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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Von einem ostjakischen Stammesgepräge ist schwer zu reden, dasselbe zu beschreiben, noch schwieriger. Die Leute sind hinsichtlich ihrer Gesichtsbildung, der Färbung ihrer Haut, ihres Haares und ihrer Augen ungemein verschieden; ihre Rassenangehörigkeit, also ihr Mongolenthum, ist keineswegs immer so leicht wahrzunehmen, und wenn man wirklich einmal glaubt, bestimmte, durchschnittlich gültige Merkmale festgestellt zu haben, wird man durch eine Anzahl anderer Angehöriger des Stammes belehrt, daß denselben keinesfalls eine unbedingte Gültigkeit zugesprochen werden darf.

Die Ostjaken sind mittelgroß, durchschnittlich schlank gebaut, ihre Hände, Füße und Glieder überhaupt verhältnißmäßig. Ihre Gesichtsbildung steht gewissermaßen zwischen der anderer Mongolen und der der nordamerikanischen Indianer in der Mitte; die braunen Augen sind klein, nicht auffallend, aber stets merklich schief geschlitzt, die Backenknochen nicht wesentlich vorgedrängt, die unteren Theile des Gesichtes gegen das stets schmale und spitzige Kinn zu aber so zusammengedrückt, daß das ganze Gesicht winkelig erscheint und, da auch die Lippen scharf geschnitten sind, bei vielen, zumal bei Kindern oder Frauen, zu einem wahren Katzengesichte wird, obgleich die Nase im ganzen wenig abgeplattet ist. Das reiche, schlichte, aber nicht straffe Haar ist gewöhnlich schwarz oder tiefbraun, seltener lichtbraun und noch seltener blond gefärbt, der Bart schwach, jedoch nur infolge der Gewohnheit junger Stutzer, denselben sich auszurupfen, die Augenbrauen sind stark, oft buschig. Die Hautfärbung endlich steht an Weiße der eines viel an frischer Luft, Wind und Wetter sich bewegenden Europäers kaum nach, und der gelbliche Schein, welchen sie in der Regel zeigt, kann sich fast gänzlich verwischen.

Ueber die Sprache der Ostjaken vermag ich kein Urtheil zu fällen, kann daher nur sagen, daß sie in zwei, auch dem Ohre des Fremden deutlich erkennbare Mundarten zerfällt, von denen die am mittleren Ob herrschende sehr wohllautend, wenn auch etwas gedehnt und singend klingt, wogegen die am unteren Ob gebräuchliche, wohl infolge der hier allgemein üblichen Gewohnheit aller Ostjaken, sich mit Vorliebe des weicheren Samojedisch zu bedienen, in rascherem Flusse, obwohl noch immer mit deutlicher Abgrenzung der Silben, gesprochen wird.

Während die christlichen Ostjaken, wie bereits bemerkt, die Tracht der Russen nachahmen und die Frauen nur dadurch von denen der russischen Fischer abweichen, daß sie ihre Kleider an vielen Stellen mit bunten Glasperlen verzieren, verwenden die heidnischen Stammesangehörigen unseres Völkchens ausschließlich die Decke und die Haut des Renthieres zu ihrer Kleidung und gebrauchen Felle anderer Thiere nur ausnahmsweise zum besonderen Schmucke der Renthier- oder, wie die Russen sagen, der Hirschpelze. Die Kleidung besteht aus einem bis über die Kniee herabreichenden, eng anliegenden Pelze mit anhängender oder doch dazu gehöriger Kapuze und angenähten Fausthandschuhen, Lederhosen, welche bis unter das Knie herabreichen, und Lederstrümpfen, welche oberhalb des Kniees befestigt werden. Der Pelz ist bei Frauen mit Säumen, welche aus verschiedenfarbigen, kleinen, viereckigen, kurzhaarigen Pelzstückchen mühsam zusammengesetzt werden, unten auch regelmäßig mit einem breiten Besätze aus Hundepelz, bei Männern mindestens mit letzterem verziert, auch stets mit der Kapuze versehen; die Lederstrümpfe bestehen aus sehr vielen verschiedenfarbigen, geschmackvoll zusammengesetzten Streifen aus dem Felle der Läufe des Renthieres und einem plumpen Schuh. Ein breiter, meist mit metallenen Knöpfen besetzter Ledergurt, an welchem das Messer hängt, schnürt den Pelz des Mannes zusammen; ein buntes, mit langen Fransen besetztes Kopftuch, welches im Sommer anstatt der Kapuze getragen wird, fällt über den Pelz der Frau herab.

Um sich zu schmücken, steckt die Ostjakin soviele einfache Messing-, im allergünstigsten Falle Silberringe an alle Handfinger, als die inneren Glieder derselben zu tragen vermögen, hängt sich außerdem eine mehr oder minder reiche Kette aus Glasperlen um den Hals und sehr schwere, aus Glasperlen, Drahtwindungen und Metallknöpfen zusammengesetzte quastenartige Ohrgehänge an die Ohren und flicht endlich ihre Haare in zwei tief herabfallende, aus Wollenschnüren strickartig gedrehte Zopfhülsen ein. Letzteres thut auch der ostjakische Stutzer, wogegen der vernünftige Mann für gewöhnlich sein Haar lang, aber lose trägt.

Einfacher noch als die Kleidung, aber ebenso zweckmäßig wie sie ist die Wohnung des Ostjaken, der Tschum, die kegelförmige, mit Birkenrinde umkleidete, bewegliche Hütte des Fischers wie der Wanderhirten. Zwanzig bis dreißig dünne, geglättete, oben und unten zugespitzte, vier bis sechs Meter lange Stangen, von denen zwei gegen das obere Ende hin mittels eines kurzen Strickes vereinigt werden und allen übrigen als Stützpunkt dienen, bilden, im Kreise ausgestellt, das Gerüst, fünf bis acht nach dem Mantel des Kegels geschnittene, aus kleinen Stücken vorher gekochter und dadurch geschmeidig gemachter Birkenrinde zusammengesetzte Tafeln die äußere Umkleidung, eine vom Winde abgekehrte, mit einer anderen Rindentafel verschließbare Oeffnung die Thür der Hütte, deren Kegelspitze stets unbedeckt bleibt, um dem Rauche freien Abzug zu gestatten. Von der Thür an in gerader Richtung zur entgegengesetzten Seite des Tschums verläuft ein Gang, in dessen Mitte das Feuer angezündet wird; über ihm befindet sich, aus zwei wagerecht angebundenen Stangen hergestellt, ein Trockengerüst, an welchem auch der Kochkessel aufgehängt wird. Rechts und links von dem Gange decken Bretter oder wenigstens Matten den Boden und dienen als Laufstege sowie als Abschluß der Lagerstätten, deren Kopfende gegen die Wand sich richtet. Aus Riedgrasbündeln gefertigte Matten, langhaarige, weiche Renthierfelle und mit Renthierhaaren oder getrocknetem Wassermoose gestopfte Kissen stellen die Lagerstätten, Pelze die Decken her; ein Mückenzelt, unter welches im Sommer die ganze Familie kriecht, schützt die Schlafenden wirksamer als das am Eingange des Tschums beständig brennende, mit Weidenreisern unterhaltene Schmauchfeuer gegen die geflügelten Quälgeister. Ein Koch-, ein Thee- und ein Trinkkessel, Mulden, Ledersäcke zur Aufbewahrung des Mehles und hartgebackenen Schwarzbrotes, kleine verschließbare Truhen zur Unterbringung der werthvollsten Habseligkeiten, insbesondere auch des Theegeschirrs, ein Beil, ein Bohrer, Lederschaber, ein muldenartiges Nähkästchen, Bogen, Armbrust oder Gewehr, Schneeschuhe, sowie verschiedene Fangwerkzeuge vollenden den Hausrath; die Stelle des in den Hütten der christlichen Ostjaken selten fehlenden Heiligenbildes vertritt ein Hausgötze.

Gegen den Winter, seine Kälte und seine Stürme sucht man den Tschum durch eine außen übergebreitete, aus dem Leder abgetragener Pelze zusammengenähte Decke oder noch besser dadurch zu schützen, daß man einen zweiten Mantel aus Birkenrindentafeln über den ersten breitet.

Ist der Tschumbesitzer Fischer, so sieht man außen vor dem Tschum Trockengerüste zum Aufhängen der Netze und solche zum Dörren der Fische, sehr sauber gearbeitete, ungemein leichte und kunstvolle Reusen, mehrere unübertreffliche kleine Boote und sonstige Fischereigeräthe; ist er auch Jäger, dann allerlei Fangwerkzeuge, Stellbogen und als Selbstschüsse wirkende Armbrüste; ist der Tschumwirth Renthierhirt, dann mehrere sorgsam gearbeitete Schlitten nebst dazu gehörigem Geschirr und einem auch für ihn unerläßlichen Boote.

Jeder Ostjake ist des Fischfangs kundig, fast jeder auch Jäger oder Fallensteller, nicht jeder aber Wanderhirt. Renthiere besitzen, bedeutet unter unserem Völkchen ebensoviel als wohlhabend sein, einzig und allein von der Fischerei leben müssen, das Gegentheil. Pferde und Rinder sieht man in sehr geringer Anzahl zwar auch in einzelnen ostjakischen Niederlassungen, aber nur in denen des mittleren Stromgebietes, Schafe und vielleicht sogar eine Katze werden hier ebenfalls dann und wann gehalten; die eigentlichen Hausthiere der Ostjaken aber sind Renthier und Hund. Ohne sie, zumal ohne Renthier, vermeint der wohlhabende Mann nicht leben zu können; und sie allein ermöglichen ihm thatsächlich das, was er Freude des Daseins nennt.

Nach der Anzahl der Renthiere schätzt der Ostjake den Besitz eines Menschen, in den Renthieren sieht er seinen Reichthum, sein Glück. Daher verliert er nicht allein dieses wie jenen, wenn die würgende Seuche seine Herden vernichtet, sondern noch weit mehr: Ansehen und Rang, Selbstbewußtsein und Zuversicht, ja seinen Glauben, seine Sitten und Gewohnheiten, sich selbst.

„So lange die Seuche unsere Herden noch nicht heimsuchte,“ sagte uns der Gemeindevorsteher Mamru, der verständigste Ostjake, welchen wir kennengelernt haben, „lebten wir freudig und waren wir reich, seitdem wir unsere Renthiere verloren, werden wir allgemach zu armen Fischern; wir können ohne sie nicht bestehen, ohne sie nicht leben!“

Arme Ostjaken! – mit diesen Worten ist euer Geschick ausgesprochen. Schon gegenwärtig sind die einst nach Hunderttausenden

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 595. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_595.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)