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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Sonnenschein, und blinzelte mit träger Gleichgültigkeit in das vorüberfluthende Menschengetümmel.

Annie Gerold spürte ein eigenthümliches Zucken durch ihren ganzen Körper. „Ego!“ rief sie halblaut.

Das Thier wandte rasch den Kopf, erhob sich und kam zur Begrüßung herangetrabt, indem es sich gegen Annies Kniee drängte und sich von ihrer Hand streicheln ließ. Seine klugen Augen wanderten zum Museum empor, dann wieder zu der jungen Dame zurück. „Geh’ nur hinauf – Du findest ihn oben!“ schien der ausdrucksvolle Blick zu sagen.

„Woher kennst Du diesen prächtigen Hund, Annie?“ fragte Frau Weyland, indem sie dem Thiere liebkosend über den Kopf fuhr, was Ego sich gnädig gefallen ließ.

„Ja – siehst Du! Das ist eine ganz neue Bekanntschaft von mir! Nicht wahr, er ist schön?“ rief das junge Mädchen, die Antwort umgehend.

Sie stiegen langsam die vielen Stufen hinan.

„Annie,“ flüsterte Frau Hedwig, als sie in den riesengroßen, in zahlreiche Nischen abgetheilten Saal getreten waren. „Augen rechts! Da stehen Deine Verehrer, die Ulanen, mit ein paar jungen Damen; wenn Du ein ganz klein wenig geschickt Dich halten wolltest, dann hättest Du in zwei Minuten Deinen ganzen Hofstaat um Dich herum und könntest hier einhergehen wie eine junge Fürstin mit Gefolge.“

„Ach nein! Um Gotteswillen nicht – komm rasch vorbei!“ stieß Annie etwas ungeduldig heraus – ihr war es gerade um die Ulanen zu thun!

„So – nun wäre die Gefahr vorüber! Aber Kind, warum wolltest Du eigentlich nicht? Zum Beispiel, Conventius ist doch sehr nett!“

„Ja, er ist nett – ein ganz besonderer Günstling von Thea – sie sagt, er wolle nicht mehr bedeuten, als was er wirklich sei: ein flotter, hübscher Offizier von gewisser Geistesschärfe und leidlicher, anspruchsloser Bildung. Aber, Hedwig – mit einem halben Dutzend Ulanen zusammen Bilder ansehen – für einen Menschen, dem es wirklich Ernst mit dem Anschauen und der zudem verpflichtet ist, von allem wirklich Hervorragenden Thea einen vernünftigen Bericht zu liefern! Du weißt es, sie ist nicht ganz leicht zufriedenzustellen, und wenn ich will, daß sie durch meine Augen sieht, muß ich mich gehörig zusammennehmen.“

„Ich gebe Dir ganz recht, Liebchen. Vertiefen wir uns also!“

Dies sollte den Damen nicht ganz leicht gemacht werden; es gab gar zu viele Bekannte zu begrüßen, Hände zu schütteln, Verbeugungen zu machen, Fragen zu beantworten. Aber Annie, die von einer großen innern Unruhe getrieben wurde, eilte rastlos weiter, mit ihren fragenden, ungeduldigen Augen in jede Nische spähend, die Bilder alle überfliegend. Frau Hedwig war in gewisser Weise enttäuscht: sollte dies Umherjagen, dies flüchtige, oberflächliche Anschauen das ernste Studium bedeuten, von dem ihre junge Freundin ihr gesprochen hatte?

„Was suchst Du eigentlich, Annie? Auf diese Weise werden wir gar nichts sehen!“ Es half nicht viel, das Mädchen hielt es keine Minute auf ein und derselben Stelle aus. Frau Weyland hatte den Katalog in der Hand und blätterte nach, wenn sie irgend Zeit dazu fand.

„Welchen Vorwurf hat eigentlich Professor Delmonts Bild?“ fragte sie jetzt. „Ich bin wahrhaftig in den letzten Tagen nicht einmal dazu gekommen, den Katalog vorher durchzusehen, was ich sonst immer zu thun pflege; aber vorgestern war Diner bei meiner Schwägerin, das sich sträflich lange ausdehnte, und gestern hatte, wie Du weißt, mein Helenchen Geburtstag – vormittags feierliche Bescherung, nachmittags Kindergesellschaft; hättest Du mir nicht so liebenswürdig geholfen, zum Tanz zu spielen, wäre ich kaum vom Klavier fortgekommen! – Also, jetzt Delmont! Sehen wir einmal im Verzeichniß nach.“

„Ach nein – bitte – laß!“ wehrte Annie hastig ab. „Ich finde sein Bild ohne das heraus, verlaß Dich darauf. Ich habe mir’s vorgenommen!“

„Soso!“ entgegnete Frau Weyland trocken und ließ sich geduldig weiterziehen.

In einer links gelegenen, ziemlich geräumigen Nische staute sich das Publikum in auffallender Weise; die beiden nähertretenden Freundinnen sahen zuerst gar nichts, soviel Köpfe schoben sich davor. Annie erhob sich auf die Fußspitzen und bog sich seitwärts, dann wandte sie sich mit einem tiefen Athemholen zu Frau Weyland und sagte: „Dort ist es!“

„Wirklich?“ erwiderte diese und sah dem Mädchen in das plötzlich erblaßte Gesicht. „Weißt Du das so genau? Wenn wir nur mehr herankämen! Da wendet sich der dicke alte Herr mit seinen Töchtern eben zum Gehen; jetzt rasch, Annie! Schlüpfe durch – so! Meinst Du das große Gemälde? Laß einmal sehen, richtig: Karl Delmont: ‚Der Engel des Herrn!‘“

Ja – – der Engel des Herrn! Eine lebensgroße, einsame Gestalt, in einem weißen herabfließenden Gewande, scharf sich abhebend von einem duftig verklärten goldigen Licht, das in einem seltsamen Gegensatz zu dem Flammenschwert stand, welches der Engel mit der Rechten gefaßt hielt, wie bereit, es hoch emporzuheben; von ihm ging ein dämonisches Leuchten aus, es war, als zuckte und zitterte ein lebendiger Blitz hin und wider, er warf einen breiten Feuerschein auf das weiße Gewand des Cherubs – es lag eine blendende, unglaublich packende Farbenwirkung in diesem mit förmlicher Leuchtkraft gemalten Flammenschwert.

Viele Beschauer fanden sicher, daß dies, abgesehen von der hohen Kunst, mit der das ganze Bild gemalt war, der einzige Effekt war, den es hervorrief. Denn statt eines zornig majestätischen Halbgottes, der gebieterisch die sündigen Menschen aus dem Paradiese treibt, statt eines strafenden Richterantlitzes sah ein schönes, schwermüthiges Menschengesicht aus dem Rahmen des Bildes heraus. Eine Welt voll Trauer und Erbarmen sprach aus den unergründlichen, blauschwarzen Augen; es war, als umfaßten sie die ganze Menschheit, die nach diesem einen Paar sündigen und büßen sollte; als sähen sie all den unendlichen Jammer und die zahllosen Leiden und Thränen auf Erden und wünschten überzufließen vor schmerzlichem Mitleid. Auch um die Lippen lag ein Zug rührender Trauer, und die linke Hand hing schlaff nieder in einer Gebärde der Hilflosigkeit, die sagen zu wollen schien: „meine Rechte wird sich erheben und ich werde dem Gebot Gottes gehorchen – aber mein Herz zittert und weint um euch – ihr Armen, ihr Armen!“ –

Hinter den beiden Damen wurden bewundernde Ausrufe laut; aus welch verschiedenartigen Menschen auch ein solches Kunstausstellungspublikum zusammengesetzt ist – dem großartigen Eindruck dieses Gemäldes konnte sich kein einziger entziehen. Die geradezu meisterhafte Technik, die hier so ganz in den Dienst der alles beherrschenden Idee gestellt war, die beinahe greifbar zu nennende Gestaltung der Form erfüllte die Kunstkenner und Kritiker mit heller Begeisterung. Die Mehrzahl der Beschauer ließ unbefangen das schöne Ganze auf sich wirken – alle aber kamen darin überein, „man könne stolz darauf sein, den Schöpfer eines so genialen Werkes Mitbürger zu nennen – die Kunst-Akademie werde fortan einen neuen Aufschwung nehmen – und der Ruf und Ruhm, der diesem Künstler vorangegangen sei, habe diesmal nicht übertrieben!“

Frau Hedwig Weyland, durch ihren sehr kunstliebenden und kunstverständigen Gemahl geschult, war Kennerin genug, das Bild nach mehr als einer Richtung zu bewundern, aber sie hatte gar nicht die rechte Ruhe, sich in das tiefsinnige Werk zu versenken; immer wieder irrte ihr Blick von dem Gemälde zu ihrer jungen Freundin ab, die offenbar ganz weltentrückt, ganz hingenommen von einem gewaltigen Eindruck, vor dem „Engel des Herrn“ stand.

„Es ist gar kein Zweifel,“ sagte sich Frau Weyland, „sie liebt diesen Mann!“ Und mit diesem Gedanken legte sich zugleich wie ein Alp die alte böse Ahnung, die sie an jenem Gesellschaftsabend so unablässig verfolgt hatte, ihr auf die Brust und nahm ihr Freude und Genuß an allem, was sich ihr hier Schönes bot. –

Hedwig Weyland war schon als Kind das gewesen, was man eine kleine „Sensitive“ nennt; sie hatte allerlei phantastische und merkwürdige Träume, sie wandelte bei Mondschein mit geschlossenen Augen einher und fühlte sich vom Lichtwechsel stets stark beeinflußt – sie las gern Geschichten, in denen das Uebernatürliche, Unerklärliche eine Rolle spielte, und merkte auf viele Dinge, die alle andern Menschen unbeachtet ließen. Die gesunde Lebensart ihres elterlichen Hauses, sowie eine verständige ärztliche Behandlung bewahrte sie vor Hysterie und schlimmen nervösen Erscheinungen … immer aber, auch nach ihrer Verheirathung mit einem durch und durch praktisch und aufgeklärt gesinnten

Mann, haftete ihr ein Hang an, sich grübelnd in Gebiete

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 679. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_679.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)