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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

Dort in der „Grünen Auster“ fand er stets aufmerksame Ohren für seine Leidensgeschichte, beim Gin werden alle Sünden vergeben. Er hatte ganz recht, hieß es da, daß er die sinkende „Laura“ verließ, daß er sich kein neues Boot kaufen wollte, man soll einen Wink des Schicksals verstehen – ein Sprung im Glas der Braut am Hochzeitstag! da gehört überhaupt ein verdammter Kerl dazu, der sich da noch auf die See wagt – übrigens habe jetzt das Schicksal wohl ausgetobt und er könne nun in aller Ruhe seinen Gin trinken und die Weiber arbeiten lassen, die ja doch immer an allem Unglück schuld seien.

Solche Reden sog Bill gierig ein, diese Leute meinten es wirklich ehrlich mit ihm! Was hatten sie denn davon? Die gute Kameradschaft machte sie so besorgt, während sein eigenes Weib und sein Kind es kaum erwarten konnten, bis er wieder den Gefahren der Seefahrt sich aussetzte.

Unterdessen kam der Spätherbst heran, der Winter stand vor der Thür, der dem Handel in dem kleinen Häuschen gefährlich zu werden drohte. Die Schiffahrt steht dann still, die Kunden bleiben aus und auch die Waren.

Als Bill eines Tages mit schwerem Kopfe aufstand und nach seiner Tochter fragte, erklärte ihm Laura, Maria habe selbst einen Kutter gemiethet und sei mit dem alten Haje fortgefahren, alle Geschäfte für den Winter zu besorgen.

Bill erschrak heftig bei dieser Nachricht. Seine Maria in dieser rauhen Jahreszeit mit Haje auf einem Segler draußen auf der Nordsee! Jetzt sollte es sich vollenden, sein Schicksal, jetzt sollte der Hauptschlag kommen, gegen den alles andere, was schon geschehen, nichts war! „O, das Glas! das Glas!“ jammerte er, schalt Laura eine schlechte Mutter und ging von neuem in die „Grüne Auster“, seinen Kummer, seine Sorgen zu vertrinken.

Unterdessen segelte Maria unverdrossen in dem Wattenmeer von Insel zu Insel bis nach Romöe hinauf und füllte den Kutter mit Vorräthen aller Art.

Auf Oland saß noch immer Claus, der Richter, der Patriarch der Halligen, der Großmutter Holde Bruder. Den wollte Maria besuchen, sie hatte ihn nicht mehr gesehen seit ihrer Kindheit, seit damals, als er mit dem unglücklichen Vater kam, der das schöne Schiff verloren hatte. Sie hatte die milden Trostesworte, die der Greis dabei zur Mutter gesprochen, nicht vergessen, vielleicht wußte er auch jetzt Rath gegen des Vaters schlimmstes Uebel, gegen den Gin.

Sie fuhren über die Stelle, wo die „Laura“ verunglückt war. Maria forschte vergeblich nach einem Zeichen; dann fuhren sie in den Wattstrom, der Oland durchschneidet, bis dicht vor Claus Buiksloots Werfte.

Ob er wohl noch lebte? Das Haus lag so still, kein Mensch war weit und breit zu sehen. Wenn Claus am Ende allein, verlassen gestorben wäre! Auch Haje äußerte Besorgniß und meinte das sei schon oft vorgekommen bei so alten Leuten.

Die Haustür war offen. Maria horchte im Gange. – Was war das? War sie denn im falschen Haus? Eine kräftige Mannesstimme ertönte, Gelächter, dazwischen das heisere Kichern eines Greises.

Sie klopfte, und „Herein!“ rief es von drinnen.

Ein großer blonder Mann stand vor ihr, der die Decke der Stube fast mit den Haaren streifte; in dem Lehnstuhl beugte sich der halbblinde Claus weit vor.

„Wer kommt denn, Jakob?“ fragte er.

„Deiner Schwester Enkelkind, die Maria Lührsen aus H., und ihr Bootsmann Haje,“ rief laut das Mädchen, des Greises Hand ergreifend.

Der sah mit zitterndem Haupt an der hohen Gestalt hinauf.

„Die kleine Maria, meiner Schwester Enkelkind und – und – wer?“

„Mein Bootsmann, hier, der alte Haje –“

Sie zog den zögernden Alten aus dem Winkel.

„Und Bill Lührsen, Dein Vater?“

„Ist krank – lange schon – hat das Bein gebrochen – nun muß ich das Geschäft besorgen. Geht auch herrlich! Nicht wahr, Haje? Gott, ist’s auf dem Meere schön! Und da bin ich, um Dich zu besuchen!“

„Und hoffentlich ein bißchen auszuruhen von der Fahrt,“ mischte sich der junge Mann darein, der seither zurückgetreten war; „ein Mädchen wie Sie bei der Jahreszeit in einem so jämmerlichen Kasten, wie ich da unten sehe, unter Führung eines –“ er stockte und blickte auf Haje – „gewiß erfahrenen aber doch schon hochbejahrten Seemannes!“

Maria kehrte sich mißmutig nach dem Sprecher um.

„Was kümmert Sie der ‚jämmerliche Kasten‘, und der ‚hochbejahrte Seemann‘?“

Aber plötzlich schien alle Kühnheit, aller Trotz sie zu verlassen. Sie erröthete tief, schlug die Augen nieder vor dem lächelnden Mann und trat unwillkürlich näher zum Großvater.

„Jakob Tönningen, Kapitän, der Sohn meines alten seligen Freundes,“ stellte ihn Claus dem Mädchen vor.

„Des Tönningen mit dem Rolf?“ fragte neugierig Maria.

„Ja, der Sohn des Tönningen mit dem Rolf, ganz recht, Fräulein Maria, der gekommen ist, das Grab seines Vaters zu besuchen. Sie glauben wohl an die Geschichte mit dem Rolf?“

Maria zog verdrossen die Lippen hinauf.

„So wenig als Sie.“

„Ich wollte Sie nicht kränken, ich dachte nur – wir sprachen eben von Ihrem Vater.“

„Ich hätte etwas geerbt, meinen Sie! Wenn man das so mitmacht von Kind auf, Herr Kapitän, das Unheil, welches ein so häßlicher Aberglaube in einem Menschenleben anrichten kann, dann haßt man den Unsinn.“

Der aufsteigende alte Groll röthete ihr von den goldblonden Flechten umrahmtes Gesicht. Maria war in diesem Augenblick wunderschön.

„Was macht denn der Bill?“ redete der Alte dazwischen, der nichts von allem verstanden hatte. „Schwört er noch immer auf das zersprungene Glas? Sonderbar! Sonderbar!“

Maria war sichtlich verlegen, sie schämte sich vor dem Fremden.

„Ich weiß alles, Fräulein Maria,“ beruhigte sie Jakob Tönningen. „Erzählen Sie nur, wir sind uns ja nicht fremd!“

„Nicht fremd?“

„Nicht ganz, das Schicksal unserer Väter schlingt ein Band zwischen uns. Erzählen Sie nur, lassen Sie mich ruhig zuhören!“

Er sprach so herzlich, so einfach; sie schämte sich nicht mehr vor ihm. Und sie erzählte dem Greise ihr junges, hartes, entsagungsvolles Leben voll kindlicher Liebe, männlicher Thatkraft und heiligem Gottvertrauen. Sie bat ihn um Rath für das schwere Seelenleiden, dem der Vater verfallen war, wie sie den Geliebten retten könne von dem häßlichen Wahne, der ihn ganz beherrsche. Sie vergaß in ihrem kindlichen Eifer ganz den Mann im Hintergrunde des Zimmers, dessen Augen trunken an dem schönen, edlen Geschöpfe hingen.

Claus, der Richter, hörte mit bedrückter, sorgenvoller Miene dem Mädchen zu. Er erinnerte sich wohl, wie er selbst damals am Hochzeitsabende erschauerte, als das Glas zersprang in den Händen der Braut beim Trinkspruch auf die beiden Lauren; er war zu alt zum Heucheln, und doch that ihm das Herz so weh beim Anblick dieses zerstörten jungen Lebens. Wie hilfesuchend blickte er auf Jakob, dem die Zornesader schwoll bei der Schilderung von Bills unverantwortlichem Treiben.

Jäh sprang er in die Höhe und seine Augen flammten. „Ich will ihn heilen, Maria, den Vater!“ rief er.

Das Mädchen sah ihn groß an. Er war so schön in seiner Erregung; sie wäre ihm am liebsten zu Füßen gefallen und hätte ihn angefleht, gleich mit ihr zu kommen, so glaubte sie an seine Kraft.

„Du kennst Bill Lührsen nicht! Bill ist mißtrauisch gegen Fremde, nimm Dich in acht,“ meinte Claus bedächtig.

„Ich will ihm bald kein Fremder mehr sein,“ erwiderte Jakob mit einem Blick auf Maria, der das Mädchen wie ein Blitz durchfuhr. „Laß mich nur machen – ich habe Eile – mein Schiff liegt auf Sylt, ich habe Befehl nach Liverpool, dann geht’s nach Bremen. In drei Monaten längstens bin ich mit meinem Heilmittel bei Ihnen in H., Fräulein Maria. Vergessen Sie unterdeß den Jakob Tönningen nicht!“

Er reichte ihr die breite Hand und ließ lange die ihrige nicht.

„Nicht vergessen, hören Sie, sonst wirkt das Mittel nicht, und Du Claus kommst nach H., wenn es gewirkt hat, das versprichst Du mir!“

Claus sagte herb lächelnd zu. „Und wenn ich nicht mehr komme, trinkt auf mein Wohl und gebt fein acht beim Anstoßen.“

Jakob eilte die Werfte hinab zu seinem Segelboot, das im Wattstrome seiner wartete.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 794. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_794.jpg&oldid=- (Version vom 22.6.2023)