor läßt es an der gebührenden Höflichkeit niemals fehlen, obgleich wir uns wie in stillschweigender Uebereinkunft gern aus dem Wege geben.“

„Das ist bedauerlich, denn die Menschen von den Charaktereigenschaften Lothars sind so selten, daß man diese wenigen viel eher aufsuchen als ihnen aus dem Wege gehen sollte. Aber ich denke nicht daran, Dich zu bevormunden oder väterlich zu berathen. Du mußt am Ende selbst wissen, wem Du zu vertrauen und vor wem Du Dich zu hüten hast. Da ist jede Einmischung nur vom Uebel.“

„Wenn Du eine so warme Freundschaft für Lothar empfindest, warum kommst Du denn niemals, ihn und seine Angehörigen zu besuchen? Ich muß Dir gestehen, Wolfgang, daß ich Dein beharrliches Fernbleiben einigermaßen befremdlich finde. Hoffentlich wirst Du doch wenigstens bei der heutigen Abendgesellschaft nicht fehlen.“

Er zuckte mit den Achseln und machte sich an den Papieren auf seinem Schreibtische zu schaffen.

„Meine Praxis gewinnt von Tag zu Tage so sehr an Umfang, daß mir für dergleichen wirklich keine Zeit bleibt, liebe Marie.“

Sie zögerte einen Augenblick, als ginge sie mit sich zu Rathe, ob sie einem ihrer geheimsten Gedanken Ausdruck geben dürfe; dann aber legte sie ihre Hand auf des Bruders Schulter und sagte sehr eindringlich und ernst: „Sei aufrichtig gegen mich, Wolfgang: hat man Dich zu dieser Abendgesellschaft eingeladen?“

Statt aller Antwort schob er einen Haufen von Briefen bei Seite und reichte ihr eine große, sauber gestochene Karte.

„Frau von Brenckendorf und der kommandirende General –“ begann Marie zu lesen, „ich danke Dir, Wolfgang. Es fällt mir ein Stein vom Herzen, denn diese thörichten Vermuthungen, denen ich doch gegen niemand Ausdruck geben konnte, fingen schon an, mich ernstlich zu beunruhigen. – Aber wenn man Dich so feierlich einladet, warum kommst Du nicht ein einziges Mal und wäre es auch nur der Form wegen auf eine Stunde? Ich glaube nicht daran, daß es Dir so ganz unmöglich ist – es sei denn, Du hättest besondere Gründe –“

„Und wenn ich nun wirklich solche besonderen Gründe hätte,“ unterbrach er sie ruhig, „würdest Du mir nicht auch ohne weitere Erklärung glauben, daß sie triftig genug seien? Du und ich, liebe Marie, wir sind ziemlich fertige Menschen, und wir wollen nicht versuchen, einander zu beeinflussen, nicht wahr? Aber nun dürfen wir Bäschen Cilly wahrhaftig nicht länger warten lassen, am wenigsten, wenn sie wirklich so reizbar ist, wie Du sagst.“

Cäcilie von Brenckendorf hatte in der That schon sehr oft mit allen Anzeichen großer Ungeduld das Operationszimmer durchwandert, und als nun die Geschwister eintraten, nahm sie eine steife und hoheitsvolle Haltung an, die gar nicht sonderlich zu ihrer Erscheinung und zu ihrem ganzen Wesen passen wollte.

„Ich wünsche Ihnen Glück zu Ihrer Errettung und zu Ihrer raschen Wiederherstellung, verehrte Cousine,“ sagte Wolfgang in seiner angenehmen, ruhig heiteren Weise, „es hätte wahrhaftig ernst genug werden können.“

Er hatte ihr nicht die Hand geboten, weil sie die ihrigen mit ganz unverkennbarer Absichtlichkeit in ihrem Müffchen verborgen hatte.

„Marie sagt mir, daß ich Ihnen zu besonderem Dank verpflichtet sei,“ erwiderte sie, „und ich wollte natürlich nicht gehen, ohne diesem Dank Ausdruck gegeben zu haben. – Ist es wahr,“ fügte sie, als Wolfgang sich mit stummem Lächeln verbeugt hatte, in einem veränderten, natürlicher klingenden Tone hinzu, „daß Sie den Vorfall mit angesehen haben?“

„Ich stand gerade am Fenster, und ich würde dem armen Droschkenkutscher als Entlastungszeuge dienen können, wenn man etwa den unglücklichen Gedanken haben sollte, ihn zur Verantwortung zu ziehen.“

Cilly streifte ihn mit einem raschen, mißtrauischen Blick.

„So? – Sie sind sehr nachsichtig gegen den Menschen, dessen Fahrlässigkeit und Ungeschick Ihre Schwester in Lebensgefahr gebracht hat – von mir natürlich nicht zu reden! Es mag ja sein, daß auch ein unglücklicher Zufall dabei mitgespielt hat –“

„Gewiß! Der unglückliche Zufall nämlich, daß Seine Durchlaucht der Prinz Lamoral von Waldburg nicht ahnen konnte, wer die Insassen jener Droschke waren, die er mit so viel ritterlichem Muthe niederrennen ließ.“

Es war gut, daß das Müffchen seinen Blicken verbarg, wie sich die kleinen Hände darin zu Fäusten ballten.

„Ah, – Sie wollen ihn denunzieren!“ sagte Cilly nach einem tiefen Athemzuge.

„Ich muß gestehen, daß mich in der That vorhin ernstlich die Lust dazu anwandelte, denn es giebt eben Fälle, in denen selbst ein halb amerikanisirter Deutscher das lebhafte Verlangen fühlen kann, den Staatsanwalt in Thätigkeit treten zu sehen. Aber Sie mögen sich beruhigen, liebe Cousine! – Da alles so glücklich abgelaufen ist, und da man dem armen Manne hoffentlich den erlittenen Schaden ersetzen wird, mag Seine Durchlaucht in Frieden auf den Lorbeern dieses Heldenstückchens ruhen.“

Schmollend hatte Cilly die Lippen geschürzt. Die Gelassenheit, mit welcher der Zahnarzt ihre verletzende Bemerkung beantwortet hatte, brachte sie um den letzten Rest ihrer würdevollen Haltung.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 330. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_330.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)