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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

alles! In solchen Augenblicken sehnte er sich ordentlich nach einem Unglück, das ihn wenigstens vor sich selbst gerechtfertigt hätte.

Es blieb nicht aus. Beim Eiersammeln auf einer Felseninsel stürzte Bill und brach ein Bein; er lachte hämisch, als sie ihn in diesem Zustande zu Laura brachten. Maria pflegte ihn, sie hatte die Erfahrung und den Ernst einer Erwachsenen, wenn es galt. Die Mutter mußte ja im Geschäfte sein, das ohnehin, wenn der Vorrath einmal ausging, stark gefährdet war. Außerdem verlangte der Vater selbst immer nach Maria; Laura hatte eine unglückliche Hand, wenn sie nur den Verband berührte, schrie er auf.

Das Krankenlager hätte nimmer enden sollen! Unter dem ewig heiteren, klaren Blick seines Kindes, den munteren und doch so klugen Reden desselben kehrte seine eigene glückliche Jugend ihm wieder zurück.

Maria lockte ihm sein ganzes Inneres unbewußt auf die Lippen; er erzählte von seinen Jugendstreichen, seinen frohen, sorglosen Fahrten auf allen Meeren als junger Matrose. Sie hörte mit hochgerötheten Wangen zu, als wehe eine frische Seebrise ihr um das Gesichtchen. Abends, wenn beim düsteren Schein der Nachtampel die schwarzen Gedanken wieder kamen, die Schmerzen in dem gebrochenen Glied hämmerten und pochten, da ergriff er seiner Tochter Hand und erzählte von dem gespenstigen Reiter auf Oland, von den Wogenmännern, von Lars, dem Kapitän, und seinem Rolf, wie die Wogen den Mann hinwegspülten von der unglücklichen „Laura“, und wie ihn selbst das Entsetzen so erfaßte, daß er das gute Schiff verließ, bevor er das letzte versucht, es zu retten; wie das an ihm fresse sein ganzes Leben lang. Dabei blickte er starr auf das grüne Glas oben auf dem Schranke, in dem die Flamme des Nachtlichtes sich abspiegelte.

„Es giebt keinen Zufall, Verhängniß ist alles!“ rief er, wild an der Decke seines Bettes zerrend.

„Du hast das Glas da oben oft gesehen, Maria – die Mutter verbot Dir strenge, es nur zu berühren, ich weiß es – die schlimmsten Erinnerungen pflegt man ja immer am sorgfälligsten – dieses Glas sprang an unserem Hochzeitstag in der Hand Deiner Mutter, als sie mit Lars anstieß, der eben die Geschichte von seinem Rolf erzählte. Es war ein neues Glas, die Mutter hatte es den Tag zuvor zum Geschenk erhalten, es sprang nicht durch Zufall, ebenso wenig als Lars’ Rolf durch Zufall verschwand. Im ersten Augenblicke erschrak alles, dann lachte man darüber, alle außer Lars und mir! Und wir hatten recht, daß wir nicht lachten; die Folge hat es bewiesen. Lars liegt auf Oland begraben, ich liege hier, schmachbedeckt, mit zerbrochenen Gliedern – mein, des Kapitäns Bill Lührsen, Weib, Christen Rungholts Tochter, sitzt in einem dumpfen Laden und verkauft Eier und Garneelen an scheltende Seeleute!“

Seine Stimme klang thränenerstickt, er preßte die Hand seiner Tochter, die auf das Glas oben mit einem Ausdruck des Zornes blickte, der ihr schönes Antlitz entstellte.

„Sieh nach der Mutter, Maria,“ fuhr er dann plötzlich auf, „sie härmt sich allein, die Arme! Gott, wenn ich denke, wie schön und heiter die Laura war; wie Du, Maria, gerade wie Du!“

„Und Du hast sie traurig gemacht, Du und das häßliche Glas da oben!“ brach das Mädchen plötzlich los. „Es giebt keinen Zufall, aber auch keine Katzen, Gläser, Reiter, die Einfluß haben auf unser Geschick. Keinem Schulkind kann man das heutzutage mehr weismachen; nur einen giebt es, der es lenkt und leitet auf dem Meere, auf dem Lande, der allmächtige Gott. Wer auf ihn fest vertraut, sagte unser alter Lehrer, der segelt nicht irre; wer aber solchem Teufelsspuk mehr Glauben schenkt, den schlägt er mit Blindheit, daß er die Wahrheit nicht mehr sieht!“

Bill hatte sich emporgerichtet und starrte in das von der Nachtlampe matt erleuchtete, geröthete Antlitz seines Kindes. Die blauen Augen leuchteten seltsam, sie sprach wie einer inneren Eingebung folgend, gottbegeistert; der Schleier wich einen Augenblick von seiner verfinsterten Seele, er sah die Wahrheit.

„Maria,“ sagte er mit gebrochener Stimme, „hole die Mutter!“

Das Madchen sprang freudig auf. Da öffnete sich die Thür, ein alter, vornübergebeugter Seemann trat herein, scharfen Fischgeruch verbreitend, hinter ihm, die Schürze vor den Augen, Laura, die den Zögernden vor sich her schob.

„Was giebt’s, Haje? Glücklich zurück? Gut eingekauft? Warum kommt Balk nicht selbst, dem ich den Kutter anvertraut habe?“

Der alte Haje winkte traurig mit der Hand.

„Der kommt nicht mehr, der Balk –“ er würgte bedenklich und zerknüllte die gestrickte Haube in den Händen. „Mein Gott, ’raus muß es doch – übersegelt im Nebel von einem Schweden! –“ und er strich mit der flachen, knöchernen Hand wagerecht durch die Luft.

Ein gelles Lachen schallte durch die Stube, daß das grüne Glas zu klingen anfing.

„Was sagte Dein alter Lehrer, Maria? ‚Wer auf ihn vertraut, der segelt nicht irre.‘ – Ich vertraue auf dich da oben, braver alter Scherben! haha! und segle überhaupt nicht mehr!“

Bill schlug in einem Anfall von Wuth mit beiden Fäusten gegen die Wand.

„Jetzt ist’s aus mit der Plackerei! Laura, bring’ von dem alten Gin, Haje muß den neuen Spaß erzählen, ich will ihm aus dem braven Glas da oben vortrinken. Gin, Laura! Was guckst Du denn so unheimlich?“

„Bill, nur das nicht, das wäre das Ende!“ flehte unter Thränen sein Weib.

„Herrgott, das auch noch! Bring’ Gin, oder ich krieche in die Kneipe!“

Laura entfernte sich. Haje kratzte sich verlegen im Haar.

„Mutter, Du bringst keinen Gin, der Vater ist krank und darf ihn nicht trinken. Ich dulde es nicht. Haje kann unten bewirthet werden.“

Der Ton in Marias Worten duldete keinen Widerspruch.

Haje drückte sich scheu aus dem Krankenzimmer, Laura blieb zaghaft unter der Thür stehen.

„Maria, hab’ Erbarmen!“ flehte Bill mit glühender Stirn. „Nur ein Gläschen! Ich ertrage es nicht ohne Gin! Ich wollte ja eben Deinen schönen Worten glauben, merkest Du es nicht? O, es sind ja schöne Worte, aber nur für die Schule, Kind, nicht für das Leben! Da, da kam das Schicksal selbst in der Gestalt des Haje zur Thür herein, um Dich auszulachen – und das Glas! – kling! kling! – ich hörte es deutlich. Maria, Gin, oder ich erwürge mich!“

Er schnürte sich den Hals zu mit krampfhaften Händen. Maria löste sie gewaltsam, ihre klaren Augen waren mit liebevollem Ernst auf den Vater gerichtet, und wirklich beruhigte er sich unter dem stetigen Blick.

„Hat Dir das grausame Schicksal nichts mehr gelassen als ein Glas Gin? Liegt die Mutter, liegt Dein Kind auch auf dem Grund der Nordsee? Stehen sie nicht hier vor Dir mit inniger Liebe im Herzen und wollen alles mit Dir tragen?!“

Bill schloß die Augen vor Scham.

„Mutter!“

Laura näherte sich mit dem gewohnten, zaghaften Schritt. „Sieh’ auf uns, Vater!“ redete Maria eifrig weiter, „ich bin jung, habe kräftige Arme, die Mutter hat nur der Gram gebeugt, – ein gutes Wort, und der böse Zauber muß weichen. – Sprich es aus!“

Seine Brust hob sich zitternd, und seine jetzt fest auf Mariens Antlitz ruhenden Augen blickten unsicher durch Thränen.

„Maria – Laura!“

Er streckte die Arme weit aus, sie zu umfangen. „Verlaßt mich nicht!“

Der alte Haje stand noch immer draußen vor der offenen Thür, er wollte seinen Gin doch nicht einbüßen, über dem Anblick vergaß er ihn aber ganz – er hätte auch lang warten können. Er wischte sich mit der schmutzigen Mütze über die Angen.


5.

Bill war nicht mehr jung und sein Beinbruch war schwer. Die Heilung ging langsam trotz der vortrefflichen Pflege, und zu Bills Geschäft gehörten vor allem gesunde Knochen. Wenn ihn auch die Frauen von seiner Absicht, gar kein Schiff mehr zu kaufen, glücklich abgebracht hatten, so wollte er doch vorderhand nichts von einem solchen wissen. Was wollte er denn in diesem Sommer noch damit machen? Es anderen Leuten anvertrauen? Das wollte er nicht noch einmal probieren. Laura mußte sich so behelfen, Maria, die jetzt achtzehn Jahre alt war, half ja auch wacker mit, so wacker, daß er sich selbst ganz überflüssig fühlte und am liebsten hinüberhinkte in die Seemannskneipe zu den alten Kameraden. „Man bleibt dann doch im Fahrwasser und verweichlicht nicht ganz,“ pflegte er zu sagen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 792. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_792.jpg&oldid=- (Version vom 28.1.2024)