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verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Und dann ist es, als drehe sich alles mit ihr im Kreise, als dringe ein blendender Schein schmerzvoll in ihre Augen. Sie will die Glieder bewegen, doch die sind schwer wie Blei, aber sie fühlt, daß ein starker Arm sie emporrichtet, und hört eine Stimme, die spricht: „Holen Sie Wein, Hanne, sie ist ohnmächtig. Gott gebe, daß sie sich rasch erholt; in einer halben Stunde kann alles vorüber sein, mit der Frau Bergrath geht es zum Sterben.“

Mit einem Male war Antje völlig bei Besinnung. Sie stand aufrecht, ihre Augen blickten ungläubig und verängstigt in das Gesicht des Doktors Maiberg. „Sterben? Meine Mutter – jetzt – jetzt sterben?“ Und sie ging mit schwankenden Schritten in das Sterbezimmer und sank an dem Bette nieder. „Mutter!“ klang es leise und zärtlich, „Mütterchen, ich bin da – Antje ist da – kennst Du mich?“

Die erkaltende Hand erwidert den Druck der ihren nicht mehr, aber die Augen wenden sich langsam ihr zu und ein fast überirdisches Leuchten bricht aus ihnen. Antje setzt sich auf den Rand des Bettes und schlingt die Arme um den Hals der Sterbenden; ihr Kopf neigt sich gegen den grauen Scheitel, ihre Lippen ruhen auf der feuchten Stirn.

„Schlafe, mein Mütterchen,“ sagt sie weich, „ich bleibe bei Dir.“

„Antje,“ flüstert eine versagende Stimme, „mein letzter Wille – Kortmer – mein Wille –“

„Ja, Mutter, alles, wie Du willst!“

„Hab Dank, Kind – mein’ es gut. Immer gerade aus – Antje – bin müde. – Dein Vater ruft mich – ja – ja – ich komme. – – Nicht weinen – Antje – nicht weich sein – mach’ Deine Schultern stark, gutes Kind!“

„Ja, ich will stark sein,“ sagt Antje, und sie hält die Mutter in den Armen, bis sie schläft; es währt nicht lange – ohne Schmerz entschlummert sie. Endlich läßt Antje sanft das geliebte Haupt in die Kissen gleiten und küßt die Augen, die sich nicht mehr öffnen sollen.

Da will sie der vorige Zustand wieder überkommen; aber mit aller Macht kämpft sie dagegen. „Ich will stark sein!“ sagt sie noch einmal und tritt in das Nebenzimmer. Da stehen der alte Kortmer und Maiberg, da stehen die Dienstleute des Hauses, die Männer im ernsten Schweigen und die Mädchen leise weinend.

„Meine Mutter schläft,“ sagt sie: „Gehet zu Bette, Ihr Leute; morgen in aller Frühe soll eins zum Herrn Pastor gehen, ich muß ihn sprechen.“

„Ich will mit Ihnen bei der Frau Bergrath wachen, Frau Jussnitz,“ bittet die alte Wirthschafterin. Aber Antje schüttelt den Kopf. „Du hast Deine Kräfte nöthig, Hanne, geh Du nur auch zur Ruhe; bei meiner Mutter brauche ich niemand.“

Dann kehrt sie in das Sterbezimmer zurück. –

Der Sturm draußen hat ausgetobt; es ist still geworden in der Natur, nur das Werk arbeitet fort und die Flammen des Hochofens werfen ihren Schein auf den Wald und die Berge, und auch hinein in das Gemach der Verstorbenen. Antje hat die Läden zurückgeschlagen; Lichter hat sie nicht angezündet, sie weiß, daß jener Schein von drüben die richtige Todtenleuchte ist für die, die hier liegt, der Schein, der in ihr gesegnetes arbeitsvolles Leben gestrahlt, der zu ihren Liebeswerken geleuchtet, der den Weg der Pflicht erhellt hat, welchen die Todte in seltener Treue gegangen ist.

Und Antje setzt sich an das Bett und hält stille Wacht bei dem treusten selbstlosesten Herzen, das der Mensch besitzt, das, wenn es aufgehört hat zu schlagen, nie ersetzt werden kann – bei der Mutter.




„Mein Mann wird eben nicht kommen können, lieber Kortmer,“ sagte Antje zu dem kleinen Herrn, der ihr seine Verwunderung aussprach, daß der Wagen, den er zur Bahnstation geschickt hatte, zwar mit den zwei alten unverheiratheten Schwestern des verstorbenen Bergraths Frey, aber ohne den Schwiegersohn der Verstorbenen zurückgekehrt war.

„Verehrteste Frau Jussnitz, verzeihen Sie,“ begann der überhöfliche Mann, „von kommen können ist hier keine Rede, sondern von kommen müssen, denn nach dem Willen unserer theuren Heimgegangenen soll das Testament unmittelbar nach dem Begräbniß eröffnet und verlesen werden; ausdrücklich steht da: ‚im Beisein meiner Tochter Anna Jussnitz und deren Ehemann Leo Jussnitz, sowie derjenigen Verwandten, die mir die Ehre des Trauergeleites zu geben gekommen sind‘. Also –“

Antje stand in dem kleinen Privatarbeitszimmer ihres Vaters. Es lag nach dem Hüttenplatz hinaus und war einfach möblirt. An der Längswand ein großes abgenutztes Ledersofa, über dem ein Regulator seinen Pendel schwang; ein massiver Arbeitstisch von Mahagoni am Fenster, auf dem Bücher, Papiere, Erzstückchen, Baupläne u. s. w. in peinlichster Ordnung lagen und standen.

Die Mitte der Platte nahm ein gewaltiges Tintenfaß aus Gußeisen ein; Antje kannte es, sie hatte den Augenblick genau beschreiben können, als der Vater es einweihte. Es stellte eine Lokomotive vor, in deren Kessel sich die schwarze Flüssigkeit befand. Die Frau Bergrath hatte es als Anspielung auf den Fabrikationszweig ihres Mannes – Eisenbahnschienen – anfertigen lassen und war sehr stolz auf diese Erfindung. –

Hinter diesem eigenartigen Schreibzeug stand die Photographie des Herrn Frey.

Antjes traurige Augen irrten über diese altvertrauten Gegenstände und um ihren Mund zuckte es. Sie dachte daran, wie sie sich einmal an einem bangen Tage leise in dies Zimmer geschlichen, ihre Arme um den Hals des Vaters geschlungen, ihr thränenbenetztes Gesicht an seine Wange geschmiegt und gebeten hatte: „Vater, Vater, gieb ihn mir, laß mich nicht unglücklich werden!“

Und er hatte geantwortet: „Anna, Dein starkes Wollen, Dein klares Urtheil haben sich verirrt; ich kann mir den Mann nicht als Deinen Lebensgefährten vorstellen; – Du wirst unglücklich werden, Kind.“

Aber sie hatte weiter gebeten. Wann hätte auch eine starke Leidenschaft je auf Vernunftgründe gehört! Sie war nicht anders als andere. Wer noch überlegt – liebt der wirklich?

Sie hatte weiter gebeten, sie hatte auf den Knieen gelegen vor dem treuen Warner und gerufen: „Sage ‚ja!‘ Vater, ich will tausendmal lieber unglücklich werden an seiner Seite als ohne ihn leben!“

Da hatte er nachgegeben. „Aber klage mir niemals, wenn Du enttäuscht wirst, klage nur mir nicht!“

Und Antje hatte Wort gehalten. Sie war still gewesen, als sie es inne wurde: „Du hast Dich getäuscht – er findet sich in Dir getäuscht.“

Sie wollte nichts weiter als ihre Pflicht thun, sie wollte Leo durch ihr Beispiel zwingen, auch die seinige zu thun, wollte sich begnügen mit dem Bewußtsein, neben ihm gehen zu dürfen, wenn auch unbeachtet, um des Kindes willen, in der Hoffnung, daß es noch einmal wieder besser werde – da – da sagte er ihr, sie sei die Kette, die ihn fessele, die ihn nicht emporsteigen lasse in die sonnige Höhe der Kunst, und da war es aus mit ihrem Wollen, mit ihrer Kraft, mit allem.

„Er muß kommen!“ sagte Kortmer noch einmal, „Sie müssen ein dringendes Telegramm an ihn senden, Frau Jussnitz.“

„Nein!“ sagte sie, den Kopf erhebend, „er kann nicht kommen.“

„Aber, lieber Gott, beste liebste Frau Antje, ist er denn krank?“

„Ich glaube nicht.“

„Oder ist er so erbittert auf die Verstorbene, daß er nicht an ihren Sarg treten will? Oder – sollten Sie einen Zwiespalt schwerwiegender Art mit ihm –“

Die junge Frau zuckte zusammen, die Hände sanken ihr schlaff herunter und mit entsetzten Augen forschte sie in dem Gesicht des Mannes. Ahnte er, wußte er gar schon das Schreckliche?

Er stand vor ihr mit bekümmerter Miene. „Seien Sie nicht böse, liebe Frau Antje,“ bat er, „es ist ja ein undenkbarer Fall, natürlich. Aber, was ihn auch fern halten könnte, es muß aus dem Wege geschafft werden, denn das Testament verlangt seine Gegenwart.“

Sie that ihm so leid; er wußte freilich, daß nicht alles stimmte, wußte es durch die Mutter, die ihm ihr sorgenvolles Herz geöffnet hatte; aber das von dem Zwiespalt zwischen dem Ehepaar war ihm doch wider Willen entschlüpft.

Nun hatte er ihr weh gethan, indem er wahrscheinlich nicht allzuweit vom Ziele traf.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1891). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1891, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_242.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)