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verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

von allen Größen beschlagener Baumstamm, ein Ueberbleibsel jenes Theiles des Wienerwaldes, der sich vor vielen Jahrhunderten bis hart an die Mauern der Stadt erstreckt hatte. Jeder Schlossergehilfe schlug, bevor er auf die Wanderschaft ging, in diesen Stamm einen Nagel ein. Diese hüllten mit der Zeit den ganzen Stamm in jenen Eisenpanzer, wie er noch heute besteht.

Das Dasein dieses Baumstammes beweist auch, daß dieser Stadttheil sich einstmals außerhalb der Stadtmauern befunden hat, und in der That standen der Stefansdom und alle westlich vom Bauernmarkt und südlich vom Graben liegenden Stadttheile zur Zeit des Babenbergerherzogs Heinrich Jasomirgott († 1187) außerhalb der Stadtmauern. Der Graben, die vornehmste und volkreichste Verkehrsader der inneren Stadt, war damals ein wirklicher Festungsgraben und auf dem „Stock im Eisen“-Platz stand früher ein großes Befestigungswerk, dessen Mauerreste bei dem im Jahre 1866 vorgenommenen Umbau der Häusergruppen vor dem Trattnerhof aufgedeckt wurden.

Die Fischerstiege.   Die Kirche „Maria am Gestade“.

Seit Jahrhunderten bildete der Graben ein getreues Spiegelbild des Lebens und Treibens der Stadt. Alle Wandlungen in Sitten und Gewohnheiten der Bewohner Wiens brachte dieser Stadttheil zuerst und am anschaulichsten in dem Gewoge seiner Spaziergänger, in dem Stile seiner Häuserfronten, in dem Gepräge seiner Schauläden zum Ausdruck.

„Sehn S’, das ist unser Graben,“ sagte Herr Hainfelder. „Da war halt von jeher der größte Verkehr und das bunteste Treiben. Wenn Sie sich da vor den Trattnerhof hinstellen, übersehen Sie das ganze Bild. Rechts hinter Ihnen der Stefansthurm; das prächtige Haus mit den bemalten Feldern gehört eigentlich noch zum ‚Stock im Eisen‘-Platz. Es ist in zierlicher deutscher Renaissance ausgeführt und steht an der Stelle des uralten Hauses zum ‚güldenen Becher‘. Dann an der Stelle des ehemaligen Schlossergäßchens der Prachtbau des Fabrikanten Haas, daran anschließend der berühmte Trattnerhof; endlich das Sparkassagebäude; gegenüber der stolze Neubau ‚Grabenhof‘ mit seiner Säulenfassade, weitere Neubauten an der Ecke der erweiterten Spiegelgasse; zwischen den modernen Palästen mit den prunkvollen Schauläden steht noch manches ehrwürdige Gebäude aus alter Zeit. Die Dreifaltigkeitssäule da vorne wurde von Leopold I. 1687 zum Andenken an die Abwendung der Pest errichtet. Jetzt bitte ich aber in das Gewurl zu sehen,“ mahnte Herr Hainfelder jetzt seinen Begleiter.

„Das Gewurl? Was ist denn das?“ fragte der Fremde.

„Gewurl heißt bei uns ein Gewoge, ein buntes Treiben und Jagen,“ erklärte Herr Hainfelder. „Auf dem Graben finden Sie nämlich einen Auszug der Bevölkerung Wiens, wenn ich so sagen darf: eine Taschenausgabe. Die wichtigste Figur ist der Grabenfiaker. Die Grabenfiaker sind sozusagen das Garderegiment unter den Wiener Fiakern. Sehen Sie sich nur so ein ‚Zeugl‘ an, wie fesch und elegant der leichte Wagen, wie nett und proper die flinken Rössel g’halten sind. Und der Kutscher, gewohnt, mit Kavalieren zu verkehren, ist selbst ein Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle. Den ‚Stößer‘ keck aufs linke Ohr gesetzt, ein feines Jackett mit flottem Schnitt, unter welchem die lichte Weste und die schwere Uhrkette mit dem Maria Theresiathaler sichtbar ist, eine Hose nach dem ‚höchsten Schan‘ (Genre): so steht er da, der Grabenfiaker,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1891). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1891, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_124.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)