Seite:Die Gartenlaube (1890) 596.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

zählenden Renthiere auf fünfzigtausend zusammengeschmolzen, und nach wie vor, alljährlich fast, wüthet der Würgengel unter den geweihtragenden Herden.

Das nordasiatische Renthier ist ein von dem lappländischen wesentlich verschiedenes Geschöpf; es ist nicht allein größer und stattlicher, sondern auch ein Hausthier im besten Sinne des Wortes; dort, in Lappland, ein ewig widerstrebender, mit ersichtlichem Unwillen unter das Joch des kleinen Mannes sich beugender, unablässig auf Wiedererlangung der Freiheit bedachter Hirsch, hier in Sibirien ein folgsames, williges, an dem Menschen hängendes, ihm vertrauendes Thier. Freilich weiß der Ostjake auch vortrefflich mit ihm umzugehen. Er behandelt es zwar nicht mit der Zärtlichkeit, mit welcher er den Hund hätschelt, aber im ganzen doch auch nicht unfreundlich und nur sehr ausnahmsweise derb oder roh. Abweichend von dem Lappen, verzichtet er darauf, es zu melken, spannt es aber dafür viel regelmäßiger ein als dieser, denn es muß ihn und seine Familie, den Tschum sammt Zubehör und alle übrigen auf der Wanderung zu bewegenden Lasten im Sommer wie im Winter von einer Stelle zur anderen befördern, wogegen es der Lappe nur im Winter zum Ziehen benutzt. Das Fleisch des geschlachteten Thieres dient zur Nahrung, die Knochen und Geweihe liefern allerlei Geräthschaften, die Sehnen Zwirn zum Nähen der Kleider, Haut und Fell diese selbst und was sonst noch aus Leder gefertigt wird; selbst die Hufe finden Verwendung. Mit dem Renthier fährt der Ostjake, auf seinem leichten Schlitten sitzend, im Sommer wie im Winter von Ort zu Ort, mit ihm zur Brautschau, zu Festlichkeiten, zur Jagd, zum Begräbniß seiner Freunde; mit ihm fährt er seine Todten zur letzten Ruhestätte; das Renthier schlachtet und verspeist er, um seine Gäste und seine Todten zu ehren; in seine Felle hüllt er die letzteren wie sich selbst. Gewiß, er kann ohne das Renthier nicht bestehen, nicht leben!

Kaum minder wichtig als seine geweihtragende Herde ist ihm sein zweites Hausthier, der Hund. Ihn besitzt, ihn hegt und pflegt nicht allein der Wanderhirt, sondern jeder Ostjake überhaupt, der Fischer ebenso gut wie der Jäger, der seßhafte wie der umherschweifende Mann. Der ostjakische Hund gehört zwei verschiedenen, hauptsächlich jedoch nur hinsichtlich der Größe von einander abweichenden Rassen an. Ob unsere Liebhaber ihn schön finden würden, vermag ich nicht zu sagen; ich meinestheils muß ihn schon aus dem Grunde für schön erklären, weil er, mit alleiniger Ausnahme der Färbung, noch alle Merkmale des wilden Hundes besitzt. Am meisten kommt er mit unserem Spitz überein, er ist aber gewöhnlich größer als dieser, nicht selten so groß, daß er kaum oder nur wenig hinter dem Wolfe zurücksteht; auch sein schlankerer Bau zeichnet ihn vor dem Spitze aus. Der Kopf ist gestreckt, die Schnauze mittellang, der Hals kurz, der Leib lang, die Gliederung schlank, der Schwanz mittellang, das erzfarbene Auge schief geschlitzt, das kurze, spitzige Ohr aufrecht gestellt, das Fell außerordentlich dicht und lang, die Färbung verschieden, vorherrschend reinweiß oder weiß mit tiefschwarzer, gewöhnlich höchst regelmäßiger Abzeichnung an beiden Seiten des Kopfes einschließlich der Ohren, auf dem Rücken und an den Seiten, sonst auch wolfs-, mäuse- oder fahlgrau, gewässert und gewellt, nicht aber gestreift. Die schwachbuschige Fahne wird stets hängend oder gestreckt, niemals gerollt getragen und die Aehnlichkeit mit einem Wildhunde dadurch wesentlich vermehrt.

Der stetige und innige Umgang mit dem Menschen hat den Ostjakenhund zu einem überaus gutmüthigen Thiere gewandelt. Er ist wachsam, aber nicht bissig, muthig, aber nicht streitsüchtig, treu und eifrig, aber nicht fremdenfeindlich und hitzig; mißtrauisch, wenn auch nicht gerade unfreundlich dem Fremdling entgegeneilend, nähert er sich ihm vertrauensvoll, sobald er ihn mit seinem Herrn reden hört oder in den Tschum eintreten sieht.

In keiner Weise verwöhnt, giebt er sich, so gern er auch den Platz im Tschum mit seinem Herrn oder seiner Herrin theilt, doch, ohne Mißbehagen zu bekunden, Wind und Wetter Preis, wirft sich ohne Bedenken in das kalte Wasser des Stromes und schwimmt schnurgerade über breite Arme desselben oder trabt beim Zuge durch die Tundra unter dem Schlitten dahin, an welchen er angefesselt wurde, und ob der Weg auch durch Sumpf oder Morast, durch Zwergbirkengestrüpp oder Wasser führe, klug und verschmitzt, findig und behend, weiß er sein Leben behaglich zu gestalten und sich in allen Lagen desselben zu helfen. Im Tschum liegt er entsagungsvoll neben ihm sonst erwünschter Speise; außerhalb der Hütte seines Herrn wird er zum naschhaften und dreisten Diebe; im Zwergbirkengestrüpp der Tundra trabt er gleichmüthig unter dem Schlitten einher, im glatten Moraste oder auf sonstigem guten Wege aber stellt er sich, alle Viere von einander, auf die Schlittenkufe und läßt sich fahren; auf der Jagd begleitet er seinen Herrn als treuer und nützlicher Gehilfe; dem Fremdling aber schnappt er die Beute vor den Augen weg und verzehrt dieselbe mit einer so harmlosen Behaglichkeit, daß man dem Schelme doch nicht böse sein kann; beim Hirtendienste erweist er sich als aller Eigenheiten und Unarten des Renthieres kundig; aber niemals ist er so verlässig wie unser Schäferhund, gestattet sich im Gegentheile eigenes Urtheil und leistet seine Dienste nur dann ohne Weigerung, wenn ihm dies unbedingt nöthig zu sein scheint.

Der Hund des Ostjaken wird als Spielkamerad, als Wächter des Tschums, als Hüter der Herden und als Zugthier verwendet, jedoch auch nach seinem Tode noch benutzt. Vor den Schlitten spannt man ihn nur im Winter, legt ihm dann aber ein so ungeschicktes Geschirr auf, daß er schon nach wenig Jahren lendenlahm umherhinkt. Nach dem Tode muß er sein treffliches Fell hergeben, ja viele Ostjaken halten offenbar nur deshalb eine so unverhältnißmäßig große Anzahl von Hunden, um jederzeit im Winter über deren Felle verfügen zu können.

Zu gleichem oder ähnlichem Zwecke dienen wohl auch verschiedene, dem Neste entnommene Säugethiere und Vögel, insbesondere Füchse, Bären, Eulen, Krähen, Kraniche, Schwäne etc., welche man im oder vor dem Tschum des Fischers wie des Wanderhirten angekettet sieht. So lange solche Thiere jung sind, behandelt man sie freundlich und pflegt sie sorgfältig, sobald sie aber erwachsen und gut von Fell oder Federn sind, weiht man sie dem Tode, verspeist, was gegessen werden kann, und verwendet außerdem Fell und Federn, verhandelt namentlich das erstere zu oft erstaunlich hohen Preisen.

(Schluß folgt.)




Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.

Ein Mann

Roman von Hermann Heiberg.


      (4. Fortsetzung.)

Von seinem Versteck in Mückern aus hatte Larsen durch seine Spione ein wachsames Auge über Trollheide und erfuhr manches von dem, was dort vorging, so auch, daß der Arzt Ingeborg, sobald ihre Kräfte es gestatteten, einen Wechsel des Aufenthalts verordnet habe. Darin erblickte seine Eifersucht einen neuen Betrug, an dem nun auch noch der Arzt theilnahm, und das bestätigte ihm bis zur Gewißheit seinen schon vorher gefaßten Argwohn. Nach Kopenhagen wollte sie, zu Tromholt, aber ehe das geschah, sollten sie und Tromholt und der alte Elbe sterben durch seine Hand. In solcher Stimmung hatte er einen Brief an Ingeborg geschrieben, und in solcher Stimmung war dann später der Zusammenstoß mit dem alten Elbe in Mückern erfolgt, der Larsen von dort vertrieb. Den Brief aber hatte einer von des Kapitäns Helfern Ingeborg, da sie ihren ersten Ausgang aus der Krankenstube machte, geschickt in die Hände gespielt, und weil darin, wenn sie es wagte, Trollheide anders als in Larsens Begleitung zu verlassen oder auch nur ein Wort von dem Brief selbst den andern zu verrathen, nicht nur ihr, sondern auch Tromholt und ihrem alten Vater mit dem Tod gedroht ward, deshalb schwieg sie.

„Flieh mit mir,“ so schloß dieser Brief, „mit mir, der um Dich alles verloren, der Dir aber verzeiht und Dich heißer liebt denn je. Aber wie zum Vergeben bin ich auch bereit zur Rache. In Deiner Hand liegt mein Geschick und das Deine, das Deines Vaters und jenes Elenden, der Dich mir rauben will. Entscheide Dich, aber glaube nicht, daß Du mich noch einmal täuschen kannst!“

Daß das ihr aufgezwungene Schweigen Ingeborgs Seelenqual steigerte bis zum halben Wahnsinn, war nur zu natürlich. Uebrigens wirkte die Anwesenheit der Gäste und besonders Dinas

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 596. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_596.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)