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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Mit langsamen, schleppenden Schritten, das Haupt voll schwerer, trüber Gedanken, begab sich Tromholt zunächst in seinen Gasthof und von da zur bestimmten Stunde in die Klinik, wo ihm der Arzt nach eingehender Untersuchung erklärte, daß die Operation schon in den nächsten Tagen vorgenommen werden müsse, sollte sie noch irgend welche Aussicht aus Erfolg haben.

Indessen verbrachte Susanne in der selbstgewählten Einsamkeit ihres Zimmers qualvolle Stunden. Ihrem Auftritt mit Dina war eine große Abspannung gefolgt. Auf dem Sofa hingestreckt, drückte sie ihr Gesicht in das Kissen und ließ ihren Thränen freien Lauf. Und – seltsam – es war, als ob diese Thränen allen Groll in ihrer Brust lösten, langsam, ganz allmählich kehrte ihr die ruhige Besinnung und damit ein brennendes Gefühl der Scham über ihr Betragen zurück, das sich bald zu marternden Selbstvorwürfen steigerte. Solcher Wechsel war in ihrer leidenschaftlichen Natur nur zu begründet. So lange sie die Regungen des gekränkten Stolzes in ihrer Brust verschlossen hatte, schärfte sich ihr Stachel mehr und mehr, bis es schließlich zu dem erwähnten Ausbruch kam. Nun der vorüber war und sie ihrem Zorn Luft gemacht, sich gerächt hatte, nun brach auch wieder ihre bessere, edlere Natur durch, der Schleier, den die Erregung über ihr Auge geworfen hatte, sank, und mit peinlicher Deutlichkeit erkannte sie nun erst die ganze Tragweite dessen, was sie gethan.

Hatte sie ein Recht, einen Grund, Tromholt, den Mann, der sie einst geliebt hatte, dessen ganzes Leben eine Reihe von schweren Opfern im Dienst ihrer Familie gewesen war, dem sie selbst so viel verdankte, in dieser verletzenden Weise zu behandeln? – Nein, nein, sagte die wiedergekehrte bessere Einsicht. Es war ein großes, bitteres Unrecht, das sie dem Mann, dem sie so viel Vergangenes abzubitten hatte, damit anthat, und es ließ sich noch gutmachen. Er war drunten bei ihrer Schwester; wenn sie jetzt hinabeilte, jetzt gleich! – Aber wieder erhob der beleidigte Stolz sein Haupt. War er denn nicht gekommen, ihr seine Hand anzutragen aus Großmuth, weil man ihm gesagt, sie liebe ihn – sie, die ihn einst verschmäht, bettle jetzt um seine Gunst? Würde ihm ihre Flucht, ihr plötzliches Wiederkommen nicht als eine Bestätigung dieser falschen Zuflüsterungen erscheinen und ihn nur noch mehr in seinem großherzigen Entschluß bestärken? Denn die Großmuth allein, die beschämende Großmuth war es, die ihn hergeführt hatte, nicht die Liebe, die war sicher lang erloschen! Hatte er ihr nicht selbst deutlich zu verstehen gegeben, daß treue aufopfernde Freundschaft fernerhin das einzige Gefühl sei, das ihn mit ihr verbinde, damals auf Schloß Snarre, als sie in des Grafen Zimmer die erste zeugenlose Unterredung nach ihrer Trennung von Utzlar mit ihm gehabt, als sie, ihrer Empfindungen kaum mächtig, eine Bittende vor ihm stand? Ja, damals hatte er sie so schonend, als es ein Mann von seinem Charakter vermochte, aber doch mit aller Bestimmtheit zurückgewiesen. Seitdem war von seiner Seite nichts geschehen, was auf eine Sinnesänderung hindeutete. Ein Mann wie Tromholt blieb seinen Entschlüssen treu. Ohne Abschied war er von ihr gereist – und in der langen Zeit bis heute kein Wort, kein Lebenszeichen von ihm mit Ausnahme des wenigen, was sie durch Ingeborgs Briefe an Dina erfahren!

Nein, er liebte sie nicht mehr, und wenn es tausendmal wahr sein mochte, was Dina der Freundin geschrieben und er nun durch diese wiedererfahren hatte, sie wollte es leugnen vor ihm und aller Welt bis zum Tod, sie wollte ihm beweisen, daß ihre Charakterstärke der seinigen ebenbürtig sei, und wenn sie darüber zu Grunde ging.

So bekämpfte der Stolz die Rathschläge des Herzens. Und wenn es doch die Liebe war, die ihn zu ihr trieb, wenn es nur ähnliche Zweifel wie jetzt die ihrigen waren, die ihn so lange fern gehalten hatten? Was dann? War es nicht das Glück ihres Lebens, das sie mit eigener Hand für immer zerstörte? –

In solchem Zwiespalt der Gefühle verging Stunde um Stunde. Mutter und Schwester pochten zu verschiedenen Malen an die verschlossene Thür, vergebens, Susanne nahm nicht Speise noch Trank, ihr graute vor jedem tröstenden, teilnehmenden Zuspruch der Ihrigen; eine Nacht verging, ohne daß der Schlaf ihre Pein milderte, und sie wünschte den Tod herbei, daß er sie erlöse von der selbstgeschaffenen Qual dieses Zustands.

Da. am frühen Morgen, klopfe es wieder. Es war Dina. „Susanne,“ flehte sie, „komm, verzeih mir, wenn ich Dir wehgethan habe. Mama ist sehr besorgt um Dich, und ich – und da ist ein Brief für Dich von – von Herrn Tromholt, glaub’ ich. O lies ihn, er zürnt Dir nicht. Wenn Du wüßtest, was ihm bevorsteht, Susanne!"

Und jetzt sprang die verschlossene Thür auf. Was stand ihm denn bevor? – Susanne riß fast den Brief ihrer Schwester aus der Hand, sie eilte ans Fenster, lüftete die dasselbe verhüllenden Vorhänge, daß das Morgenlicht hell einströmte, und las:

„Kiel, Hotel Germania, den –
Verehrte Frau Gräfin!

Ein beklagenswerthes Mißverständniß hat mich gestern des Glücks beraubt, Sie zu sehen. Ich habe dasselbe Ihrem Fräulein Schwester schon bis zu einem gewissen Grad aufgeklärt, aber doch habe ich ihr nicht alles gesagt, und es drängt mich in diesem Augenblick, jede, auch die letzte Spur eines Zweifels zu beseitigen, der Ihr Herz noch mit unverdienter Bitterkeit gegen mich erfüllen könnte. Ja, Frau Gräfin, ich bin zu Ihnen gekommen in dem Glauben, daß Ihr Herz mir in anderem Sinn zugethan sei. Jener Glaube, den eine treue, nun heimgegangene Seele in mir erweckte, hat mich wohl berauscht und mit einem Glück erfüllt, wie ich es nie empfunden, noch je mehr zu empfinden gehofft hatte; allein er hat mein Gewissen doch nicht so betäubt, daß ich bei ernster Ueberlegung und Selbstprüfung nicht, wenn auch mit großem Schmerz, auf den wirklichen Besitz dieses Glücks verzichten müßte, selbst wenn es sich mir darböte. Ich habe Sie geliebt, Frau Gräfin, seit ich Sie zuerst gesehen habe, und niemals ist dieses Gefühl in meiner Brust erkaltet, nie, was auch geschehen möge, wird es je in mir erlöschen. Und doch hätte ich, selbst wenn Sie mich wiedergeliebt hätten, auf Ihre Hand verzichten müssen, – weil ich Ihr Leben nicht an das eines Blinden ketten durfte.

Noch bin ich das zwar nicht ganz, aber schon die nächsten Stunden werden darüber entscheiden, ob ich je wieder das Licht der Sonne erblicken werde. Ich gehe dem Augenblick mit Fassung entgegen, weil ich ihn seit lange kommen sah, und doch hat mich in der letzten Stunde mein Gefühl übermannt und der sehnliche Wunsch, Sie noch einmal zu sehen, ehe mein Auge vielleicht für immer erlischt, Ihr Bild mit hinüberzunehmen in die lange Nacht, die mir bevorsteht; der Wunsch ist es allein gewesen, der mich in Ihr Haus geführt hat.

Es sollte nicht sein, und so sage ich Ihnen auf diesem Weg ein letztes Lebewohl. Denken Sie meiner wenigstens ohne Groll, wie ich Ihrer stets nur in Liebe gedacht habe und, solange mein Herz schlägt, gedenken werde.

Richard Tromholt.“

Mit einem Aufschrei ließ Susanne das Blatt aus ihrer Hand sinken. „Blind! Blind durch meine Schuld!“ schluchzte sie. „Was hab’ ich gethan, welch edles Herz hab’ ich gekränkt!“ und verzweifelt schlug sie die Hände vor das thränenüberströmte Gesicht.

Dina, die ihre Schwester wanken sah, eilte herbei, sie zu stützen und zu beruhigen.

Allein von einem plötzlichen Entschluß beseelt, sprang Susanne jetzt empor. „Laß mich,“ rief sie. „Ich muß zu ihm, zu ihm!“ Und sich aus den Armen der Schwester gewaltsam freimachend, griff sie nach Hut und Mantel und eilte hinaus, die Treppe hinab, auf die Straße.

„Ins Hotel Germania!“ rief sie, als gerade ein leerer Wagen vorüberfuhr, dem Kutscher zu, und wenige Sekunden später war sie dahin unterwegs. Es gab auch keine Unruhe mehr in ihr. Der alte feste Wille war ausgeprägt in ihren Zügen, der Kampf war entschieden, der Stolz besiegt und statt seiner nur das eine, unwiderstehliche Verlangen in ihrer Brust zurückgeblieben, Tromholt zu sehen, ihm zu sagen, daß sie ihn liebe, ihn zu bitten, daß er ihr vergebe und sie hinnehme als sein Weib, daß sie mit ihm trage, was die Zukunft auch bringen möge.

„Herr Tromholt aus Kopenhagen?“ fragte Susanne nach der Ankunft im Gasthof.

„Ist wohl schon fortgegangen,“ lautete des Portiers Antwort, während er auf das Schlüsselbrett guckte.

Susannens Herz stockte.

„Nein, der Herr ist noch oben,“ ertönte eine andere Stimme, die eines hinzutretenden Kellners. „Nummer achtzehn, gnädige Frau, eine Treppe!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 668. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_668.jpg&oldid=- (Version vom 4.11.2022)