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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891)

Rahel hörte schnell auf zu weinen und ihre Weichmüthigkeit wich der gewohnten klarblickenden Sammlung.

„Das ist ja alles Unsinn!“ rief sie als einzige Kritik.

„Siehst Du,“ fuhr Lea auf, „weshalb mußte ich mit Dir darüber sprechen! Ich ahnte es ja. Du verstehst weder die Liebe, noch die Handlung einer außergewöhnlichen Natur.“

„Ich verstehe nur dies,“ erwiderte die Schwester, schon die Klinke ihrer Schlafstubenthür in der Hand, „daß Du Dich im besten Fall selbst betrügst, wenn Du glaubst, van Clairon ‚Abschied‘ genommen zu haben. Einer ehrlichen Verlobung, einem treuen Ausharren ziehst Du ein – Liebesabenteuer vor, von welchem Du Dir einbildest, es sei romantisch.“

Rahel schlug die Thür etwas kräftig zu. Sie hatte übrigens mit ihrer Rede gar keine erkennbare Wirkung erzielt. Lea zuckte halb mitleidig die Achseln und fuhr fort, ihr schönes, langes Haar zu bürsten. Sie nahm sich vor, das „enge liebe Köpfchen“ der Schwester nicht wieder mit Dingen füllen zu wollen, die doch nicht hineingingen. –

In dieser Zeit begann Lea eine Vorliebe für einsame Spaziergänge und eine erhöhte Neigung für den Reit- und Fahrsport an den Tag zu legen. Anstatt des Reitknechtes nahm sie lieber Ludwig mit, der ihr angenehmer sei. Um die Vorgänge im Hause kümmerte sie sich gar nicht. Die Ergebnisse von Rahels Wirthschaftsführung waren ihr völlig gleichgültig. Anfangs erzählte Rahel noch mit der Freude, welche häusliche Erfolge jeder echten Frau geben, wie es ihr gelungen sei, alsbald die Fehler in der Wirtschaft zu entdecken, wie sie Ueberschüsse mache und diese, dem Papa zur Ueberraschung, heimlich zusammenspare. Aber als Rahel sah, daß die Schwester dies Streben und die Freude daran kleinlich und unter ihrer Würde fand, schwieg sie und fand sich mit der bescheidenen Erkenntniß ab: „Lea ist eben ein Schwan und ich bin ein Haushuhn.“

An einem sehr schönen Nachmittag gegen Ende des Monats fuhr Lea auf der Chaussee dahin, welche an Römpkerhof vorbei zum Städtchen ging. Man übersah von hier weit das Land. Zur Linken freilich dehnte sich der Wald, welcher zwischen dem Seeufer und der Landstraße lag. Zur Rechten aber sah man über Kornbreiten, deren bläulich schimmernde Aehren auf grünen Halmen wie eine Fluth im Winde wogten. Darüber hinaus erhoben sich fern und klein die Pappeln von Kohlhütte am Horizont. Geradeaus zog sich die weißstaubige Chaussee empor am wellenlinigen Gelände, am Wegesrain standen in gleichmäßiger Entfernung voneinander junggepflanzte Ebereschen, die kleine, lichtdurchbrochene Schattenflecke auf den hellen Wegesgrund warfen.

Lea wollte in die Stadt, um sich Bücher zu besorgen. Sie las neuerdiugs viel und schalt auf den jämmerlichen kleinen Laden, wo man nichts bekommen könne.

Sie fuhr in schlankem Trabe dahin, hinter ihr auf dem Wägelchen saß Ludwig mit gekreuzten Armen und einem vergnüglichen Lächeln unter seinem Cylinder. Sie, in engem, dunkelblauem Leinenkleid, langen, gelbbraunen Fahrhandschuhen und einem kleinen Herrenfilzhütchen, sah ebenso elegant als verwegen aus.

„Wer ist denn das?“ fragte Lea und deutete auf einen Reiter, der ihnen, noch fern, entgegenkam.

„Niemand vom Regiment,“ sagte Ludwig, die Erscheinung scharf ins Auge fassend. Er kannte jedes Offizierspferd schon in den unglaublichsten Entfernungen.

„Wir wollen ihn vorbei lassen,“ sagte Lea und fuhr an dem auf die Chaussee mündenden Waldweg vorbei, in den hinein einen Abstecher zu machen wohl der eigentliche Zweck ihrer Ausfahrt gewesen war.

Der Reiter näherte sich. Ihm folgte ein Reitknecht in einer Livree, welche Lea unbekannt war.

„Wahrscheinlich der neue Landrath,“ dachte sie und sah sich den Mann sehr unbefangen an mit der Neugier einer Dame, welche bei sich zu Hause ist und einen Eindringling prüfend beschaut.

Er saß gut, aber nicht auffallend schneidig zu Pferde. Seine Gestalt konnte man nicht recht beurtheilen, sein Antlitz war ernst und regelmäßig. Den dreisten Blick der Dame erwiderte er mit einem Ausdruck flüchtiger Verwunderung.

„Na,“ dachte Lea. „den hätte ich eher für einen englischen Aristokraten als für den Sohn eines deutschen Emporkömmlings gehalten.“

„Es wird der neue Landrath sein,“ sagte sie zu Ludwig, den sie mit ihrem gnädigen Wohlwollen beehrte. „Gucken Sie sich um, Ludwig!“

Ludwig saß eine Weile mit rückgewandtem Gesicht und meldete dann:

„Außer Sehweite.“

Darauf wendete Lea und fuhr in den Waldweg hinein. Erst eine Stunde später sah man ihren Wagen in dem Städtchen. Er rasselte gewaltig auf dem schlechten Pflaster, aus den Thüren fuhren die Hunde auf ihn los und bellten hinter seinen Rädern her. Hinter den Fenstern bogen sich Frauenköpfe vor, Vorübergehende standen still und grüßten.

Mit der Hoheit einer Fürstin überhörte und übersah Lea Lärm und Neugier und erwiderte die Grüße.

Vor einem Buchbinderladen hielt sie an. Ludwig, immer von feurigem Stolz erfüllt, seit er das Fräulein begleiten durfte, sprang vom Wagen, nahm die Zügel und half Lea heruntersteigen.

Als Lea, welche trotz ihrer Eigenschaft als „große Dame“ sich ruhig mit dem Umtausch vielzerlesener Leihbibliotheksbände befaßte, ihr Geschäft beendet hatte und sich anschickte, den Wagen wieder zu besteigen, sah sie den Herrn, welcher ihr vorhin zu Pferde begegnet war, zu Fuß daherkommen.

Der Ladeninhaber, welcher hinter ihr herdienerte, begann nun seine Verbeugungen vor dem Ankömmling zu machen und fragte:

„Was befehlen der Herr Landrath?“

„Also richtig dieser Lüdinghausen,“ dachte Lea und fuhr davon.

Der Landrath trat in den Laden ein, nicht ohne vorher dem schönen Mädchen nachgesehen zu haben.

„Wer ist die Dame?“ fragte er und war im voraus gewiß, einen großen Namen zu hören. In der Großstadt wäre er nicht sicher gewesen, ob das „Cirkus- oder Theater- oder vornehme Sportwelt“ sei. Hier sagte er sich, daß nur eine in der ganzen Gegend bekannte und geehrte Dame dies franke Auftreten und diesen auffallenden Schick haben konnte.

„Das ältere Fräulein von Römpker,“ sagte der Mann. –

Als Lea nach Hause kam und sich umgekleidet hatte, fand sie unten Raimar als Gast vor und diesen wie ihren Vater in vorzüglichster Laune.

„Er ist hier gewesen,“ rief Herr von Römpker.

„Wer?“

Rahel, die gerade am Tische stand, reichte ihr eine Karte.

„Erasmus Lüdinghausen.“

Kein Titel auf der sehr großen Karte.

„Das ist etwas gesucht,“ sagte Lea; „wie ist er denn?“

„Ein entzückender Mensch,“ lobte Herr von Römpker, für den es nur „unausstehliche“ oder „entzückende“ Menschen gab.

„Na, sagen wir mal: ein bißchen steif und zugeknöpft. Aber bedeutend, entschieden ein bedeutender Mensch,“ ergänzte Raimar.

„Und wie findest Du ihn, Rahel?“

„Ich habe ihn nicht gesehen,“ erwiderte diese, „er wollte Raimar in Geschäften aufsuchen, traf ihn unterwegs und Raimar schleppte ihn zu Papa.“

„Ja, Kinder, er weigerte sich, im Reitrock vor Euch zu erscheinen. Da fiel mir denn auch ein, daß Lea gar nicht zu Hause sei. So ließ ich ihn denn und habe ihn gebeten, morgen mittag bei uns zu essen, anstatt Euch erst förmlich aufzuwarten.“

Herr von Römpker bestimmte dann, daß man auf morgen außer Raimar noch Rittmeisters und Clairon einladen solle, sowie die Freundin seiner Frau, Fräulein Malchen, eine Schwester des verstorbenen Pastors. Diese speiste jeden Donnerstag auf Römpkerhof und wurde außerdem stets geladen, wenn sich keine Persönlichkeit unter den Gästen befand, welche zur Unterhaltung der Hausfrau geeignet war. –

Lea fühlte sich am folgenden Vormittag ein wenig aufgeregt. Dieser Landrath schien ihr keine nebensächliche Persönlichkeit. Das erste Zusammenkommen mit ihm und obendrein in Clairons Gegenwart verursachte ihr ein drückendes Vorgefühl. Sie dachte lange darüber nach, was für ein Gewand sie tragen wolle, und entschied sich endlich für ganz hellgrau. Sie schmückte ihr Kaschmirkleid dann mit einem großen Strauß gelber Rosen, der scheinbar nachlässig in den breiten faltigen Stoffgürtel gesteckt war.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1891).Leipzig: Ernst Keil, 1891, Seite 310. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1891)_310.jpg&oldid=- (Version vom 13.9.2022)