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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

„Wünschen Madame Theaterbillets zu nehmen? Es ist morgen des Direktors Benefiz. Thun Sie es doch, Madame,“ bittet das Mädchen, „ich glaube, der Truppe geht es schlecht. Eine ist dabei, die sitzt immerfort und weint; sie ist, seit sie hier angekommen sind, noch nicht aus der Stube gewesen, nur einmal abends. Immer ist sie da oben,“ sie deutet mit dem Finger nach der Decke, „und gestern hat sie geschrieen, daß ich es hier unten hören konnte, und als ich ’naufkomme, da liegt sie dem Direktor zu Füßen und bittet ihn, – und er ist böse, ach so böse.“

Das alles dringt fast unverständlich in meine Ohren. Ich nehme sechs Mark heraus und erhalte eine Menge rother Zettel dafür. Das Mädchen bedankt sich, als ob ihr etwas geschenkt worden sei, und geht. Ich greife noch einmal zum Wochenblatt. Hinter „Margarethe“ steht der Name der Darstellerin nicht, er ist durch drei Punkte ersetzt; unten auf dem Zettel steht: „Margarethe: Fräulein Korinska, engagirt am herzoglichen Hoftheater und nur noch kurze Zeit bei hiesiger Truppe.“

Ich muß den Namen Korinska schon einmal gehört haben! Dann ertappe ich mich dabei, daß ich zur Decke emporsehe; dort oben, ja, ich glaube, es war die nämliche Stube, wo damals –. Mit aller Gewalt zwinge ich mich, klar zu werden, meine Erinnerungen, die sich mit der Gegenwart verwirren, zu ordnen, und während ich in die Dämmerung hinausblicke und das Rauschen des Regens zugleich mit der wonnig duftenden Luft in das Gemach zieht, da steht sie plötzlich greifbar deutlich vor mir – die Vergangenheit:

Pfingsten 1867! Endlich war ich imstande, der Einladung Elisabeths zu folgen; ich that es um so lieber, als ich wußte, daß sie Trost und Anregung nöthig hatte wie das liebe Brot und die frische Gottesluft. Unsere Bekanntschaft stammte aus der Pension; sie, eine stille, zarte Natur, schloß sich innig an das wilde Mädchen da oben von der Nordsee an. Wie unser Wesen, so war auch unsere Auffassung der Dinge verschieden. Sie, zu leiser Sentimentalität geneigt, leicht verletzlich, aus einer sehr frommen Familie stammend, kannte kein höheres Verlangen, als Diakonissin zu werden, womöglich an einem Kinderkrankenhause, denn Kinder, besonders die zarten, die immerfort gehütet werden müssen, liebte sie unsagbar, während mein Sinn nach einem großen Rittergute stand, natürlich auch nach dessen Besitzer und – seiner Zeit nach einer wohlgefüllten Kinderstube mit wenigstens sieben Kleinen. Ich dachte mir es herrlich, so recht herumwirthschaften zu können, über Mägde und Diener zu herrschen, meine wilden Jungen mit dem spanischen Röhrchen in Zucht zu halten und an der Seite meines Mannes in die Felder zu fahren, um den Stand der natürlich immer vorzüglichen Ernte, denn ein echter, rechter Landwirth mußte er sein, zu bewundern.

Elisabeth war Rheinländerin und sprach so „lieb“ nach meinen Begriffen, daß ich ganz entzückt zuhörte, wenn sie mit ihrem „nit“ und „als einmal“ anhub. Dafür lachte sie zuweilen still über mein ehrliches Holsteiner Platt, aber nur so lange, bis ich ihr einmal etwas von Klaus Groth – ich glaube, es war das rührende Gedicht „Min Jehann“ – vorlas und übersetzte.

Als wir eingesegnet waren und aus der Anstalt entlassen wurden, kam die Trennung. Sie ging in den schwesterreichen Familienkreis nach Bonn zurück – ihr Vater war ein höherer pensionirter Offizier; ich in die Einsamkeit unseres Gutes. Wir schrieben uns fleißig. Dann kam einmal – der Brief hatte sich mit dem meinigen, der die Kunde meiner Verlobung enthielt, gekreuzt – die Nachricht von ihr, daß sie in ein Diakonissenstift zu Berlin eingetreten sei und sich sehr glücklich in ihrem Berufe fühle. Zu meiner Hochzeit kam sie und stand im Kreise der geputzten Brautjungfern in der Kirche schier fremdartig anzuschauen mit dem schlichten schwarzen Kleide, das ihr Beruf vorschrieb. Das liebe Gesichtchen, umrahmt von der Diakonissenhaube, sah so engelhaft zufrieden aus, daß ich mich meines irdischen Glücksrausches beinahe schämte.

„Seg, min oll leiw Deern,“ fragte ich, als sie mich umarmte und beglückwünschte, „bist Du denn nu glücklich un tofreden mit Din Los?“

„Lieb Annchen, frag nit so, Du mußt’s ja sehen,“ war ihre Antwort. „Sehr glücklich bin ich, sehr, und ich wünsche Dir ebenfalls so viel Glück, wie’s der liebe Gott nur geben kann.“

Das waren für lange Zeit die letzten Worte; ihr stilles Gesicht nickte mir noch einmal mild freundlich zu aus dem Schwarm der Gäste, als ich abends an meines Mannes Seite unter Musik, Hurrah und Fackelglanz vom väterlichen Hofe fuhr, um in den weiten Räumen von Schloß Räcknitz als Herrin zu walten.

Als ich nach zwei Jahren, eine tieftrauernde Witwe, allein in dem alten Schlosse saß, kam unter vielen, vielen andern Schreiben, die trösten wollen und es doch nicht können, auch ein Brief von Elisabeth. Es war der einzige unter allen, der mich zum Weinen brachte, bis jetzt hatte ich noch keine Thräne gefunden. Sie schrieb, daß sie meinen ungeheuren Verlust um so tiefer zu fühlen vermöge, als auch sie jetzt mit ganzem Herzen einen Mann liebe, dem sie in einiger Zeit angetraut werden würde.

„Es bringt mich die Liebe zu ihm Dir näher wie je, Anna,“ hieß es unter anderm, „könnte ich Dir nur den Trost verschaffen, den sein Wort zu geben vermag! – Sobald wir in unserem einfachen Hilfspredigerhäuschen eingerichtet sind, mußt Du kommen, Anna; versprich es mir!“

Es vergingen aber Jahre, ehe ich diesen Besuch ausführte. Ich sollte meinen Gram überwinden lernen, ward in der Welt umhergeschleppt und legte damals vielleicht den Grund zu meinem Nomadenleben, das ich bis jetzt mit Vorliebe führe, denn Ruhe habe ich eigentlich nicht wieder gefunden seit dem Tode meines Mannes. Im Sommer regierte ich Räcknitz, das mir zugefallen war, und im Winter war ich mit einer Gesellschafterin bald in Florenz, bald in Rom, in London oder Paris; ja, sogar Petersburg war so wenig sicher vor mir wie Konstantinopel oder Athen. Trotzdem blieb ich von Elisabeths Leben unterrichtet. Ich wußte, daß ihr Mann mittlerweile Oberpfarrer geworden war, daß sie in das altehrwürdige Pfarrhaus in Borndorf übergesiedelt seien unter Glockengeläut und über blumenbestreute Wege, und daß in den weiten altväterlichen Stuben sich drei Blondköpfchen tummelten, die das größte Entzücken meiner kleinen heiligen Elisabeth ausmachten.

Da war ich auch mal wieder zu Pfingsten in Räcknitz gelandet, irgendwo her – ich glaube, von den italienischen Seen. Meine Koffer waren noch nicht ausgepackt, ich hatte eben den Inspektor über Ernteaussichten gehört und war im Begriff, in meinem kühlen Wohnzimmer einen langen Schlaf zu thun, als mir das Stubenmädchen einen Brief brachte, der am Morgen schon angelangt war.

„Verehrte Frau!“ begann der von kräftiger Männerhand niedergeschriebene Brief. „Da meine arme Elisabeth zum Schreiben noch immer nicht fähig ist, so beauftragt sie mich – wir nehmen an, daß Sie wieder in Ihrer Heimath sind – Ihnen mitzutheilen, daß wir in der Zeit vom 15. bis 25. Dezember unsere drei lieben Kinder an der Diphtheritis verloren haben! Gottes Hand ruht schwer auf uns, Er allein weiß, weshalb Er uns dies reiche Erdenglück wieder genommen hat. –“

Weiter las ich nicht. Ich steckte den Brief in die Tasche meines Reisekleides, sagte meiner Wirthschafterin und den Beamten Bescheid, daß ich abermals fortmüsse, wünschte meiner die Hände ringenden Gesellschafterin vergnügte Feiertage und fuhr nach Verlauf einer halben Stunde, mit dem Nöthigsten versehen, zur nächsten Bahnstation, wo ich den Schnellzug noch glücklich erreichte, der mich wieder in die Richtung führte, woher ich heute früh gekommen war.

Am Pfingstsonnabend, mittags, stand ich vor der Posthalterei des kleinen Städtchens, in dem mich die Eisenbahn im Stiche ließ, so daß mir nichts weiter übrig blieb, als mit Extrapost zu reisen, wenn ich überhaupt noch heute Borndorf erreichen wollte. Diese Fahrt und alles, was sich daran reihte innerhalb der nächsten Tage, ist mir bis in die kleinsten Einzelheiten deutlich im Gedächtniß geblieben. Der Weg stieg durch herrlichen mit lenzgrünen Buchen gemischten Tannenwald langsam bergan, die Sonne spielte auf dem Waldboden, die Luft war duftig nach einem warmen Regen und der Himmel leicht bewölkt. Es schien alles dem Feste entgegen zu jubeln und zu jauchzen, und das mochte auch wohl der Postillon aus dem Bocke denken, der sich auf den morgenden Tanz freute, denn er blies schier übermüthig und in ganz grimmigen Tönen:

„Du hast ja die schönsten Augen –“

Ich habe es nie vermocht, jemand im Frohsein zu stören durch meine trübe Stimmung; heute aber wurde es mir sauer, diese Musik anzuhören. Als dann jedoch die lustige Melodie mit aufsteigender Nachmittagskühle anfing in eine melancholische überzugehen und „Es ist bestimmt in Gottes Rath“ mich thatsächlich bis zum Weinen brachte, da bat ich den Mann, lieber innezuhalten. Die Töne summten mir noch in den Ohren, als mein Wagen über das Pflaster des Städtchens rollte, in dem es nach Kuchen und Maiengrün duftete, und vor der Thür der „Rothen Forelle“ hielt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 694. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_694.jpg&oldid=- (Version vom 11.2.2023)