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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

der Familie schien allmählich eine Pflicht geworden, deren einmalige Nichterfüllung alle Welt in Staunen setzte.

Der Geburtstag des Herrn von Römpker – seine Frau hatte die unbegreifliche Taktlosigkeit, zu erzählen, daß es sein fünfzigster sei – fiel in die ersten Tage des Juni. Das weite Gelände rings schimmerte im frischesten Grün, die Wiesen blühten, das Buchenlaub am See leuchtete wie grünliches Gold in der Sonne. Römpkerhof breitete sein Land in der norddeutschen Ebene aus und einer jener lachenden kleinen Seen, welche da oben die Wälder und Felder so anmuthig unterbrechen, gehörte mit zu dem Besitz. Das weiße, vor zwanzig Jahren neu gebaute Schloß war wie ein Würfel, an dessen vier Ecken man je ein Rohr gesetzt hatte. Der „Würfel“ hatte rundum zwei Reihen blanker, hoher Fenster und die „Rohre“ endeten in spitze Thurmdächer von bläulichem Schiefer. Das Ganze hob sich, durch seine angemessenen Größenverhältnisse zu einem Gebäude von wohlgefälligem Ansehen geworden, frei aus den Rasenmatten und Kieswegen des Parkes. Vorn an der Landstraße hatte das Parkgitter zwei mächtige doppelflüglige Thore; von einem zum andern zog sich drinnen in weitem Halbbogen ein Fahr- und Reitweg, der am Schloßportal seinen Höhepunkt und in einem wohlgepflegten Rasen seine Füllung fand. Hinten am Schloß sah man, von einer Veranda aus, den Park sich bis zum See in sanfter Linie senken.

Das sonst von Park und Wald umdrängte Wasser ließ gerade drüben seine gekräuselten Wellen an Wiesen und Getreidefelder spülen, über die hinweg man eine Windmühle und den Kirchthurm der Stadt sah. Dort hinaus malte sich abends der Himmel roth von der untergehenden Sonne und dann standen die Windmühlenflügel und der spitze Thurm schwarz vor goldenem Grund.

Es war ein schöner, vornehmer und reicher Besitz, dies Römpkerhof, und sein Herr hatte die prosaische Kehrseite der Medaille ganz aus dem Gesichtskreis verbannt. Bei dem großen Umbau vor zwanzig Jahren, welchen Römpker mit dem Gelde seines verstorbenen Schwiegervaters unternommen hatte, waren alle Wirthschaftsgebäude hinter die Parkgrenze gerückt worden und schienen ein Gewese für sich zu bilden.

Die ganze Gegend wußte es, daß Herr von Römpker, der Erbe eines schuldenfreien Familiengutes, mit seiner Frau ein großes Vermögen erheirathet hatte welches ihm gestattete, die Mißerfolge seiner Landwirtschaft mit erhabenem Gleichmuth und die Erfolge als angenehme Sportsiege zu betrachten. Denn er war mit einer gewissen Leidenschaft Landwirth und hatte Freude an Versuchen mit neuen Maschinen, Fütterungen, Fruchtfolgen und Kulturen. Er experimentirte sozusagen für die ganze Gegend Probe.

Ferner wußte man, daß der Vater der Frau von Römpker wohl seine Tochter und deren Gatten als Erben eingesetzt, daß aber die Mutter der Frau ihr unabhängiges, kleineres Vermögen den beiden Enkelinnen vermacht hatte. So waren diese je im Besitz einer stattlichen Mitgift und konnten frei nach ihrem Herzen wählen.

Daß sie immer noch nicht gewählt hatten, setzte viele in Erstaunen.

Es hieß zwar, daß Lea einige Bewerber abgewiesen habe, daß aber jemand sich um Rahel beworben, konnten selbst die feinsten Neuigkeitsspürer nicht behaupten.

Herr von Römpker hatte den „Witz“ gemacht, wie er das nannte, seine Mädchen nach den biblischen Schwestern zu taufen.

Den Namen „Lea“ hatte freilich seine Frau selber bei der Erstgeborenen vorgeschlagen, aus einer poetischen Vorliebe für alttestamentliche Vornamen. Lachend hatte der Gatte eingewilligt mit der Bedingung, daß ein etwa in der Zukunft eintreffendes zweites Töchterlein dann Rahel heißen solle. Diese zweite Tochter war schon anderthalb Jahr später geboren worden. –

Einige sehr nahe Freunde des Hauses hatten an dem heutigen Geburtsfest des Vaters die besondere Ueberraschung erwartet, daß Lea ihnen da ihren Verlobten vorstellen werde; diese nahen Freunde glaubten auch zu wissen, wer einzig und allein der Verlobte sein könne.

Aber nichts bestätigte die Erwartung. Fräulein Lea sah stolzer und ablehnender drein als je, ihre Schwester schien unruhig und das Elternpaar geradezu aus der Fassung.

Die schönen Räume des Herrenhauses waren von Menschen angefüllt. Man hatte die für Landbesucher übliche Stunde des Nachmittagskaffees gewählt, um Herrn von Römpker zu beglückwünschen, und war sicher gewesen, nicht fortgelassen zu werden. Der Diener zwar trug Kaffee und Kuchen umher – es war wie sonst, nur vom Abend war nicht die Rede. Aus Neugier und Erwartung zögerten die Besucher ungebührlich mit dem Aufbruch.

Die vor Ungeduld leidende ältere Tochter fühlte in sich den Entschluß keimen, durch eine Unhöflichkeit diese „lieben Freunde“ und zudringlichen Unbescheidenen hinauszuwerfen. Da kam ihr ein Zufall zur Hilfe und gab ihr Gelegenheit, ohne Unart deutlich zu werden.

„Wo ist er denn, wo ist er denn?“ rief eine laute Männerstimme an der Thür. „Mein Alter, wo steckst Du?“

Alle kannten dies donnernde Organ und die geräuschvolle Art des Eintritts. Der große, starkbeleibte Mann mit dem vergnügten Gesicht, welches sogar auch in der Barttracht auffallend den Viktor Emanuel-Bildern glich, war Herrn von Römpkers bester Freund, sein Jugendgespiele und Gutsnachbar und überdies der Landrath des Kreises.

Er umarmte den ihm entgegeneilenden Römpker.

„Fünfzig Jahre! Donnerwetter, so’n halbes Jahrhundert ist keine Kleinigkeit,“ sagte er, dem Geburtstagskind den Rücken klopfend. „Bin neugierig, wie Dir das Alter schmecken wird.“

Herr von Römpker entzog sich den allzu fühlbaren Liebkosungen. Er nahm eine mit Absicht gezierte Pose an, welche aber seine noch jugendliche Gestalt zur besten Geltung brachte, und sprach abwehrend:

„Sehe ich aus wie ein alter Mann, meine Damen? Raimar ist neidisch auf mein Talent zur Jugend.“

Herr von Römpker fiel trotz seiner ergrauenden Haare in der That durch die Frische und Lebendigkeit seines Antlitzes und seiner Bewegungen auf. Seine mittelgroße Gestalt trug einen feinen Kopf mit edlen und liebenswürdigen Zügen. Die Art, wie er frisirt und gekleidet war, der Schnitt seines schmalen Backenhartes verriethen den Lebemann und auch den ein wenig eitlen Menschen.

Der Landrath schüttelte allen Anwesenden kräftig die Hand und sah sich erstaunt um.

„Was ist denn das? Die Damen noch mit dem Hute auf dem Kopf? Wenn es nur Frau Rittmeister wäre, dächte ich, es geschähe nur, um uns Gelegenheit zu geben, dies Berliner Wunderwerk von einem Sommerhut anzustaunen. Aber da auch Frau Pastor …“

Die kleine hübsche Frau des Geistlichen rief lachend:

„Da auch ich meinen vorjährigen noch aufhabe, wollten Sie sagen – schon gut, lieber Herr Landrath. Vorjährige Hüte gehören doch ein wenig zu meinen Pflichten, wie der ‚Berliner‘ zu denjenigen der Frau Baronin.“

„Ja, sind wir denn nicht gebeten, abzulegen?“ fragte der Landrath ganz unbefangen.

Ebenso frei versetzte Lea laut: „Diesmal nicht, Onkel Landrath.“

„Aber warum denn nicht?“ fragte dieser unbeirrt weiter.

Frau von Römpker ängstigte sich schrecklich, Herr von Römpker wurde nur durch Leas strengen Blick abgehalten, mit der ganzen „Wahrheit herauszuplatzen“, wie er seine jeweiligen Vertrauensseligkeiten nannte. Da sagte Rahel mit einem hübschen Lächeln:

„Siehst Du, Onkel Landrath, Papa hat nie für uns Zeit. Und da haben wir uns denn diesen ernsten Lebensabschnitt – denke doch, ein halbes Jahrhundert! – ausgebeten. Wir wollen Papa ganz allein haben, wir wollen ihn tüchtig verziehen und ihm auch nebenbei ein wenig die Leviten lesen über seinen Lebenswandel. Wenn er sich auch noch so jung fühlt – um jung zu bleiben, sollte er wohl fortan ein wenig auf die Zahl seiner Jahre Rücksicht nehmen.“

Dabei strich sie ihm mit der Hand über seine Wangen, als wäre er nicht der Papa, sondern der verzogene jüngere Bruder. Und ihre Worte waren keineswegs bloß leere Aushilfslügen gewesen, wenn sie auch nur sehr entfernt die Wahrheit streiften.

„Ja, ja, mein Alter,“ sagte Raimar, „der Bordeaux! Und der gute Mittagstisch! Und Dein Portwein! Ich kenne das. Die dumme Leber kündigt eines Tages ihre glatte Funkion und dann heißt es: auf nach Karlsbad!“

„Ach was,“ rief Herr von Römpker mit einem etwas erzwungenen Lächeln, „der Medizinalrath hat die Meinen geängstigt. Ehe ich das neue Lebensprogramm von meinen Töchtern annehme und zu befolgen gelobe, muß ich es genau kennen.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 278. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_278.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)