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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Er brach ab. Eben schritt ihre dunkle Gestalt daher. Sie hatte einen merkwürdig leichten Gang, man hörte kaum ein Steinchen unter ihrem Fuß knirschen.

„Dein Zimmer ist bereit, Anna,“ sagte sie.

„Das ist ja schön, Elisabeth,“ erwiderte ich, „aber ich muß nothwendig noch einmal in das Gasthaus, um meine Sachen zu holen, und da bitte ich mir Deine Begleitung aus – am liebsten wäre es mir, Ihr kämet beide mit.“

„Ich bitte, mich zu entschuldigen, aber Hermann, nicht wahr? Hermann, Du –“

Er war bereit, und bald gingen wir mit einander die Straße hinauf. Die Nacht hatte so etwas Festliches heute, es roch nach den frischen Maien, ein wunderbarer Mondenschein lag wie Silberduft über dem Städtchen und den Bergen jenseit desselben, die Brunnen plätscherten leise und irgendwo ward eine Harmonika gespielt.

„Ach, wie wär's möglich dann –“

sang eine helle Mädchenstimme.

Unter der Linde meines Gasthofes saßen alle Bänke voll Menschen und die Bierseidel klapperten dazu; ein ganzes Rudel Jenenser Studenten, deren bunte Käppchen im Lichte der Laterne aufleuchteten, sangen da ihre Lieder, eine ausgelassene Gesellschaft. Auch zwei Damen bemerke ich darunter, und ich erinnere mich, wie ich mich nach der einen nochmals umwandte; – es war eine schlanke jugendliche Frau, die eine förmliche Krone von mattblondem Haar auf dem Haupte trug; sie stand mit untergeschlagenen Armen am Stamme des Baumes; es lachte alles an ihr, der rothe Mund und die großen dunklen Augen. Der hübsche Student vor ihr mochte ihr eben etwas sehr Angenehmes gesagt haben, als er ihr zutrank.

Ich war stehen geblieben. Menschliche Schönheit, solche wirklich überraschende Schönheit hat mich immer zur Bewunderung hingerissen. Sie bemerke wohl mein Anstaunen, denn diese großen schwarzen Augen flammten plötzlich drohend zu mir herüber und ein verächtlicher Zug legte sich um ihren Mund. Dann nahm sie ein Glas vom Tische und trank langsam, ihre Blicke jetzt wieder auf den Studenten richtend.

„Sind wir nicht zur Herrlichkeit geboren“

– begann der Chorus, während ich, mich nur schwer von dem fesselnden Bilde trennend, in die Hausdiele trat. Der Pfarrer war längst in die völlig leere Wirthsstube gegangen; er wolle dort auf mich warten, hatte er gesagt.

Ich suchte ihn auf und versprach ihm, so rasch als möglich zurückzukommen; dann begann ich oben mit thunlichster Eile meine Siebensachen, deren ich noch wenig ausgepackt hatte, mit Hilfe des Stubenmädchens zusammenzuräumen.

„Sagen Sie,“ versuchte ich das Mädchen auszufragen, „wohnt die schöne blonde Frau hier im Hause – die da unten bei den Studenten steht? – Sie ist wohl eine von den Schauspielerinnen?“

„Hm! – Die!“ sagte das Mädchen verächtlich; „ich begreife nicht, daß der Herr die Leute im Hause behält. Ihr Mann ist ja ziemlich ordentlich, aber sie, sie denkt, weil sie Frau Direktorin ist, sie kann nur befehlen; und außerdem verträgt sie sich nicht mit ihrem Mann, es ist ein Leben wie zwischen Hund und Katze. Madame können froh sein, daß Sie hier hinauskommen, oben darüber wohnt die Gesellschaft; der Lärm ist entsetzlich, man glaubt manchmal, der Mann schlägt sie gleich todt.“

Als ob die Wahrheit des Gesagten sofort bestätigt werden sollte, flogen plötzlich da draußen auf dem Gange Schritte vorüber, denen Männertritte nachpolterten, und gleich darauf schallte der Angstschrei einer weiblichen Stimme über mir, dem ein schwerer Fall folgte. – Gott weiß, ich habe nie danach getrachtet, in Streitereien meiner Mitmenschen mich einzumengen, aber hier hatte ich keinen freien Willen, es war, als ob mir die Schönheit des jungen Weibes es angethan hätte. Ich lief über den Flur, die Treppe hinauf; – unten mochte man nichts gehört haben, niemand kam, auch war es jetzt still geworden. Schon wollte ich umkehren, da erblickte ich in dem flimmernden Lichte einer kleinen Oellampe, die trübselig auf einem Bördchen als Flurbeleuchtung diente, dicht vor mir auf der obersten Stufe ein Kind.

Es saß im Hemdchen da, ein paar dicke Thränen auf den vollen Bäckchen und doch lachend mit seinem kleinen rothen Mund und aus einem Paar wanderbar schwarzer Augen. Das Geschöpfchen mochte drei und ein halbes Jahr alt sein, das ich da anschaute, als sähe ich ein Wunder. Ich habe viele reizende Kinder gesehen; in Spanien kleine Wesen, wie sie Murillo malte, blonde englische Köpfchen, die etwas Ueberirdisches an sich hatten, und einmal ein Zigeunerkind, das so schön war, daß ich es am liebsten seinen Eltern abgekauft hätte – so etwas Liebliches aber wie hier vor mir hatte ich doch noch nicht erblickt.

„Papa meine Mama haut,“ sagte es lächelnd, und erschreckt schmiegte es sich im selbigen Augenblick an mich, als du drinnen eine heftige Männerstimme anhub:

„Ich bitte Dich nur am Eines, Tosca, reize mich nicht mehr durch Reden auf! Du weißt, ich habe Dich wahnsinnig lieb, aber wenn Du mich zur Eifersucht aufstachelst, so kenne ich mich nicht mehr! Es ist genug davon gewesen in der letzten Zeit; um des Kindes willen laß ab von Deinem Treiben, ich ertrage es nicht –“

Es hatte zuletzt ganz weich geklungen.

Eine Gegenantwort mochte gekommen sein, obgleich ich nichts vernommen hatte, denn jetzt bat der Mann schluchzend: „Tosca, das wirst Du nicht thun, Du wirst mich nicht verlassen, Du kannst es ja nicht!“

Ich stand ziemlich rathlos da. „Geh zu Deiner Mutter, Kleine!“ bat ich, „Du erkältest Dich hier, es ist kühl.“ Ich versuchte die Aermchen abzustreifen, um mich frei zu machen, da erhob sie ein klägliches Geschrei. Im Augenblick wurde die Thür geöffnet, und die Frau stand vor mir. Das Haar hing ihr wirr um den Kopf, das weiße Gesicht war auf der linken Seite stark geröthet, und der zierliche Spitzenbesatz am Aermel schien zerrissen.

„Ihre Kleine bringe ich Ihnen, Madame,“ sagte ich gefaßt, „sie saß an der Treppe und hätte leicht hinabstürzen können.“

„Danke sehr, die fällt nicht,“ erhielt ich zur Antwort, „sie kennt auch unsere Thür.“ Und indem sie das Kind an sich riß, verschwand sie mit einem kurzen: „Bemühen Sie sich nicht weiter“ in der Thür ihrer Stube, die sie krachend hinter sich zuwarf.

Ich entschuldigte mein längeres Ausbleiben unten bei meinem Gastfreund, der still noch auf derselben Stelle im Wirthszimmer meiner harrte; und vom Hausknecht begleitet, traten wir den Rückweg an. Die Herren Studenten unter der Linde waren jetzt nach dem Gartensaal übergesiedelt, denn der Nachtwächter mochte den Gesang draußen, den Bürgern zuliebe, unterbrochen haben. Nur einer stand nach da und starrte zu ein paar erleuchteten Fenstern im Dachgeschoß empor wie verzaubert.

Ich schlief in dieser Nacht wenig; die Nachtigallen hatten es im Garten fast gar zu eifrig mit dem Singen, auch war ich übermüdet von der langen Eisenbahnfahrt der letzten fünf Tage. Ich dachte nach über die beiden Menschenpaare, in deren Leben ich heute einen Einblick gethan hatte; das eine im Frieden und Schutz geordneter Verhältnisse, das andere auf schwankendem Boden, umhergeworfen wie ein Schiff im Sturm, heute hier, morgen dort, und beide unglücklich. Es waren keine Pfingstgedanken, die mich beschäftigten, ich gestehe es offen; das Leben zieht uns oft gewaltsam ab von dem, was wir eigentlich thun sollten: es giebt nichts Widerspenstigeres als Gedanken, sie lassen sich nicht ablenken von dem Gegenstand den sie just erfaßt haben, und jemehr man ihrer Herr zu werden sucht, desto störrischer sind sie. – Erst gegen Morgen schlief ich ein und verschlief – o Schande! – die Predigt. Ich glaube, es war elf Uhr, als Elisabeth vor mir stand in ihrem tiefschwarzen Kleide und mich besorgt ansah.

„Warum wecktest Du mich nicht?“ fragte ich.

„Sei froh, daß Du schlafen kannst, Anna; was versäumst Du auch?“

„O, ich habe die Kirche und meine Morgenandacht versäumt, und das in einem Predigerhause!“

Sie antwortete nicht. Wie in unserer Mädchenzeit begann sie mir zu helfen beim Anziehen, und ich ließ es geschehen. Mit derselben leichten Hand kämmte sie mir das Haar aus.

„Ja, Lieschen,“ seufzte ich, „ik hev all grise Haar da mit tüschen. Kind, wir sind ja eigentlich noch jung; was sind dreißig Jahre?“

Sie schüttelte den braunen Kopf. „O, ich bin so alt geworden seitdem, Anna.“

„Ja, Du thust so, es ist aber unrecht, Elisabeth.“

„An Jahren nicht, aber hier!“ Sie zeigte auf ihr Herz.

„Min fötes Kind! Bist Du denn Deinem Mann nicht ein bißchen mehr gut?“

Sie sah mich ängstlich an. „Wir verstehen uns nicht mehr, Anna, er kann mich ja auch nicht mehr verstehen. Aber sprich nicht mehr davon, sprich nicht davon –“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 698. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_698.jpg&oldid=- (Version vom 11.2.2023)