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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890)

über den Gefängnißhof schreiten, Gretchen Remmlers freundlichen Knix – das Kind wußte ihm sehr oft zu begegnen – jedesmal mit ein paar herzlichen Worten erwidernd. Wenn dann Remmler die Zelle des zum Tode Verurtheilten aufschloß und der Prediger über die Schwelle trat, dann kam ihm der Gefangene schon bis dorthin entgegen, und in seinem Blick war zu lesen, wie wohl ihm jetzt der Besuch that, den er zu Anfang so schroff zurückgewiesen hatte.

Freilich war es immer mehr die Persönlichkeit Reginalds, die ihn fesselte, als das Amt, das er vertrat. Sehr allmählich erst ging der Prozeß in ihm vor sich, nicht nur zu beachten, wie der Mann zu ihm sprach, sondern auch dem, was er sprach, aufmerksames Gehör zu schenken. Und die Thatsache, daß Reginald ein flottes, lustiges Leben als reicher Majoratsherr und Offizier hätte führen können und das alles, väterlichen Segen und Erbtheil dazu, muthig und ohne zu schwanken in die Schanze geschlagen hatte um seines Glaubens willen, – diese Thatsache hatte gewaltigen Eindruck auf ihn gemacht und sein Nachdenken von dem Manne selbst auf die Sache gelenkt, der er diente. „Es muß ihm doch ungeheuer ernst damit sein, wenn er alles das darum aufs Spiel setzen konnte!“ sprach es in seinem Innern, und: „Er glaubt in allem Ernst jedes Wort, das er spricht, darauf könnte man die Hand ins Feuer legen!“ – und wieder: „Es muß doch ein ganz merkwürdiges Ding sein um solch einen felsenfesten Glauben; wer den hätte! Man könnte den Pfarrer beneiden um seine unerschütterliche Zuversicht!“

Jetzt, da Schönfeld schon seit langer Zeit von seinen einstigen Genossen losgelöst war, konnten solche Gedanken eher bei ihm Eingang finden und Wurzel fassen als früher, da ihnen von anderer Seite entgegengearbeitet wurde. Dann aber war die Bestätigung des Todesurtheils, so gelassen und selbstbeherrscht sie der Gefangene auch aufgenommen hatte, nicht ohne Eindruck auf ihn geblieben. Er hatte es so gewollt, das war gewiß, und er wollte es auch jetzt noch nicht anders – das Leben ekelte ihn an, und er wünschte, es wie eine Last von sich zu werfen. Aber die Gedanken über „Etwas nach dem Tode“ ließen ihn nun doch nicht mehr los; er hatte sie früher verlacht und nur immer von einem traumlosen Ausruhen, einem ewigen Schlaf gesprochen. Der tiefe Ernst, mit dem ihn Conventius bat, für seine unsterbliche Seele zu sorgen, die unerschütterliche Ueberzeugung, die er ihm auf alle Fragen und Zweifel entgegenstellte, prallten nicht so wirkungslos an ihm ab, wie es die ersten Male den Anschein hatte; es arbeitete weiter in ihm, oft fand er sich gegen seinen Willen in Grübeleien vertieft – neue Widersprüche, neue Gegengründe tauchten in ihm auf, die er dem Pfarrer unterbreiten wollte, – ungeduldig sehnte er dessen nächsten Besuch herbei, und immer wieder zerflossen alle seine nebelhaften Zweifel und Bedenken vor der glorreichen Sonne dieses sieghaften Gottesglaubens in nichts und sanken haltlos in sich zusammen. Conventius war ein viel zu feiner Menschenkenner, um nicht mit innerer Freude diese Wandlung zu bemerken, aber er hütete sich wohl, diese Freude zu zeigen, den Nachtwandelnden vorzeitig anzurufen – er sprach von sich selbst, seinem eigenen Empfinden, seinen Erfahrungen und fragte niemals: „Und wie steht es nun mit Dir? Glaubst Du endlich?“

Von Zeit zu Zeit sprach er ein kurzes Gebet, frei aus seinem Herzen heraus – das bewegte den Gefangenen jedesmal in tiefster Seele, denn Conventius betete nicht in pathetischen, großen Worten – er sprach ganz schlicht und vertrauensvoll, wie ein Kind mit seinem Vater spricht, von dem es ganz genau weiß: er giebt mir das, was mir gut ist!

Annie Gerolds liebliche Frühlingsblumen waren allgemach verdorrt; sie hatten schön geblüht und köstlich geduftet, und der Gefangene hatte sie emsig gepflegt im Verein mit Remmler, der sie stets vor Anbruch der Nacht auf den Flur hinaus- und jeden Margen wieder hereintrug. Jetzt prangte nur ein hoher, schöner Rosenstock, mit zahllosen weißen Blüthen und Knospen bedeckt, in der Zelle, sowie eine schlanke, feingefiederte Palme – beides Gaben von Conventius. – –

Draußen brütete eine erdrückende Schwüle. Die weißen Pflastersteine des Gefängnißhofes flimmerten grell im Sonnenschein, es that den Augen weh, darauf hinzusehen, Verdrossen und träge schlenderten die Gefangenen in der Gluth dahin, von den Aufsehern überwacht. Am ganzen Himmel war kein Wölkchen sichtbar, unerbittliches Blau, soweit der Blick reichte.

Schönfeld durfte in diesen letzten Tagen, die er noch zu leben hatte, manche Vergünstigung erfahren, machte aber von diesem Vorzug nur geringen Gebrauch. Den Kopf in die Hand gesetzt, sah er gedankenverloren zu seinem hochgelegenen Fenster empor, durch dessen Gitterstäbe ein Stückchen des lachenden Juni-Himmels hereinblaute. Hatte man sich dort in der fernen Unendlichkeit wirklich Gott zu denken – die Urkraft, die Allmacht, von der alles Lebendige ausgeht – zu der alles Lebendige zurückkehrt? Zu der auch er so bald schon zurückkehren sollte? Trotz der Sommerhitze überlief ihn ein plötzliches Schaudern. Sterben – sterben durch Henkers Hand! Von keinem betrauert, von niemand beweint, schimpflich und schmählich gewaltsam vom Leben zum Tode gebracht zu werden! Aber hatte denn nicht auch er dem Lauf der Natur vorgegriffen, war nicht auch durch seine rohe Gewalt ein Menschenleben verkürzt worden? Er hatte gut sagen, daß es ein elendes, nutzloses, ja, ein verwerfliches Dasein gewesen sei, das er vernichtet habe, daß er seine That nicht bereue – er würde ja doch die Erinnerung an die zuckende, blutüberströmte Gestalt, wie sie hilflos vor ihm zusammengesunken war, an die starren, verglasten Augen, die ihn aus dem fahlen Leichengesicht anstierten, nie verlieren! Und es war keineswegs der Ekel vor dem Leben allein, das ihn den Tod herbeisehnen ließ – es war das ewig lebendige Bild seiner Blutthat, das ihn verfolgte, und das ihn ebenso sehr sein eigenes Dasein verwünschen machte. Wie hatten sie ihn belobt und umjubelt, die Gefährten, als er ihnen seinen „Plan“ mittheilte! Er sah es noch, das düstere, rauchige Lokal, in dem sie ihre Zusammenkünfte damals hielten, sah die verwegenen, wilden Gesichter, die gierigen Blicke, athmete die erstickend schwüle Atmosphäre, hörte die wüsten, lästerlichen Reden: „Tod und Verderben den Reichen!“ „Nieder mit den Kapitalisten!“ „Unsere Todfeinde, die Besitzenden!“ „Zu oberst das Unterste und umgekehrt!“ „Wollen doch ’mal sehen, wie das den oberen Zehntausend gefällt!“ – Und sie hatten ihn begeistert als ihren Retter, ihren Führer gepriesen, … und dann hatte er ihnen die Kastanien aus dem Feuer geholt und war beinahe fertig damit gewesen, als man kam und ihn griff. Aber die andern waren allesammt frei ausgegangen – er hatte keinen einzigen vom „Verein“ genannt, keinen Kameraden verrathen! Niemals hätte er das gethan, nie in seinem ganzen Leben! Ob Conventius das wußte, als er dem Gefangenen, der sich selbst in überströmender Bitterkeit „einen gemeinen Verbrecher“ genannt hatte, lebhaft widersprach: „Gemein? Das Wort paßt nicht auf Sie! Ein gemeiner Verbrecher sind Sie nicht!“

Heute saß er noch hier und sann und sah den goldenen Sonnenstrahl, der durch die Eisenstäbe seines Fensters schlüpfte und eine glänzende Bahn bis zu ihm zog – hörte das Schwirren der Schwalben, die fröhlich aus- und einflogen, unbekümmert darum, daß sie ihre Nester unter den Dachfirst eines Gefängnisses gebaut hatten – zählte die Glockenschläge einer tief dröhnenden Thurmuhr in seiner Nähe – athmete die schwüle Sommerluft … und in wenig Tagen lag er verscharrt in einem versteckten Winkel, und niemand würde an seinem verlassenen Grabe niederknieen und um ihn weinen und Blumen auf seinen Hügel pflanzen! Der Menschheit hatte er dienen wollen – freilich auf falschem Wege, wie er jetzt recht wohl einsah – aber die Menschheit stieß ihn aus ihrer Gemeinschaft …

Ein Zittern kam über ihn, dessen er nicht Herr zu werden vermochte. Konnte das Todesfurcht sein? Heinrich Schönfeld und Todesfurcht! Unmöglich! Er haßte ja das Leben, er wünschte sich den Tod! Was aber heute sein Geist für wunderliche Sprünge that! Da war er auf einmal mitten in seiner frühesten Kinderzeit – ein kleiner, etwas schwerfälliger Junge, nicht so lärmend wie seine Kameraden, – und in demselben Hause, in dem er mit seinen Eltern und Geschwistern eine finstere Hinterwohnung innehatte, wohnte auch der Flickschneider Oehmke mit seinem kleinen Töchterchen Lieschen. Konnte das Lieschen lachen und lustig sein! All die winkligen Ecken und steilen Treppen des alten, baufälligen Hinterhauses hallten von ihrem helltönigen Lachen wieder – und worüber hatte sich denn das Lieschen im Grunde zu freuen? Ueber nichts! Denn es bekam nicht einmal immer satt zu essen, und der Vater war ein verkümmerter, trauriger Gesell, der das Kind wenig beachtete. Aber jeder im Hause hatte es lieb, und es liebte getreulich alle wieder.

Wenn Lieschen einmal irgendwo ein paar gute Bissen erhascht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1890). Leipzig: Ernst Keil, 1890, Seite 811. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1890)_811.jpg&oldid=- (Version vom 4.8.2020)