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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)


Und Hudetz starrte auf diesen Namen, als schlösse derselbe alles in sich ein, was auf dieser Welt noch Werth und Bedeutung für ihn hatte. Und eine fast wunderbare Veränderung ging in seinem Aeußeren vor. Seine zusammengesunkene Gestalt hatte sich gehoben und gestrafft, seine fahlen Wangen brannten in heißer Gluth. In all der grausamen Angst und Noth, die ihn seit dem Tode der Alten unablässig verfolgt hatte, war ja die Gestalt seiner schönen, vornehmen Zimmernachbarin nicht für einen einzigen Augenblick aus seinem Geiste verdrängt worden. Nur immer verklärter, immer überirdischer und herrlicher hatte sie sich seiner Einbildung dargestellt – immer schwärmerischer war seine Sehnsucht geworden, noch einmal den weichen Klang ihrer Stimme zu hören, noch einmal ihre strahlenden Augen und den goldigen Schimmer ihres Haares zu sehen.

Fast unwillkürlich preßte er van Eycks Gemälde, das ihn jetzt auf seinen irren Wanderungen durch die Stadt nicht für die Dauer einer Sekunde mehr verließ, inbrünstiger an seine Brust. Es war ihm ja längst zur unumstößlichen Gewißheit geworden, daß zwischen dem Madonnenideal des frommen Niederländers und zwischen Marie von Brenckendorf eine wundersame Aehnlichkeit bestehe. Nicht nur in seinen wilden nächtlichen Träumen, sondern auch in jenem neuerdings immer häufiger wiederkehrenden Zustande, wo sich ihm bei hellem Tage und bei sonst ganz klarer Besinnung merkwürdige Phantasiegebilde in die Wahrnehmung der ihn umgebenden Wirklichkeit drängten, schmolzen ihm oft die Madonna im Rosenhag und das schöne, lebendige Mädchen völlig in ein einziges Wesen zusammen, und in solchen Augenblicken war es schon mehr als einmal geschehen, daß er deutlich zu sehen meinte, wie über das Antlitz der gemalten Gottesmutter ein wohlbekanntes, gütiges Lächeln glitt, und wie ihre Lippen sich öffneten, um wohlbekannte, süße Laute zu flüstern. –

Als wäre durch ein Wunder all seine sonstige Schüchternheit und Scheu vor den Menschen von ihm genommen worden, ging Hudetz geradeswegs in das Bureau des Schillertheaters, um die Adresse des Fräuleins von Brenckendorf zu erfragen. Ohne auch nur für die Dauer einer Minute in seinem Entschlusse wankend zu werden, suchte er dann die ihm bezeichnete Wohnung auf. Es war ein stilles, altes Haus am Büschingsplatz, das er betrat. Niemand begegnete ihm, während er in den zweiten Stock emporstieg, und von den beiden Thüren, welche dort auf den Treppenflur mündeten, war die eine halb geöffnet. Man mußte in diesem Hause wenig Furcht haben vor Dieben und anderen unberufenen Eindringlingen, wenn man so sorglos zu Werke ging.

An der geschlossenen Thür war ein Porzellauschild mit der Aufschrift: Paul Tipke, Schneidermeister; auf der andern Seite aber fand sich weder ein Schild noch eine Karte.

„Hier ist es!“ sagte Hudetz laut, ohne doch für diese Gewißheit einen greifbaren Anhalt zu haben. Er wollte nach dem Glockenzuge greifen, aber er ließ die ausgestreckte Hand wieder sinken. Jetzt, wo er seinem Ziel so nahe war, gebrach es ihm plötzlich an Muth, auch noch den letzten kleinen Schritt zu wagen.

Minutenlang stand er unentschlossen, da ging über ihm im dritten oder vierten Stock eine Thür und zwei Männer kamen in lautem Gespräch die Treppe herab. Die alte Furcht, durch sein Benehmen Mißtrauen und Argwohn zu erregen, kam wieder über Hudetz. Wollte er den Nahenden unverdächtig erscheinen, so mußte er jetzt entweder herzhaft läuten oder sich unverrichteter Sache entfernen. Zu dem einen wie zu dem anderen aber fehlte ihm die Kraft des Entschlusses, und so wählte er denn ohne viel Ueberlegung den einzigen Ausweg, der ihm außer diesen beiden Möglichkeiten blieb, indem er – ohne zu klingeln, – durch die halb geöffnete Thür auf den dunkeln Vorplatz der Wohnung schlüpfte.

Die beiden Männer gingen vorüber, ohne seiner ansichtig zu werden. Hudetz aber verließ seinen Schlupfwinkel nicht wieder; denn er hatte den Klang einer Stimme vernommen, deren süßer Wohllaut ihn mit unbeschreiblichem Wonnegefühl durchschauerte und der ihn urplötzlich die ganze übrige Welt völlig vergessen ließ.

Hinter einer der drei Zimmerthüren, die auf den Gang ausmündeten, mußte sich Marie von Brenckendorf befinden, und wie er den Oberkörper ein wenig gegen die erste derselben verneigte, verstand Hudetz sogar mit voller Deutlichkeit, was sie sprach. Er dachte nicht daran, daß es unanständig sei, die Unterhaltung anderer zu belauschen, und er horchte ja auch gar nicht, weil es ihn danach verlangte, fremde Geheimnisse zu erforschen. Er wollte sie nur sprechen hören, wollte nur den melodischen Wohlklang ihrer Stimme in sich hineinsaugen mit unendlichem Behagen. Was sie sprach, galt ihm gleich. Mochte sie ihrer Aufwärterin eine Weisung ertheilen oder mochte sie die Rolle hersagen, welche sie demnächst zu spielen gedachte, – das eine würde ihn in nicht geringeres Entzücken versetzt haben als das andere.

Und er mochte wirklich meinen, daß es sich nur um eine Stelle aus einem Theaterstück handle, da er sie sagen hörte:

„Einen freundlicheren Empfang? – Nun, es mag sein, daß ich Dich höflicher oder demüthiger hätte begrüßen können in Erinnerung an die Wohlthaten, welche ich im Hause Deiner Eltern genossen habe. Aber es ist besser, daß Du mich gleich ihnen für eine Undankbare und Unwürdige hältst, als daß Du Deine kostbare Zeit in nutzlosen Bekehrungsversuchen vergeudest. Ich habe nicht erwartet, daß meine Verwandtschaft sich weiter um mich kümmern werde, und – ehrlich gesprochen, Lothar – ich habe es noch viel weniger gewünscht! Ich fordere keine Rücksichten mehr, so wenig als ich gesonnen bin, welche zu üben.“

Wie stolz sie zu sprechen wußte, wie königlich selbstbewußt! Nie hatte Hudetz sie in einem ähnlichen Tone reden hören, selbst damals nicht, als sie den Trompeter von Säckingen bemalte und ihn um seine Meinung über ihre kleinen selbständigen Kunstleistungen befragte.

(Fortsetzung folgt.)




Hauschronik.


Wie das Männchen hoch auf den Baum sich schwingt
Und Jubel über die Gärten singt!

Sein Weibchen schlüpft im Gebüsche sacht,
Wo man am besten Heimath macht,

Und freut sich an jedem Halm zum Nest,
Weil’s gar so heimlich sich bauen läßt.

Schaut tief dann hinein und mit tiefem Sinn,
Und morgen liegt’s erste Eilein drin.

O selige Freude am ersten Kind!
Bald fünf! und wie schön sie gesprenkelt sind!

Dich deck’ ich, du herziger Segen du,
Zwölf Tage lang mit mir selber zu.

Zwölf Tage – und unter ihr regt sich’s schon,
O Muttername, du süßer Ton!

Du winziges Elternkind, du kleins!
Noch eines, dann zwei noch und wieder eins.

Sieh, Vater, sie recken die Schnäblein dar,
Die Mutter lehrt sie das Bitten gar.

O emsiges Bringen, wie reichst du zart
Die Bissen, am eigenen Mund gespart!

Schon Feder um Feder im Flaum sich regt,
Fast ganz, wie’s Vater und Mutter trägt.

Zwölf Tage kaum aus dem Ei geschlüpft,
Da sind sie auch schon vom Nest gehüpft.

Nun flattert’s und schwirrt in die Freiheit aus,
Und das ist die Chronik vom ganzen Haus.

 J. G. Fischer.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 479. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_479.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)