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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Schwestern sich ihre weißen Kleidchen im Schweiße des Angesichts wuschen und bügelten und das Schleifenband auf die linke Seite umwandten, hatte sie die Achseln gezuckt und gefragt: „Für wen denn?“ Und während die andern tanzten, hatte sie mit offenen Augen daheim in ihrem Bette gelegen und immer nur gedacht: wie komme ich heraus aus dieser Enge, wie fange ich es an, das Leben zu sehen, das wirkliche Leben?

Hilde verstand sich nicht mit ihrer Mutter; das scheue gedrückte Wesen der blassen Frau regte sie förmlich auf. Gewohnt, von allem, was zum Leben gehört, stets nur einen kleinsten Theil beanspruchen zu dürfen, hatte die bescheidene Frau sich ein Wort angewöhnt, das sie, ohne sich dessen bewußt zu sein, in alle ihre Reden einflocht. „Kinder, wollen wir heute mittag ein ‚bißchen‘ Fleischbrühe essen?“ oder „Wir gehen heute ein ‚bißchen‘ in die Kirche. – Papa hat ein ‚bißchen‘ Kopfschmerz. – Ich habe Grethchen ein ‚bißchen‘ Zeug zum Kleid gekauft. – Hilde, lasse ein ‚bißchen‘ frische Luft ins Zimmer –“

„Großer Gott, Mama, warum denn ein ‚bißchen‘? Die frische Luft wenigstens bekommen wir kostenfrei; Du kannst haben, soviel Du willst!“ eiferte Hilde dann.

„Ach, Kind, sei nicht gleich so heftig, ich denke mir nichts dabei, ich bin immer so ein ‚bißchen‘ zerstreut.“

Ach, dies Leben, das aus lauter ‚bißchen‘ bestand, war furchtbar gewesen für Hilde! Da, endlich hatte sie den Vater vermocht, an die Dresdener Tante zu schreiben, der müde, gebeugte Mann hatte es gethan um des lieben Friedens willen, wie er sagte, und wider Erwarten war eine bejahende Antwort von Frau Polly eingetroffen. Wie eine Bombe war dieser Brief ins Haus gefallen.

Frau von Zweidorf hatte ihr Kind, so gut es ging, ein „bißchen“ ausgesteuert. Gutmüthig gaben die Schwestern, was sie irgend entbehren konnten, zur Verzierung von Hildes Toilette, denn Hilde besaß eine starke Neigung, ihre einfache Kleidung zu verschönern und aufzuputzen, besonders ihre Hüte. Sie nahm ohne Bedenken die struppige Straußenfeder an, die Tonis Stolz war, und heftete sie auf den breitrandigen Rembrandthut, nachdem die Mutter sie ein „bißchen“ gekräuselt hatte. Toni war ja ohnehin nach Hildegards Auffassung aus den Jahren, wo man „Toilette“ macht: sie war zweiunddreißig. Der letzte Tag vor der Reise brachte das schon ungeduldige, aufgeregte Mädchen völlig außer sich: sie ertrug keine der guten Lehren der Schwestern und noch weniger Neckereien. Der Vater aber hatte mit trauriger Miene ein Zwanzigmarkstück auf die Platte seines Arbeitstisches gelegt und gesagt: „Ich gäbe Dir gern mehr, Herzenskind, aber ich hab’s jetzt nicht.“

Hilde wurde fast gerührt, und sie wollte doch nicht gerührt sein; weichliche Menschen bringen es selten zu etwas. Sie konnte es auch nicht noch einmal hören, daß die Mutter sagte: „Ach, Hilde, wenn Du doch ein ‚bißchen‘ Glück hättest!“ – Was sollte sie mit einem „bißchen“ Glück? Viel wollte sie, alles! Wozu das Zaudern?

Sie machte kurzen Prozeß: sie ging einen Tag früher fort. Ganz heimlich traf sie des Morgens um fünf Uhr Anstalten, das Haus zu verlassen; es wahr für sie so leicht, unbemerkt davon zu kommen, denn sie schlief allein in einem Bodenkämmerchen. Nachbars Fritz trug das Reisetäschchen zur Bahn, sie hatte es ihm schon am Abend vorher über den Zaun gegeben. Den Koffer konnten sie ihr ja nachschicken. Sie schrieb ein paar Abschiedsworte auf einen Zettel, legte ihn auf den Küchentisch und schlich sich fort. Vor der Schlafstubenthür der Eltern stockte ihr Fuß einen Augenblick, dann huschte sie desto eiliger die Treppe hinunter. Es war ihr, als hätte die Mutter gesagt: „Hilde, wird es Dir denn nicht ein ‚bißchen‘ schwer, uns zu verlassen?“ – Nein, es wurde ihr nicht schwer, denn vor ihr lag die Welt, die weite Welt!

Es war die erste Reise, die Hilde von Zweidorf unternahm. Eine andere würde das verwirrt und ängstlich gemacht haben, Hilde aber fand sich mit der Sicherheit einer amerikanischen Lady zurecht, die nichts anderes von Kindheit an gethan hat als reisen. Es sang und klang ihr vor den Ohren, selbst das Rollen der Räder wurde ihr zur Melodie, sie fuhr ja dem Glück entgegen!

Wie gut, daß sie nicht noch einen Tag gewartet hatte! Sie hätte ja dann Herrn Jussnitz nicht getroffen! Sie setzte sich hoch im Bette auf und legte die Hände an die pochenden Schläfen – sollte sie denn gleich bei dem ersten Schritt in das Leben hinaus alles finden?

Er hatte sie so eigen angesehen, so voll unverhohlener Bewunderung. Sie vergegenwärtigte sich seine Erscheinung – er war ein schöner Mensch von durchaus feinen Formen. Hilde kannte solche Herren zwar nur vom Hörensagen, aber das Bild, das sie sich von ihnen entworfen hatte, stimmte. Und er war ein Künstler obendrein, sein Name war schon genannt, er hatte Geschmack – welch eine verführerische Frauengestalt war diese Brockenhexe, deren Nachbildung Hilde gesehen hatte!

Mit ihrer leicht erregbaren Phantasie, mit ihrem nach Glück so hungrigen jungen Herzen, mit dem entschlossenen Charakter, für den es nichts Halbes gab, glaubte sie, als der Morgen tagte, ganz bestimmt, daß sie „ihn“ gefunden habe, daß sie ihn liebe und wieder von ihm geliebt sei, und daß ihr in den nächsten Tagen schon ein goldenes Märchenwunder die Erfüllung aller ihrer Wünsche bringen werde. Sie malte sich das alles aus bis aufs kleinste, sie sah sich endlich an seinem Arme durch die Straßen ihres Heimathstädtchens gehen – sie waren auf der Reise nach Italien – und hörte die Leute sagen: „Das ist die Hilde von Zweidorf, die den berühmten Jussnitz geheirathet hat.“

Mit fieberndem Kopf und unnatürlich glänzenden Augen kam sie zum Kaffee in die Wohnstube der Tante Polly. Sie beantwortete zerstreut eine Menge ziemlich neugieriger Fragen, betrachtete wie abwesend die kleinbürgerliche Einrichtung der guten Frau Berger, die in buntgeblümter Nachthaube und ebensolcher Jacke die Honneurs am Kaffeetisch machte, und setzte sich dann ans Fenster.

Tante Polly wischte Staub; hin und wieder warf sie einen fragenden ärgerlichen Blick auf das Mädchen, das mit lässig gefalteten Händen regungslos dasaß und auf die Straße blickte. Es war eine häßliche Straße mit kasernenartigen Häusern; das Haus der Tante, eines der wenigen alten Gebäude, die noch nicht der neuzeitlichen Ausbeutung der Baugründe zum Opfer gefallen waren, stand wie ein Zwerg unter den übrigen bis zum Dach hinauf übervölkerten Riesen. Auf dem Fußsteig, welchen ein dichter Herbstnebel glitschig und feucht gemacht hatte, gingen eilige Menschen hin und wieder – nicht das feine Publikum, das Hildes Augen gestern entzückt hatte, nur Leute, die ihrem Beruf oder einer Besorgung nachstrebten, hastig und geschäftig. Die Pferdebahn klingelte vorüber, Kohlenwagen kreischten auf dem Pflaster, und jetzt kam ein Leichenzug – alles so häßlich, grau in grau in dem Oktobersprühregen.

Tante Polly verließ die Stube, Hilde bemerkte es gar nicht; sie starrte noch immer da hinunter, sie wartete auf irgend etwas. Dort schritt die Tante über die Straße im weiten dunklen Regenmantel, den Schirm in der Hand. Sie wackelte etwas schwerfällig über das Pflaster und stieß, ehe sie in dem gegenüberliegenden Fleischerladen verschwand, mit einem jungen Burschen zusammen. Hilde beobachtete, wie sie sich umdrehte und ihm, ärgerlich kopfnickend, etwas nachrief; der aber kümmerte sich nicht darum, er kam geradeswegs herüber zu dem kleinen Hause. Hildes Herz stockte plötzlich; er trug ein wundervolles Rosenkörbchen in der Hand, und sie wußte mit untrüglicher Deutlichkeit: diese Rosen sind für dich! Sie erhob sich und trat auf den Flur hinaus; drunten klang richtig die Schelle, der Bursche kam die Treppe herauf und fragte nach Fräulein Hildegard von Zweidorf.

„Ich bin es!“ war ihre Antwort. „Von wem?“

„Ist mir nicht bekannt,“ erwiderte der Bote und gab den Korb in die heiße Mädchenhand. Er blieb noch ein Weilchen stehen, des Trinkgeldes harrend und die Thür ansehend, hinter der Hilde verschwunden war, dann stieg er pfeifend die Treppe hinunter. Das Mädchen in der Stube drinnen aber barg das Gesicht in den Blumen und sog den Duft ein, der sie vollends berauschte.

Tante Polly fand sie, wie sie mit rothem Antlitz und zitternd im Zimmer auf und abging, die Rosen in der Hand. „Was ist denn das?“ fragte die alte Dame, die eben ihr Kalbfleisch im Kochofen ansetzen wollte. „Wie kommst Du zu den Blumen?“ Es klang ein sehr mißtrauischer Ton durch diese Worte.

„Ich weiß es nicht, Tante, sie wurden eben hier für mich abgegeben.“

„Das ist ja merkwürdig! Das Ding da kostet um jetzige Zeit wenigstens seine zwanzig Mark. Hör einmal, liebes Kind,“ –

und die dicke kleine Tante stand vor der schlanken Nichte mit

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 54. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_054.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)