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verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

„Anspannen, so rasch als möglich!“ rief er dem wieder eintretenden Diener zu: „Wie ist das gekommen, Stadinger? So sprechen Sie doch!“

„Der Herr Baron kam mit der gnädigen Frau von Ostwalden und wollte nach Fürstenstein,“ berichtete Stadinger. „Der Weg führt ja durch Rodecker Gebiet, nicht weit vom Schlosse vorüber. Unser Förster, der mit dem Forstgehilfen im Walde ist, giebt dort ein paar Schüsse ab und ein angeschossener Hirsch jagt in wilder Flucht über die Fahrstraße, gerade an dem Wagen vorbei. Die Pferde scheuen und gehen durch, der Kutscher kann sie nicht mehr halten. Die beiden Jäger, die das sehen, stürzen hinterdrein, sie hören noch, wie die Frau Baronin ihren Mann bittet: ‚Bleib sitzen, Herbert! Um Gotteswillen, nein, nicht hinaus!‘ – Aber der Herr scheint ganz den Kopf verloren zu haben, er reißt den Schlag auf und springt hinaus. Bei der rasenden Jagd stürzt er natürlich mit voller Gewalt nieder und wird gegen einen Baum geschleudert. Nicht weit davon an einer Biegung des Wegs bringt der Kutscher endlich die wildgewordenen Thiere zum Stehen. Die Frau Baronin, die unverletzt war, eilt so rasch als möglich zu der Unglücksstätte und da findet sie den armen Herrn schwer verletzt, bewußtlos. – Die Forstleute brachten ihn nach Rodeck, das am nächsten lag. Herr Rojanow hat für alles gesorgt, was für den Augenblick nöthig war, und nun schickt er mich, um Ihnen die Nachricht zu bringen.“ –

Es war selbstverständlich, daß unter dem Eindruck dieser erschütternden Nachricht der eben noch so heftige Familienstreit sofort aufhörte. In Hast und Eile machte man sich zum Aufbruch fertig, Antonie wurde gerufen und benachrichtigt, und sobald der Wagen angespannt war, eilte der Oberforstmeister mit seiner Schwägerin hinunter. Willibald, der mit Stadinger folgte, hielt diesen auf der Treppe noch einen Augenblick zurück und fragte halblaut:

„Wie hat der Arzt sich ausgesprochen? Wissen Sie Näheres darüber?“

Der Alte nickte traurig mit dem Kopfe und antwortete, gleichfalls in gedämpftem Tone: „Ich stand dabei, als Herr Rojanow ihn im Vorzimmer fragte. Es ist keine Hoffnung mehr – der arme Herr wird den Tag nicht überleben!“




Das kleine Jagdschlößchen von Rodeck, das in dem Schnee der ersten Dezembertage so winterlich einsam dalag, hatte selten solche Aufregung gesehen wie heute. Es war um die Mittagsstunde, als die beiden Forstleute, deren Schüsse die unschuldige Ursache des Unglücks gewesen waren, den verwundeten Gesandten brachten. Sie hatten wohl gesehen, daß eine Ueberführung nach Fürstenstein unmöglich war, und wandten sich daher nach Rodeck, das kaum eine Viertelstunde von der Unglücksstätte entfernt lag. Hartmut Rojanow, der sich im Schlosse befand und den man sofort herbeirief, hatte mit rascher Umsicht die nöthigen Anstalten getroffen. Die Zimmer, die sonst Fürst Adelsberg bewohnte, wurden zur Verfügung gestellt, die erste, dringendste Hilfe geleistet und ein reitender Bote zu dem nächsten Arzte gejagt, der glücklicherweise leicht zu erreichen war.

Dann, als der ärztliche Ausspruch keine Hoffnung mehr ließ, war Stadinger nach Fürstenstein gesandt worden, um die Verwandten herbeizurufen, die auch bald darauf eintrafen, aber nur, um einen Sterbenden zu finden. Wallmoden erwachte nicht wieder aus der Besinnungslosigkeit, in der man ihn nach jenem schweren Sturz gefunden hatte. Betäubt und regungslos lag er da, ohne jemand von seiner Umgebung zu erkennen, und als der Tag sich neigte, war alles vorüber.

Gegen Abend kehrte der Oberforstmeister mit Willibald nach Fürstenstein zurück. Er hatte schon bei der Abfahrt von dort ein Telegramm abgeschickt, um die Gesandtschaft von dem schweren Unfall zu unterrichten, der ihren Chef betroffen hatte, jetzt mußte er die Todesnachricht folgen lassen.

Frau von Eschenhagen war in Rodeck geblieben bei der Witwe ihres Bruders. Man konnte erst morgen Anstalten treffen, um den Todten nach der Stadt zu überführen, und bis dahin wollten die beiden Frauen an seiner Seite bleiben. Adelheid, die sich bei der Gefahr selbst so muthig gezeigt und so unermüdlich ihre Pflicht am Sterbebette des Gatten gethan hatte, schien jetzt, wo diese Pflicht zu Ende war, auch die Kraft zu verlieren; sie war halb betäubt von dem jähen, furchtbaren Ereigniß. –

Am Fenster seines Wohnzimmers, das im oberen Stock lag, stand Hartmut und blickte hinaus in den öden, nächtlichen Wald, der so gespenstig weiß schimmerte in dem matten Sternenlichte. Der gestrige Tag hatte den ersten Schneefall gebracht, und nun starrte alles ringsum in dem eisigen Gewande. Der große Rasenplatz vor dem Schlosse war tief verschneit, die Bäume trugen schwer an ihren weißen Lasten, und die breiten Aeste der Tannen senkten sich tief zur Erde nieder. Nur dort oben, an dem dunklen Nachthimmel, leuchtete Stern an Stern in klarer ruhiger Pracht, und fern am nördlichen Horizont dämmerte ein leichter, rosiger Schein wie der erste Gruß der Morgenröthe. Und doch war es Nacht, kalte, eisige Winternacht, in die noch kein Strahl des neuen Tages fallen konnte.

Hartmuts Augen hingen unverwandt an jenem räthselhaften Schimmer, auch in seinem Inneren war es dunkel, und doch dämmerte etwas auf, fern und leise, wie erwachendes Morgenlicht. Er hatte Adelheid von Wallmoden nicht wiedergesehen seit jener verhängnißvollen Stunde auf der Waldhöhe, erst heute traf er sie wieder, an der Seite ihres Gatten, der blutend, bewußtlos – sterbend in das Schloß getragen wurde. Der Anblick verbot jede Erinnerung und forderte gebieterisch die Hilfe, die auch im vollsten Umfange geleistet wurde, aber Rojanow hatte das Sterbezimmer nicht betreten und sich nur durch den Arzt Bericht erstatten lassen.

Auch bei der Ankunft der Frau von Eschenhagen hatte er sich nicht gezeigt, sondern erst später mit dem Oberforstmeister und mit Willibald gesprochen. Jetzt war alles entschieden, Herbert von Wallmoden weilte nicht mehr unter den Lebenden und seine Gattin war Witwe – war frei!

Ein tiefer Athemzug hob Hartmuts Brust bei dem Gedanken, und doch lag nichts Freudiges darin. Wohl war seine Empfindung eine andere geworden, eine ganz andere seit jener Stunde, wo er das höchste Spiel gewagt und – verloren hatte gegen die Frau, die er liebte. Aber diese Stunde hatte ihm auch die tiefe Kluft gezeigt, die zwischen ihnen aufgähnte, auch jetzt noch, wo das Band von Adelheids Ehe zerrissen war. Ihr „graute“ ja vor dem Manne, der an nichts mehr glaubte, dem nichts mehr heilig war, und er war derselbe noch, der er damals gewesen.

Er hatte ihr eine wortlose Abbitte geleistet, als er in seiner „Arivana“ die Gestalt schuf, die jetzt ihren Namen trug, aber jene Ada entschwebte wieder zu der Höhe, aus der sie gekommen war mit ihrem Warnungsruf, und die Menschen blieben auf der Erde mit ihrem glühenden Hassen und Lieben. Hartmut Rojanow konnte nun einmal das heiße, wilde Blut, das in seinen Adern rollte, nicht in einen ruhigen Kreislauf zwingen, er konnte sich nicht einem Leben voll strenger Pflichten beugen – und er wollte es auch nicht. Wozu war ihm denn die geniale Begabung zu theil geworden, die ihm überall siegreich Bahn brach, wenn sie ihn nicht hinaushob über die Pflichten und Schranken der Alltäglichkeit? Und er wußte es doch, daß jene großen blauen Augen ihn unerbittlich diesen so gehaßten Weg wiesen – das ging nimmermehr! –

Der rothe Schimmer dort über dem Walde war dunkler geworden und höher emporgestiegen. Es sah aus, wie der Widerschein eines mächtigen Brandes, aber dies ruhige, stetige Licht entstammte keiner Feuersgluth. Unverrückbar stand es im Norden, geheimnißvoll, hoch und fern – ein Nordlicht in aufdämmernder Herrlichkeit.

Das Rollen eines Wagens, der in aller Eile näher kam, riß Hartmut aus seiner Träumerei. Es war neun Uhr vorüber, wer konnte zu so später Stunde noch anlangen? Vielleicht der zweite Arzt, zu dem man am Nachmittag gesandt hatte, der aber nicht zu Haus gewesen war, vielleicht auch jemand von Ostwalden, wo man die Nachricht schon erfahren haben konnte. Jetzt bog der Wagen um den Rasenplatz, die Räder knirschten auf dem schneebedeckten Boden, und gleich darauf fuhr er am Haupteingange vor, der an der Rückseite des Schlosses lag. Rojanow, der heute nun einmal den Herrn des Hauses vertrat, verließ seinen Platz und ging hinaus, um zu hören, was es gebe.

Er hatte bereits die große Treppe erreicht, die hinunter in die Eingangshalle führte, und setzte den Fuß auf die oberste Stufe, als er plötzlich zusammenbebte und wie gebannt stehen blieb. Da unten klang eine Stimme, die er seit zehn langen Jahren nicht gehört hatte, – sie sprach gedämpft, halblaut, und doch erkannte er sie wieder im ersten Augenblick.

„Ich komme von der Gesandtschaft. Wir erhielten am Nachmittage das Telegramm und ich habe den ersten Zug benutzt, um

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verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1890, Seite 350. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_350.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)